Literatur: Franz Xaver Bea/Elisabeth Göbel, Organisation, 1999; Giuseppe Bonazzi, Geschichte des organisatorischen Denkens, 2. Auf. 2014; James S. Coleman, Macht und Gesellschaftsstruktur, 1979; Roger D. Congleton, On the Evolution of Organizational Government, MPG-Working Paper 2010; Stefan Kühl (Hg.), Schlüsselwerke der Organisationsforschung, 2015; Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, 1964; ders., Organisation und Entscheidung, 2000; Robert Michels, Soziologie des Parteiwesens, 2. Aufl. 1925; Erhard Blankenburg/Klaus Lenk, Organisation und Recht – Einführung in das Thema, in: Organisation und Recht. Organisatorische Bedingungen des Gesetzesvollzugs, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 7 1980, 7-17; Friederike Schultz, Moral – Kommunikation – Organisation, Normative Konzepte und Theorien der Organisationskommunikation, 2011; Linda Smircich, Concepts of Culture and Organizational Analysis, Administrative Science Quarterly 28, 1983, 339-358; Gunther Teubner, Hyperzyklus in Recht und Organisation, in: Hans Haferkamp/Michael Schmid (Hg.), Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung, 1987, 89-128; Wieland Jäger/Arthur R. Coffin, Die Moral der Organisation, 2011.
Lehrbücher und Einführungen: Günter Büschges/Martin Abraham, Einführung in die Organisationssoziologie, 2. Aufl. 1997; Amitai Etzioni, Soziologie der Organisationen, 4. Aufl. 1973; Alfred Kieser/Mark Ebers (Hg.), Organisationstheorien, 7. Aufl., 2014; Bernhard Miebach, Organisationstheorie, 2007; Peter Preisendörfer, Organisationssoziologie, 2016; Markus Pohlmann/Hristina Markova, Soziologie der Organisation, Eine Einführung, 2011; Klaus Türk, Soziologie der Organisation, 1978; Thomas Wallisch, Skript Organisationstheorien, o. J.. Immer noch brauchbar Dorothea Jansen, Vorlesungsdisposition Einführung in die Organisationssoziologie, 2012.
I. Organisation und System
Die Organisation ist als soziale Erfindung ähnlich relevant wie das Rad als technische (Congleton). Die Organisation bildet einen zentralen Untersuchungsgegenstand nicht nur der Soziologie, sondern auch der Betriebswirtschaft, der Politologie und der Verwaltungslehre. Viele sehen wie Coleman in der beherrschenden Stellung von Organisationen das Charakteristikum der modernen Gesellschaft.
Es gibt keinen einheitlichen theoretischen Ansatz der Organisationswissenschaft. Die vielen Einzelaspekte lassen sich jedoch am besten zusammenfassen, indem man die Organisation als System begreift (wie Luhmann und Teubner). Organisationen bilden, jedenfalls aus der Sicht der Systemtheorie, keine Kombination von Menschen und Sachen, sondern Handlungszusammenhänge mit Erwartungs- und Rollenstrukturen, die durch einen spezifischen Zweck sowie Regeln zu seiner Verwirklichung auf Dauer gestellt sind. Deshalb wird das Thema hier im Anschluß an die systemtheoretischen Ansätze behandelt. Aber Organisationen sind doch sehr spezielle Systeme, denn sie gehen auf einen mehr oder weniger gut identifizierbaren Gründungsakt zurück. Die »Organisatoren« verbinden mit ihnen einen spezifischen Zweck. Und die Organisation verfügt über eine relativ formelle Verfassung. Deshalb sind Organisationen für die Rechtssoziologie von besonderem Interesse. Die Systemtheorie kommt wieder ins Spiel, weil sich herausstellt, dass in Organisationen nicht alles nach Plan verläuft, sondern dass sie eine Art Eigenleben entwickeln.
II. Die Organisation als Gegenstand der Sozialwissenschaften
1. Abgrenzung und Wesen der Organisation
Organisationen sind soziale Teilsysteme, die auf die Erreichung spezifischer Ziele gerichtet sind und über eine verhältnismäßig stark formalisierte Binnenstruktur verfügen. Als Beispiel werden so unterschiedliche Gebilde genannt wie Betriebe und Behörden, Universitäten, Kirchen, Krankenhäuser, Verbrechersyndikate, Gefängnisse, Parteien, Verbände oder Vereine. Auch der Staat kann als Organisation betrachtet werden.
Eine Mindestgröße für die Organisation läßt sich nicht festlegen. Ein Amtsgericht etwa oder eine Agentur für Arbeit haben oft nur eine kleine Belegschaft, ohne deshalb ihren Organisationscharakter zu verlieren. Entscheidend ist insoweit die Orientierung an einer überindividuellen Ordnung, die das Bestehen der Einheit von bestimmten Personen unabhängig macht. Dennoch muß man zunächst an größere Organisationen denken, um den strukturellen Unterschied zwischen Individuum und Organisation zu begreifen. Bei kleineren Organisationen ist es noch plausibel, sie als bloße Vereinigung bestimmter Personen zu betrachten. Erst jenseits einer nicht exakt angebbaren Größe entwickelt eine Organisation ihre qualitative Besonderheit, die sie von jedem Individuum unterscheidet und die sich auch nicht auf die Summe der Eigenschaften ihrer Mitglieder reduzieren läßt. Es muß eine Binnenstruktur vorhanden sein, die in irgendeiner Weise die von den Mitgliedern eingebrachten Ressourcen einer einheitlichen, gemeinsamen Dispositon unterstellt. Dadurch werden Organisationen zu selbständig handlungsfähigen Einheiten, zu korporativen Akteuren (Coleman). Die relative Unabhängigkeit von bestimmten Mitgliedern in Verbindung mit einer eigenen Handlungsfähigkeit führt zu Autonomie und Dauerhaftigkeit. Definition und Beispiele erinnern nicht zufällig an Wesensbeschreibungen der juristischen Person, denn Organisationen in diesem Sinne besitzen nicht notwendig, aber doch sehr häufig eigene Rechtspersönlichkeit.
