I. Die evolutionäre Basishypothese

1)     Von segmentärer zu funktionaler Differenzierung

Die Entwicklungshypothesen sind zahlreicher und auch besser ausgearbeitet als die Strukturhypothesen. Sie alle gehen von einem Grundmuster aus, nach dem die Gesellschaft sich von einer segmentären zu einer funktional differenzierten entwickelt hat. Diese Vorstellung ist maßgeblich um die Jahrhundertwende in England von Herbert Spencer und in Frankreich von Émile Durkheim entwickelt worden. Sie besagt ganz grob, dass die menschliche Gesellschaft ursprünglich aus einer Vielzahl kleiner homogener Einheiten (Segmente) bestand, aus Familien, Horden oder Clans, wie sie bis ins 20. Jahrhundert hinein in den einfachen Stammesgesellschaften beobachtet werden konnten. Diese konnten selbstgenügsam unabhängig voneinander existieren, indem sie jeweils alle zum Leben und zur Reproduktion der Gruppe notwendigen Funktionen in sich vereinigten. In der modernen Gesellschaft sind diese Funktionen dagegen auf eine Vielzahl von sozialen Gruppen und Rollen verteilt. Meistens spricht man in Anlehnung an den Titel von Durkheims bekanntem Buch von der sozialen Arbeitsteilung. Die Arbeitsteilung in der modernen Warenproduktion und bei der Bereitstellung von Dienstleistungen ist nur eine besonders augenfällige Teilerscheinung dieses viel grundsätzlicheren Phänomens der sozialen Differenzierung.

Das Ergebnis dieses Prozesses soll darin bestehen, dass sich die sozialen Beziehungen jedes Individuums vervielfacht haben, die einzelnen Beziehungen aber flüchtiger, häufiger wechselnd, formeller und spezialisierter geworden sind. Die faktische Verbreitung dieses neuen Typs funktional spezifischer sozialer Beziehungen ist allerdings kaum zu quantifizieren und wird deshalb gelegentlich überschätzt. Sie haben die informellen Sozialbeziehungen jedenfalls nicht völlig verdrängt.

Weit verbreitet ist auch die Vorstellung, dass sich die Entwicklung über drei Stufen vollzogen habe. Sie werden etwa als archaische oder primitive Gesellschaften, als frühe Hochkulturen und als moderne Gesellschaft der Neuzeit gekennzeichnet. Als eine Zwischenstufe auf dem langen Weg von der segmentären zur funktionalen Differenzierung wird dabei der Zustand der schichtenmäßigen Differenzierung (Stratifizierung) hervorgehoben. Auch insoweit besteht nur hinsichtlich der Einzelheiten Streit, insbesondere darüber, ob man das Phänomen der Stratifizierung in marxistischen Begriffen als Klassengesellschaft beschreiben soll, und welche Rolle ihm in der postindustriellen Gesellschaft noch immer zukommt. Es braucht dabei kaum betont zu werden, dass die Unterscheidung zwischen segmentärer, schichtenmäßiger und sozialer Differenzierung nur als typenmäßige Charakterisierung gemeint sein kann, dass es also schon in den einfachsten Gesellschaften Ansätze zur Arbeitsteilung, etwa zwischen Mann und Frau, zwischen Jungen und Alten, gegeben hat, während auch in der modernen Gesellschaft neben der funktionalen eine segmentäre Differenzierung, etwa in Nationen, und vor allem eine soziale Schichtung fortbesteht.

2)  Autonomie des Rechts

Schließlich wird die Vorstellung weitgehend geteilt, dass das Recht im Laufe seiner Entwicklung eine begrenzte Autonomie gewonnen habe. Damit soll gesagt werden, dass sich das Recht von den anderen Teilsystemen der Gesellschaft wie Politik, Wirtschaft, Religion oder Wissenschaft soweit verselbständigt hat, dass Veränderungen des Rechts nicht mehr nur als Folge außerrechtlicher Anforderungen erklärt werden können, sondern sich unabhängig von seiner Umwelt entwickeln, während umgekehrt Entwicklungen im Rechtssystem nicht ohne weiteres Einfluss auf die Umwelt des Rechts haben müssen. Ähnlich wie die Kunst in dem Sinne autonom geworden ist, dass sie sich nicht länger auf die Ausschmückung von Kirchen und Fürstenhäusern zu beschränken braucht, muss das Recht nicht unvermittelt auf Anforderungen etwa der Wirtschaft oder der Politik reagieren, sondern kann ein Eigenleben entfalten. Das kommt zum Ausdruck in den begrifflichen und dogmatischen Strukturen des Rechts, in Methoden der Tatsachenermittlung und der juristischen Argumentation sowie in den typisch rechtlichen Verfahren der Entscheidungsfindung und Konfliktregelung. Äußere Entwicklungen in Politik und Gesellschaft bleiben darum für das Recht nicht folgenlos. Aber das Recht reagiert darauf nach seinen eigenen Maßstäben. Diese Vorstellung wird gerne mit der Vorstellung eines autopoietischen (reflexiven oder selbstbezüglichen) Systems theoretisch überhöht, vgl. dazu .

3)   Streitfragen

Hauptstreitpunkte zwischen den verschiedenen Theorien ergeben sich vor allem aus der Frage, ob die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft gerichtet ist oder ob sie zyklisch verläuft, ferner ob sich die Entwicklung stets und überall in bestimmten, aufeinanderfolgenden Schritten vollzieht oder ob in unterschiedlichen gesellschaftlichen Zusammenhängen einzelne Phasen übersprungen werden können, ob z. B. Entwicklungsländer unmittelbar aus einem archaischen in einen modernen Zustand gelangen. Und schließlich geht es immer wieder um die Frage, ob diese Entwicklung eine Entwicklung des Fortschritts in Richtung auf bessere Weltbeherrschung und vollkommenere Selbstverwirklichung des Menschen ist. Die umgekehrte Frage, ob die Entwicklung als Rückschritt anzusehen sei, wie sie der Antike mit der Vorstellung eines goldenen Zeitalters vertraut war, scheint dagegen heute ferner zu liegen. Ausdrücklich werden solche Fragen in der wissenschaftlichen Diskussion indessen kaum gestellt und beantwortet, weil sie eine Bewertung verlangen, für die es an objektiven Maßstäben fehlt. Unterschwellig scheint jedoch mit vielen Theorien eine Bewertung einherzugehen. Erst recht unser Alltagsverständnis bewertet die Entwicklung regelmäßig optimistisch als Fortschritt oder pessimistisch als Rückschritt.