2. Die Bedeutung des Organisationszwecks
Die Ausrichtung der Organisation auf einen spezifischen Zweck hat mehrfache Bedeutung. Dieser Zweck stiftet zunächst den Sinn, der das Handlungssystem Organisation zusammenhält. Er verhilft der Organisation damit zu ihrer Identität. Zugleich dient der Zweck der Legitimation der Organisation gegenüber ihrer Umwelt ebenso wie gegenüber Mitgliedern, Funktionären oder Klienten. Schließlich bestimmt der Zweck die innere Ordnung der Organisation. Die Binnenstruktur der Organisation ist das Mittel zum Zweck. Sie besteht aus einer arbeitsteiligen Gliederung, die sich meistens mit einer hierarchischen Autoritätsstruktur verbindet, und ist mehr oder weniger ausführlich in Gesetzen, Satzungen, Statuten usw. festgeschrieben. Allerdings wird die Zweck-Mittel-Rationalität, die explizit das Aufbauschema der Organisation bildet, in der Praxis nicht durchgehalten. In der Realität wird der Organisationszweck stets nur unvollkommen angestrebt. Organisationen begnügen sich damit, befriedigend zu funktionieren, anstatt ihre expliziten Ziele optimal durchzusetzen. Das folgt teilweise schon daraus, dass mehrere Zwecke bestehen, die sich Konkurrenz machen. Regelmäßig sind die Zwecke auch interpretationsfähig. So entstehen Handlungsspielräume, die von Sonderinteressen innerhalb der Organisation genutzt werden. Jedes Organ einer Vereinigung, das selbst seine Entstehung zunächst der Notwendigkeit der Arbeitsteilung verdankt, entwickelt alsbald eigenständige Interessen. Früher oder später wird die Organisation zum Zweck an sich selbst mit eigenen Zielen und Interessen, die sich von den Zielen derer entfernen, die sie repräsentieren soll. Die formellen Regeln steuern das Verhalten der Mitglieder nur sehr beschränkt. Daneben existieren stets mehr oder weniger ausgeprägte informelle Verhaltensweisen, die dem offiziellen Organisationszweck dienen können, oft aber auch durch ganz andere Ziele motiviert sind.
Die Unabhängigkeit von konkreten Menschen verleiht der Organisation eine ganz andere Zeitperspektive als Individuen. Vor allen anderen verfolgen Organisationen das Ziel, in der Zeit zu überdauern. Erhebliche Aktivitäten dienen daher nicht der Zielverwirklichung, sondern der Bestandserhaltung. Dazu verhilft auch die Flexibilität ihrer Zwecke. Die Ziele können sich, entsprechend den Veränderungen der Umwelt, mindestens langfristig wandeln. Aus der alten Knochenbruchgilde ist die moderne Krankenversicherung geworden, aus dem Dampfkesselüberwachungsverein der TÜV. So entsteht aus dem Zusammenschluß von Individuen ein dauerhaftes, sich selbst erhaltendes Gebilde, das die Organisation ausmacht. Die Individuen erhalten eine neuartige Stellung als Klienten, Förderer oder Nutznießer der Organisation, kurz als Mitglieder. Sie sind nicht mehr die Organisation selbst.
Die Einbindung der Mitglieder in die Organisation kann sehr unterschiedlich sein. Die Mitglieder kommen freiwillig, wie in einer Partei, oder gezwungen, wie im Gefängnis. Sie bezahlen für ihre Mitgliedschaft, wie im Tennisclub, oder sie werden entlohnt, wie der Angestellte. Besonders wichtig ist der Unterschied zwischen solchen Mitgliedern, die nur beiläufig einer Organisation angehören, wie das Vereinsmitglied, das Parteimitglied oder ein Aktionär, und anderen, die sich, meist hauptberuflich, aktiv in der Organisation betätigen. Sie werden hier zum Unterschied von den einfachen Mitgliedern Funktionäre genannt.
Eine für die Eigendynamik der Organisation entscheidende Entwicklung liegt in der Trennung der Mitgliedermotivation von der Zweckausrichtung. Sie findet ebenso bei den innerhalb der Organisation aktiven Personen, den Funktionären, wie bei der Mitgliederbasis statt. Die Funktionäre werden von vornherein weniger durch den eigentlichen Organisationszweck als vielmehr sekundär durch Bezahlung und durch den sozialen Status motiviert, den ihnen ihre Betätigung verleiht. Aber auch bei den Mitgliedern verschiebt sich die Motivation.
Eine modellhafte Erklärung dafür bietet ein bekanntes Buch von Mancur Olson über die »Logik kollektiven Handelns«[1]: Zweck vieler Organisationen ist, was Olson ein öffentliches Gut nennt. Soweit der Zweck erreicht wird, bleibt sein Nutzen nicht auf die Mitglieder beschränkt. Daher ist es unter dem Gesichtspunkt des Eigennutzes nicht sinnvoll, der Organisation beizutreten. Die Kosten der Mitgliedschaft dürften den Beitrag, den das zusätzliche Mitglied zur Zielerreichung leisten kann, aufwiegen oder übersteigen. Das ist also die Situation des Trittbrettfahrers. Größere Organisationen können daher nicht erwarten, dass allein das Interesse am Organisationszweck Mitglieder anzieht. Sie müssen, soweit sie die Mitgliedschaft nicht erzwingen können, selektive Anreize setzen, d. h. Anreize, die von dem eigentlichen Organisationszweck verschieden sind. So dient z. B. den Gewerkschaften das Angebot der Rechtsberatung in Arbeitsstreitigkeiten als selektiver Anreiz für ihre Mitglieder. Entsprechendes gilt für die Beteiligung der Mitglieder an den internen Entscheidungsprozessen der Organisation. Auch hier überwiegen die Kosten solcher Partizipation regelmäßig ihren marginalen Beitrag zur Zielerreichung. Eine Konsequenz ist, dass Mitglieder einer großen Organisation in der Regel keine Veranlassung sehen, Protest anzumelden (voice), wenn die Organisation von ihrer Zweckbestimmung abweicht, andererseits aber doch gezwungermaßen, aus Loyalität oder durch selektive Anreize »bestochen« ihre Mitgliedschaft nicht aufgeben.
3. Das eherne Gesetz der Oligarchie
Die Autonomie der Organisation gegenüber ihren Mitgliedern zeigt die klassische Studie der Struktur politischer Parteien von Robert Michels, in der er das »eherne Gesetz der Oligarchie« formulierte. »…die Organisation ist die Mutter der Herrschaft der Gewählten über die Wähler, der Beauftragten über die Auftraggeber, der Delegierten über die Delegierenden«. Dieser Effekt ergibt sich aus dem Zusammenwirken von Sachzwängen, individualpsychologischen Eigenschaften der Funktionäre und massenpsychologischen Eigenschaften der Mitgliederbasis. Wenn die Partei wächst, erfordern die Aufgaben Arbeitsteilung und Spezialisierung. Da es technisch ausgeschlossen ist, dass eine größere Organisation unmittelbar durch die Mitgliederbasis geleitet wird, übernehmen spezialisierte Führungskräfte diese Aufgabe. In dem Ausmaß, in dem Parteien eine militante Taktik zur Verfolgung ihrer Politik benutzen, wird eine Professionalisierung ihrer Führung unvermeidlich. Diese Tendenz wird verstärkt durch die Inkompetenz der Massen einerseits und die politischen Fähigkeiten und die Rhetorik der Führer andererseits. Dankbarkeit der Basis gegenüber ihren Führern, ihr Bedürfnis nach Leitung ebenso wie nach Verehrung und Furcht vor der öffentlichen Meinung stabilisieren die Führungspositionen ebenso wie die kulturelle und intellektuelle Überlegenheit der Funktionäre. Die professionellen Parteiführer entwickeln eine Einstellung des Bürokratismus, die zusätzlich ihr Selbstbewußtsein und ihren natürlichen Machthunger steigert. Das notwendige Ergebnis ist die oligarchische Struktur der (Partei-)Organisation. Diese Beschreibung von Michels ist zwar inzwischen vielfach verfeinert worden. Die Parteienforschung hat sich insbesondere auf die sozialstrukturellen Barrieren politischer Partizipation verlagert. Aber im Prinzip ist sie nach wie vor gültig.
Ein Beispiel aus einem ganz anderen Kontext bietet die Auseinanderentwicklung von Eigentum und Management bei der modernen Publikumsaktiengesellschaft. Wie es heute noch vielfach bei der GmbH der Fall ist, kann man sich eine Aktiengesellschaft ursprünglich als eine Vereinigung von Personen zum gemeinsamen Betrieb eines Handelsgewerbes vorstellen, dessen Gesellschafter zugleich Eigentümer und Unternehmer sind. In der modernen AG mit einer Vielzahl von Aktionären fallen diese Rollen dagegen auseinander. Der einzelne Aktionär ist regelmäßig nur noch Kapitalanleger. Als Unternehmer fungieren angestellte Manager, die von den Aktionären nur noch sehr formal kontrolliert werden, im Übrigen aber das Unternehmen nach ihren Vorstellungen führen.
Michels widmete der Möglichkeit einer Demokratisierung der Verbände besondere Aufmerksamkeit. Er kam zu einem vernichtenden Urteil über die »Versuche zur präventiven Verhinderung der Macht der Führer« (S. 316 ff.). Vorkehrungen wie Versammlungsdemokratie, Referendum, imperatives Mandat, Amtsrotation, finanzielle Kontrollen oder Dezentralisierung hielt er für nutzlose Gegenmaßnahmen, die die Situation eher noch verschlechterten. Bis heute hat es keine Partei geschafft, eine Basisdemokratie zu realisieren, nicht einmal die Partei der Grünen, die sich, sicher aufrichtig, die Basisdemokratie zum Organisationsprinzip gesetzt hat. Für alle Großorganisationen gilt: Wer etwas bewirken will, muß aus dem Kreis der einfachen Mitglieder heraustreten und zum Funktionär werden. Auch eine modernere Behandlung dieses Themas durch Teubner[2] schätzt die Möglichkeiten einer rechtlich organisierten Basisdemokratie nicht sehr hoch und befürwortet stattdessen gerichtlichen Rechtsschutz gegenüber Verbandsgewalt, eine Regelung des innerhalb von Verbänden einzuhaltenden Verfahrens und vor allem eine rechtlich organisierte Hineinnahme von Konflikten in die Organisation in der Form von organisierter Opposition.
Nachtrag: Mit der Funktion bzw. Dysfunktion politischer Parteien für die demokratische Willensbildung befasst sich Emanuel V. Towfigh, Das Parteien-Paradox. Ein Beitrag zur Bestimmung des Verhältnisses von Demokratie und Parteien, 2015.
III. Organisationstypologien
Literatur: Maja Apelt/Veronika Tacke (Hg.), Handbuch Organisationstypen, 2012; Walter Müller-Jentsch, Der Verein – ein blinder Fleck der Organisationssoziologie, Berliner Journal für Soziologie 18, 2008, 476-502; Hubert Treiber, Artikel »Organisationen« in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, Fachgruppe Rechtssoziologie, 1986.
Die Vielzahl der Organisationen läßt sich unter verschiedenen Gesichtspunkten ordnen. Fragt man z. B., wie die Mitglieder einer Organisation zur Teilnahme motiviert und dabei kontrolliert werden, so kann man unterscheiden zwischen
- Zwangsorganisationen, die ihre Mitglieder durch die Androhung und Anwendung von Gewalt oder von sonstigen Sanktionen gewinnen und halten wie Gefängnis oder Militär,
- utilitaristischen Organisationen, die ihre Mitglieder durch materielle Vorteile motivieren, wie z. B. ein Betrieb seine Arbeitnehmer, sowie
- normativen oder ideologischen Organisationen, deren Mitglieder durch die Überzeugung von der Richtigkeit des Organisationszwecks motiviert sind. Als Beispiel dienen Kirchen oder Gesinnungsparteien.
Juristen haben es in seiner Berufswelt mit verschiedenen, besonders ausgeprägten Formen der Organisation zu tun. Im Privatrecht dominieren die wirtschaftlichen Organisationen in der Rechtsform der Handelsgesellschaften. Sie werfen eine Vielzahl sozialer und juristischer Probleme auf:
- Sie müssen im Hinblick auf ihr primäres Ziel, die Erwirtschaftung eines Ertrages, organisiert werden.
- Sie müssen als Mitglieder ihre Arbeitnehmer motivieren und kontrollieren.
- Sie stehen im Außenverkehr mit wechselnden Abnehmern und Lieferanten, Gläubigern und Schuldnern.
- Sie sind Adressaten staatlicher Steuerung, etwa im Kartell- oder im Umweltrecht.
Aus der Sicht des Strafrechts gewinnt die Sonderform der totalen Institution, wie sie von Goffman genannt worden ist, Bedeutung. Beispiel für totale Institutionen sind Klöster, Kasernen oder Gefängnisse. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine bestimmte Mitgliedergruppe völlig von der Außenwelt isolieren und diese Insassen darüber hinaus auch intern umfassend kontrollieren. Bei aller Verschiedenheit der Organisationsziele sind sich diese Einrichtungen in vieler Hinsicht ähnlich. Das zeigt sich schon rein äußerlich in der Bauform, die es gestattet, dieselben Gebäude nacheinander als Klöster, Irrenanstalten, Gefängnisse oder Kasernen zu benutzen. Anstaltskleidung oder Uniform, ein vollständig durchgeplanter Tagesablauf, die Vereinigung üblicherweise getrennter Lebensbereiche wie Arbeit, Essen, Schlafen oder Freizeit auf engstem Raum und eine Vielzahl kleinlicher Verhaltensvorschriften vom Typ (Sauberkeits- und Ordnungsregeln) verbinden sich zu einer perfekten Verhaltenskontrolle und reduzieren den Betroffenen zu einer »verwalteten Sache«.
Im öffentlichen Recht begegnet der Jurist allenthalben bürokratischen Organisationen (§·79). Der prominenteste von allen ist der Staat. Er bildet ein Geflecht von ungezählten mehr oder weniger selbständigen Organisationen.
Zwischen öffentlichem und Privatrecht stehen die politisch relevanten Vereine und Verbände. Schließlich ist der Jurist selbst nicht selten Mitglied einer professionellen Organisation, eines Gerichts etwa oder einer Universität.
Die professionelle Organisation steht in einem Gegensatz zur bürokratischen. Ihren Kern bildet eine Gruppe regelmäßig akademisch geschulter Fachleute, die sich einer professionellen Idee (Wissenschaft, Gesundheit, Gerechtigkeit) verpflichtet fühlen und dafür eine mehr oder weniger ausgeprägte Unabhängigkeit in Anspruch nehmen (§·34 II). Sie lassen sich deshalb nicht voll in die Hierarchie einer Organisation eingliedern und auch nur beschränkt steuern und kontrollieren. Sie arbeiten eher kollegial und kontrollieren sich an Hand professioneller Standards. Oft entstehen Probleme aus der Zusammenarbeit mit der bürokratischen Hilfsorganisation, auf die die Professionellen angewiesen sind, bei Gericht etwa Konflikte zwischen Richtern und dem Verwaltungs- und Kanzleiapparat.
Die Justiz ist als Thema organisationssoziologischer Untersuchungen noch immer unterbelichtet. Einen verdienstvollen Anfang machte Raymund Werle 1977 mit einer Arbeit über »Justizorganisation und Selbstverständnis der Richter«. Verschiedene Anläufe gab es immerhin im Rahmen der in Deutschland ab 1990 einsetzenden Diskussion um die Einfuhrung von Managementmethoden in der Justiz. Vgl. dazu Klaus F. Röhl, Gerichtsverwaltung und Court-Management in den USA, 1993; ders., Reform der Justiz durch Reform der Justizverwaltung, in: Wolfgang Hoffmann-Riem (Hg.): Offene Rechtswissenschaft, 2010, 1279–1319; Johannes Stock u. a., Strukturanalyse der Rechtspflege. Bilanz eines Forschungsprogramms des Bundesministeriums der Justiz, 1996.
IV. Neoinstitutionalistische Organisationstheorie
Literatur: Paul J. DiMaggio/Walter W. Powell, The Iron Cage Revisited: Institutional Isomorphism and Collective Rationality in Organizational Fields, American Sociological Review 48, 1983, 147-160; deutsch als: Das »stahlharte Gehäuse« neu betrachtet: Institutionelle Isomorphie und kollektive Rationalität in organisationalen Feldern, in: Sascha Koch/Michael Schemmann (Hg.), Neo-Institutionalismus in der Erziehungswissenschaft, 2009, 57-84; Gretchen Helmke/Steven Levitsky, Informal Institutions and Comparative Politics: A Research Agenda, Perspectives on Politics, 2, 2004, 725-740; John W. Meyer/Brian Rowan, Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony, American Journal of Sociology 83, 1977, 340-363. Dieser Aufsatz ebenso wie der bereits angeführte von DiMaggio und Powell sind wieder abgedruckt worden in dem von beiden herausgegebenen Sammelband »The New Institutionalism in Organizational Analysis« (1991). Eine ausführliche Rezension, die besonders das Verhältnis von Rechtssoziologie und Neoinstitutionalismus behandelt, bieten Mark C. Suchman/Lauren B. Edelman, Legal Rational Myths: The New Institutionalism and the Law and Society Tradition, Law and Social Inquiry 21, 1996, 903-941.); Douglass C. North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, 1990; Fritz J. Roethlisberger/William J. Dickson, Management and the Worker, 1939; Gunnar Folke Schuppert, Der Rechtsstaat unter den Bedingungen informaler Staatlichkeit, 2011; Peter Walgenbach/Renate E. Meyer, Neoinstitutionalistische Organisationstheorie, 2008; Lynne G. Zucker, The Role of Institutionalization in Cultural Persistence, American Sociological Review 42, 1977, 726-743.
Aus der rechtssziologischen Literatur: Eberhard Bohne, Informales Verwaltungshandeln im Gesetzesvollzug, in: Organisation und Recht = Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 7, 1980, 20-80; der., Der informale Rechtsstaat, Eine empirische und rechtliche Untersuchung zum Gesetzesvollzug unter besonderer Berücksichtigung des Immissionsschutzes, 1981; Helmuth Schulze-Fielitz, Der informale Verfassungsstaat, 1984; Gunnar Folke Schuppert, Der Rechtsstaat unter den Bedingungen informaler Staatlichkeit, Beobachtungen und Überlegungen zum Verhältnis formeller und informeller Institutionen, 2011.
1. Formale und informale Organisation
Organisationen sind formal, das heißt, sie beziehen aus Satzung, Gründungsakt und Verfahrensregeln formales Gerüst. Dennoch spricht man nicht selten von informeller Organisation. Diese Rede macht darauf aufmerksam, dass innerhalb und außerhalb formaler Organisationen regelmäßig informelle Beziehungen am Werk sind. Die organisationsinterne Informalität wurde durch die brühmten Untersuchungen von Roethlisberger und Dickson in den Hawthorne-Werken der Western Electric Company in Chicago zum Thema.[1] Anfangs war das das Interesse an der innerorganisatorischen Informalität psychologisch und betriebswirtschaftlich ausgerichtet und löste eine Welle der Human-Relatikons-Forschung aus. Heute sucht die Organisationsforschung eher nach einer corporate culture und orientiert sich am Vorbild ethnographischer Forschung (Smircich). Die informelle Umgebung von Organisationen ist das Thema der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie. Informale Beziehungen zwischen formalen Organisationen oder Organisationsteilen werden werden als Netzwerke thematisiert.
Zum Neoinstitutionalismus allgemein sei zunächst auf § 63 verwiesen, zu informalen Institutionen auf § 62 X. An dieser Stelle wird die neoinstitutionalistische Organisationstheorie etwas näher dargestellt. Als Klasssiker der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie gelten die Aufsätze von Meyer und Rowans »Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony« von 1977 sowie von DiMaggio und, Powell »The Iron Cage Revisited« von 1983.
Gut etabliert ist die Unterscheidung zwischen formellen und informellen Institutionen. Früher galt es als Entdeckung der Rechtssoziologie, dass die förmlich in Gesetzen festgelegten und bürokratisch von Behörden und Gerichten verwalteten Rechtsnormen nur funktionieren, wenn sie von einer durch die Sozialisation internalisierten gesellschaftlichen Moral getragen werden. Heute stellt man auch insoweit nicht mehr auf einzelne Normen, sondern auf größere Zusammenhänge = Institutionen ab. Zugleich wird dieser normative Ansatz durch einen »kognitiven« und einen behavioristischen ergänzt (Gute Übersicht bei Suchman/Edelman). Der »kognitive« Ansatz (der besser kulturalistisch heißen würde) sucht nach den tief verankerten kulturellen Selbstverständlichkeiten, die jeder bewusst normativen oder rational kalkulierten Entscheidung zugrunde liegen. Die behavioristische Version erklärt die Befolgung von Recht als rational choice, freilich mit all den Modifizierungen, die das Modell der Rationalwahl durch Herbert A. Simons Konzept der beschränkten Rationalität erfährt. Die wissenschaftliche Diskussion wird unter der Überschrift Neoinstitutionalismus geführt (§ 62 X). Anknüpfungspunkt ist oft eine Formulierung von Douglass C. North, politische Institutionen könnten »any form of constraint that human beings devise to shape human interaction« annehmen und sowohl durch »formal constraints – such as rules that human beings devise – and informal constraints – such as conventions and codes of behavior« wirken (North S. 4).
Institutionalisierung ist kein Entweder-Oder-Phänomen, sondern eine Frage des Mehr oder weniger (Zucker). Auch zwischen formalen und informalen Institutionen gibt es keine scharfen Grenzen, sondern eher fließende Übergänge. »The difference between informal and formal constraints is one of degree.« (North S. 46). Dennoch gelingt es im Allgemeinen recht gut, eine Institution auf der einen oder der anderen Seite einzuordnen. Formalität setzt eine explizite und schriftlich fixierte Ausformulierung der Regeln voraus. Damit ist auch ein Normgeber als Zurechnungssubjekt definiert. Ebenso ist typisch auch ein Anfangszeitpunkt gesetzt. Die Regeln mögen durch Vertragsschluss entstanden sein, ihre Fortgeltung setzt aber keinen fortbestehenden Konsens voraus. Sie ordnen nicht bloß Verhalten, sondern regelmäßig auch die Beziehungen zwischen verschiedenen Beteiligten, häufig in der Form von Hierarchie und Bürokratie. Informale Institutionen dagegen haben keinen bestimmten Anfang. Die Regeln entstehen aus Übung. Die Beziehungen zwischen den Beteiligten werden typisch als Netzwerk geschildert.
Organisationen sind die kleine Münze der Institution. Institution ist nicht die einzelne konkrete Organisation, sondern die Tatsache, dass es immer wieder formale Organisationen der einen oder der anderen Art gibt. Um die Metapher auf die Spitze zu treiben: Wenn Institutionen die Währung sind, sind Organisationen das Geld. Seit den Untersuchungen von Roethlisberger und Dickson gehört es zum Allgemeingut der Organisationswissenschaft, dass das Handeln in Organisationen nur zum Teil in den Bahnen vorgegebener Regeln abläuft. Neben formalen Handlungen gibt es einen weiten Bereich des Verhaltens, der in offiziellen Stellenbeschreibungen, Aufgabenzuweisungen und Verfahrensregeln nicht enthalten ist. Erst diese informale Organisation bildet zusammen mit den formalen Abläufen das Handlungssystem der Organisation. Informale Verhaltensmuster sind eine unvermeidbare Folge formaler Strukturen, so dass neue Formalisierungen stets auch neue Formen informalen Handelns mit sich bringen.[2]
Die Organisationswissenschaft konzentriert sich auf die organisationsinterne Informalität, wie sie in dreierlei Gestalt erscheint. Die erste, harmlose kommt aus der Human-Relations-Perspektive in den Blick und wird mit den persönlichen Bedürfnissen der Organisationsmitglieder und ihrem Wunsch nach Verbesserung zwischenmenschlicher Beziehungen am Arbeitsplatz erklärt. Die zweite wird als Selbstorganisation angesprochen. Vorgeschriebene Kommunikationswege werden auf dem kleinen Dienstweg umgangen. Hierarchische Entscheidungsstrukturen werden zugunsten informeller Selbstabstimmung vernachlässigt. Formal geordnete Abläufe werden durch andere ergänzt oder ersetzt, sei es, weil man glaubt, so schneller, besser oder bequemer ans Ziel zu gelangen. Solche Informalität ereignet sich in unterschiedlicher Distanz zur formalen Organisation. Für vieles lässt die formale Organisation Raum. Oft werden aber auch die Regeln der Organisation verletzt. Und es kommt sogar vor, dass im Interesse der Organisation gegen allgemeine Rechtsgesetze verstoßen wird. Luhmanns berühmtes Diktum von der brauchbaren Illegalität bezieht sich auf beide Stufen der Regelverletzung.[3] All das ist, so könnte man sagen, eufunktionale Informalität. Sie ist sowohl im Innenbereich als auch bei den Außenkontakten zu beobachten. Solche Informalität kann aber auch dysfunktional werden, etwa wenn zur Steigerung der Effektivität Sicherungsvorschriften umgeangen werden.
Drittens zeigt Informalität sich in Rollenkonflikten. Die Organisation weist ihren Mitgliedern formale Rollen zu, z. B. als Vorgesetzte oder Untergebene, als Abteilungsleiter, Sachbearbeiter oder Sekretärin, die mit entsprechenden Erwartungen an das Verhalten verbunden sind. Jedes Mitglied bringt aber auch andere – aus der Sicht der Organisation informale – Rollen mit, z. B. seine Alters- und Geschlechtsrolle, seine Zugehörigkeit zu Religion und Partei, seinen Familienstand, Vereinsmitgliedschaften u. a. m. Mit jeder dieser Rollen verbinden sich Bündel von Verhaltenserwartungen. So betrachtet lässt sich informales Verhalten von Organisationsmitgliedern als Folge bestimmter Rollenanforderungen erklären. In krassen Fällen geht das zu Lasten der Organisation, z. B. als Nepotismus. Umgekehrt können Organisationsmitglieder gelegentlich im Interesse der Organisation auf ihren externen Rollensatz zurückgreifen. Der rollentheoretische Ansatz ist heute in den Hintergrund geraten, weil er – angeblich – die Interpretationsleistung der Akteure beim Rollenspiel und vor allem bei der Auflösung von Rollenkonflikten vernachlässigt.
Die Einschätzung und Bewertung von informalen Institutionen divergiert nach theoretischem Erklärungsansatz und praktischem Standpunkt. Von einem praktischen Standpunkt aus sind informale Institutionen und entsprechend die informale Organisation eher problematisch, weil sie sich kaum planen, sondern allenfalls berücksichtigen lassen. Das gilt für Politik und Verwaltung ebenso wie für Betriebswirtschaft und Management und nicht zuletzt auch für die Entwicklungszusammenarbeit. Daher stellt man die formale Organisation in den Vordergrund und behandelt die informale eher als Störungsfaktor. Die soziologische Betrachtung ist dagegen an dem interessiert, was nicht offen zu Tage liegt. Damit verschiebt sich das Gewicht – und zwar nicht bloß der Beschreibung, sondern auch der Bewertung – in Richtung auf die Informalität. Das gilt wohl auch für die Ethnologie. In der Rechtswissenschaft akzeptiert man inzwischen, wie Schuppert zeigt, die Bedeutung informaler Institutionen und verhilft solchen, die man als funktional ansieht, zu rechtlicher Anerkennung, während man dysfunktionale Informalitäten formell zu bekämpfen versucht.
Die Unterscheidung zwischen formellen und informellen Institutionen ist, wie gesagt, geläufig. Aber der Begriff der informellen (oder informalen) Institution, so wie ihn etwa Schuppert gebraucht, deckt doch nur die Oberfläche des Phänomens, denn diese informalen Institutionen liegen zu Tage, sie sind, beinahe wie Gewohnheitsrecht, geläufig und lassen sich entsprechend ausformulieren. Es liegt aber noch eine Schicht der informalen Institutionalisierung unter dieser Oberfläche. Das ist das, was Ethnologen als kulturellen Code ansprechen, nämlich die wie selbstverständlich zugrunde gelegten und im Prinzip unbewussten Vorstellungen. Als solche wurde und wird etwa von den Critical Legal Studies die Unterscheidung zwischen öffentlich und privat behauptet oder von feministischer Seite die Bipolarität des Geschlechterverhältnisses. Einschlägig ist hier der dritte Klassiker des Neoinstitutionalismus, nämlich der Aufsatz von Lynne G. Zucker, The Role of Institutionalization in Cultural Persistence.
2. Meyer und Rowan: Rationalitätsglaube als Mythos der Organisation
Meyer und Rowan wenden sich gegen das bis dahin herrschende technologische Verständnis der Organisation als »Präzisionsinstrument, welches sehr verschiedenen, sowohl rein politischen wie rein ökonomischen wie irgendwelchen anderen Herrschaftsinteressen sich zur Verfügung stellen kann« (Max Weber). Sie betonen, dass Organisationen in einer Umgebung leben, in der formale und instrumentelle Rationalität im Sinne Webers kreuz und quer »institutionalisiert« ist (Meyer/Rowan S. 344).
»The more modernized the society, the more extended the rationalized institutional structure in given domains and the greater the number of domains containing rationalized institutions.« (Meyer/Rowan S. 345)
Die Institutionalisierung manifestiert sich in einer Vielzahl von Rechtsnormen, Sicherheitsvorschriften, Standardisierungen, Anforderungen an Management und Rechnungslegung sowie in einem generalisierten Rationalitätsglauben. Die Henne-Ei-Frage, die Frage also, was zuerst kommt, Rationalisierung der Organisation oder der Rationalitätsglaube ihrer Umgebung, wird implizit dahin beantwortet, dass es die Organisationen sind, die sich ihrer Umgebung anpassen.
»As rationalized institutional rules arise in given domains of work activity, formal organizations form and expand by incorporating these rules as structural elements.« (Meyer/Rowan S. 345)
Die Anpassung geht aber weiter als für die effektive Erbringung der erwarteten Sach- oder Dienstleistung notwendig wäre. Denn eine formal durchrationalisierte Struktur ist nur begrenzt funktional. Viele Regeln erweisen sich als unzweckmäßig. Andere verursachen hohe Kosten oder unbeabsichtigte Nebenfolgen. Unvorhergesehene und schnell wechselnde Situationen fordern Improvisationen. Organisationen aller Art zeigen sich daher nach außen formal und rational, arbeiten intern aber nicht, wie es das Gebot der (formalen) Rationalität eigentlich fordert, streng bürokratisch mit Weisung und Kontrolle, sondern koppeln sich von der Formalität ab.
»Thus, decoupling enables organizations to maintain standardized, legitimating, formal structures while their activities vary in response to practical considerations.« (Meyer/Rowan S. 357)
Isomorphie der Institutionen heißt deshalb nicht, dass die Organisationen überall gleich sind, sondern dass sie äußerlich einem übergeordneten Rationalitätsimperativ entsprechen. Dieses Formalitätsgebot sei der Mythos, der den Organisationen helfe, in ihrer Umgebung zu überleben, indem er ihnen Legitimität verschaffe und zu Ressourcen verhelfe. Die abwertend wirkende Bezeichnung des Rationalitätsglaubens als Mythos erklärt sich daraus, dass er nicht als reflektierte Einstellung, sondern als tief verankerte kulturelle Überzeugung verstanden wird. Er ist so selbstverständlich, dass er gar nicht mehr auf seine Wertbezüge und praktischen Folgen befragt wird.
»In modern societies, the myths generating formal organizational structure have two key properties. First, they are rationalized and impersonal prescriptions that identify various social purposes as technical ones and specify in a rulelike way the appropriate means to pursue these technical purposes rationally. Second, they are institutionalized and thus in some measure beyond the discretion of any individual participant or organization. They must, therefore, be taken for granted as legitimate, apart from evaluations of their impact on work outcomes.« (Meyer/Rowan S. 343 f.)
Ebenso wie im Umfeld von Organisationen das formale Recht von informalen Erwartungen begleitet oder sogar getragen wird, finden sich im Inneren von Organisation neben der formalen Verfassung informale Strukturen. Sie bestimmen sogar weitgehend das operative Geschäft. Vertrauen und guter Glaube sorgen dafür, dass die Effizienz der Organisation erhalten bleibt.
» … decoupled organizations are not anarchies. Day-to-day activities proceed in an orderly fashion. What legitimates institutionalized organizations, enabling them to appear useful in spite of the lack of technical validation, is the confidence and good faith of their internal participants and their external constituents.« (Meyer/Rowan S. 357f.)
Die institutionelle Umgebung von Organisationen fordert ihr Funktionieren, und sei es auch auf Grund übertriebener Vorstellungen von der praktischen Leistungsfähigkeit der von ihr verinnerlichten Rationalitäten. Ob der institutionalisierte Rationalitätsglaube wirklich rational ist, ist nicht entscheidend. Meyer und Rowan apostrophieren ihn wie gesagt als »myth and ceremony«. Doch müssen Organisationen dem Rationalitätsglauben ihrer Umgebung Rechnung tragen, um zu überleben:
»Isomorphism with environmental institutions has some crucial consequences for organizations: (a) they incorporate elements which are legitimated externally, rather than in terms of efficiency; (b) they employ external or ceremonial assessment criteria to define the value of structural elements; and (c) dependence on externally fixed institutions reduces turbulence and maintains stability. As a result, it is argued here, institutional isomorphism promotes the success and survival of organizations.« (Meyer/Rowan S. 348)
In der Organisationstheorie wird die radikale Sicht von Meyer und Rowan, nach der die formale Struktur von Organisationen eine zeremonielle Fassade ist, die nur das Überleben der Organisation in ihrer rationalitätsgläubigen Umwelt sichert, nicht geteilt (Walgenbach/Meyer S. 22ff, 81ff.). Man ist durchaus der Meinung, dass auch das operative Geschäft von Organisationen mindestens ebenso oder stärker von ihrer formalen Struktur abhängt als von informaler Selbstorganisation. Man könnte auch sagen, dass der Rollensatz der Organisationsmitglieder in der modernen westlich industrialisierten Welt durch den Rationalitätsglauben geprägt wird mit der Folge, dass sich die – aus der Sicht der Organisation – informalen Rollen meistens nicht soweit durchsetzen, dass sie das Funktionieren der Organisation torpedieren. Der Witz an der Sache ist jedenfalls, dass formale Organisationen im Großen und Ganzen praktisch funktionieren, dass also die Organisationsziele mehr oder weniger erreicht werden. Aber das stellen auch Meyer und Rowan nicht in Abrede. Die geradezu rituelle Pflege des formalen Außenbildes ist als Fassade keine Täuschung, sondern sondern hilft den Beteiligten, ihr Gesicht zu wahren, wenn sie abgekoppelt von der Form ihr Arbeit verrichten. Sie verbreitet eine Aura des Vertrauens innerhalb und außerhalb der Organisation.
»Participants not only commit themselves to supporting an organization’s ceremonial façade but also commit themselves to making things work out backstage. The committed participants engage in informal coordination that, although often formally inappropriate, keeps technical activities running smoothly and avoids public embarrassments. In this sense the confidence and good faith generated by ceremonial action is in no way fraudulent. It may even be the most reasonable way to get participants to make their best efforts in situations that are made problematic by institutionalized myths that are at odds with immediate technical demands.« (Meyer/Rowan S. 358f)
Aber auch das gibt es, Organisationsfassaden, die auf Täuschung oder jedenfalls Verschleierung angelegt sind. Rottenburg spricht von der Spiegelfassaden oder Potemkinschen Dörfern (1996 S. 240).[4]
40 Jahre sind vergangen sind, seit Meyer und Rowan ihr Manuskript verfasst haben. In dieser Zeit hat sich, jedenfalls in Mitteleuropa und in den USA, der institutionalisierte Rationalitätsglaube formell und informell noch verfestigt mit der Folge, dass die informelle Innenseite der Organisationen eher geschrumpft ist. Vor 40 Jahren gab es etwa noch die Vorstellung, dass Korruption und Vetternwirtschaft bis zu einem gewissen Grade funktional sein könne. Inzwischen ist Compliance nicht bloß angesagt, sondern wird auch praktiziert, und zwar nicht nur aus einem reinen Sanktionskalkül, sondern weil regelkorrektes Verhalten von Organisationen bis zu einem gewissen Grade zur kulturellen Norm geworden ist.
Im Einzelnen gibt es große Unterschiede, wieweit Organisationen sozusagen opportunistisch auf ihre Umgebung schielen müssen, und daher ist auch das decoupling unterschiedlich stark ausgeprägt (Meyer/Rowan S. 354). Meyer und Rowan haben in erster Linie Organisationen mit Gemeinwohlorientierung im Blick, ganze Staaten, Hospitäler, Schulen und Universitäten. Wirtschaftsunternehmen werden angesprochen, wenn und weil sie wegen ihrer Größe oder ihres Themas besonders unter öffentlicher Beobachtung stehen (S. 352). Diese Organisationen haben in ihrer Formalstruktur eine offene Flanke in Gestalt interpretationsfähiger Zielbestimmungen. Das ist bei »normalen« Wirtschaftsunternehmen anders, weil sie auf ein messbares Effizienzziel festgelegt sind. Dieses erreichen sie aber nur, wenn das Ziel und die zu seiner Erreichung angemessenen Mittel auch informell institutionalisiert sind.
Als Quintessenz der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie lässt sich festhalten, dass formale Organisationen auf eine informale Basis angewiesen sind. Wenn sie von dem generalisierten Rationalitätsglauben ihrer Mitglieder und ihrer Umgebung getragen werden, entwickelt sich intern vor allem eufunktionale Informalität.
3. Zur Moral der Organisation
Literatur: Günther Ortmann, Organisation und Welterschließung. Dekonstruktionen, 2. Aufl., 2008; ders. Organisation und Moral. Die dunkle Seite, 2010; ders., Organisationen neigen zu Moralverdrängung, Kerbe 3, 2014.
Die Kernaussage von Meyer und Rowan wird leicht dahin missverstanden, dass die geradezu rituelle Pflege des Rationalitätsglaubens auf Täuschung angelegt sei. Dann ist schnell auch die These von der Amoralität des Organisationshandelns in der Welt (z. B. bei Ortmann). Aber Organisationen sind nicht moralischer oder unmoralischer als Individuuen. Sie sind nur anders.
Der Vorwurf unmoralischen Handelns wird besonders gegenüber wirtschaftlichen Organisationen erhoben. In seiner allgemeinsten Form ist der Vorwurf als These von der Entsozialisierung wirtschaftlichen Handelns in der Moderne verbreitet. Zur informellen Institutionalisierung der Wirtschaft gehört aber wohl nicht nur der Rationalitätsglaube, von dem bei Meyer und Rowan die Rede ist. Dazu gehört auch eine spezifische Moralökonomie.[5] Die Substanz der normativen Orientierung wirtschaftlichen Handelns in der westlichen Welt ist zwar undeutlich, ihre Existenz wird aber nur von dogmatisierenden Ökonomen bestritten.
Die Moralität formaler Organisationen hängt weitgehend von ihrer informellen Einbettung ab. Das zeigt sich immer wieder bei dem Versuch, moderne Organsiationsformen in Entwickungsländer zu übertragen.
Beispiele aus dem Sudan und aus Tansania behandelt Richard Rottenburg.[6] Für den Sudan des Jahres 1994 zeigt er, dass einer formalen Organisation, die institutionelle Umgebung fehlte, an der sie sich hätte aufhängen können. Im Beispiel von Lake Transport habe sich unvermeidlich Klientelismus entwickelt, da in den Augen der Beteiligten die mit der importierten formalen Organisation verbundenen Vorstellungen von gleichen Rechten und der Zuteilung von Status und Belohnung nach Leistung bei den Beteiligten, die sich an traditional zugeschriebenem Status orientierten, die Legitimität fehle (1996 S 229f). Rottenburg benennt hier die Akzeptanz von Statusdifferenzierungen als informelle Institution, die der auf Gleichheit und Leistungsprinzip gründenden formellen Institution in die Quere kommt, und die generalisierte Reziprozität verbunden mit einem Ethos der Brüderlichkeit als persistente Moralökonomie.
Außerhalb der westlichen Welt gibt es große Unterschiede bei der informellen Basis formaler Organisationen. In Südamerika und weiten Teilen Asiens, in Russland und in den meistens Ländern Afrikas ist zwar die Institutionalisierung formellen Rechts und formaler Organisationen weit gediehen, aber die informale Basis hat damit nicht Schritt gehalten.
Als eine nicht mehr ganz neue, aber immer noch triftige Beschreibung gilt Larissa Lomnitz, Informal Exchange Networks in Formal Systems, American Anthropologist 90, 1988, 42-55. Sie nimmt ihre Beispiele aus Chile und Mexiko, der Sowjetunion und Georgien.
V. Individualistisches Recht und asymmetrische Gesellschaft
Der Angelpunkt des modernen Rechts ist das Individuum als Träger von Rechten und Pflichten, das frei über sein Eigentum verfügt und allein aus freiwillig eingegangenen Verträgen oder schuldhaft begangenen Handlungen verpflichtet wird. So wenig dieser Gedanke jemals vollkommen durchgeführt war, so sehr prägt er doch seit der Zeit des römischen Rechts und vollends seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts das Recht jedenfalls der Staaten der westlichen Welt. Ein wichtiges Thema sozialwissenschaftlicher Rechtsbetrachtung bestand stets darin, das juristische Dogma von der freien und verantwortlichen Persönlichkeit mit der Realität zu konfrontieren, also zu beschreiben, wie die individuelle Handlungs- und Wahlfreiheit durch kulturelle und soziale Faktoren eingeengt oder gar ausgeschlossen wird. Bis in die jüngste Vergangenheit geschah das in erster Linie durch die Beschäftigung mit dem Phänomen der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, mit denen ein überlegener Vertragspartner dem anderen Teil den Vertragsinhalt vorschreibt, so dass die Vorstellung eines frei ausgehandelten Vertrages zur Karikatur gerät[7]. Dieses Problem ist längst erkannt. Gesetzgebung und Rechtsdogmatik haben es ganz gut im Griff.
Das Problem der individuellen Vertragsfreiheit ist jedoch nur das Symptom eines viel tiefer greifenden Wandels. Die wichtigsten Akteure des Rechtssystems sind längst nicht mehr individuelle Menschen, sondern Organisationen. Ihr Spektrum reicht von der winzigen Handelsfirma bis zum multinationalen Konzern, vom Sportverein bis zu Gewerkschaften und Parteien, von lokalen Unternehmen und Behörden über den Staat bis zu internationalen Organisationen.
Der Gegensatz von Individuum und Organisation ist nicht nur ein ökonomisches Problem, das traditionell im Privatrecht abgehandelt wird. Auch der Staat selbst und alle seine Untergliederungen bilden ihrerseits Organisationen. Möglichkeiten und Grenzen ihres Handelns ergeben sich aus den strukturellen Bedingungen der Organisation. Im Rechtsverkehr mit dem Individuum entstehen prinzipiell die gleichen oder ähnliche Probleme wie im Bereich des Privatrechts.
Organisationen bilden ein zentrales juristisches Thema. Der Staat mit seinen Untergliederungen, Gesellschaften, Betriebe, Unternehmen oder Konzerne beschäftigen ganze Teildisziplinen der Rechtswissenschaft. Doch alle Bemühungen um eine rechtliche Regelung der inneren Ordnung und der äußeren Beziehungen dieser Gebilde haben die individuelle Grundkonzeption des Rechts weithin unberührt gelassen. Die große Masse der Organisationen wird als juristische Person auf dieselbe Ebene gestellt wie der einzelne Mensch als Träger von Rechten und Pflichten. Die dogmatische Anstrengung richtete sich lange Zeit darauf, diese Gleichstellung zu begründen. Das gilt selbst für Otto von Gierkes Theorie der realen Verbandspersönlichkeit[8], die zwar die soziologische Besonderheit von Organisationen zum Ausdruck bringt, aber letztlich doch nur dazu dient, die Handlungs- und Willensbildungsfähigkeit des Verbandes zu erklären, um ihn über die Anerkennung der Rechtsfähigkeit wie ein menschliches Individuum behandeln zu können.
Nach Art. 19 Abs. 3 GG gelten die Grundrechte auch für juristische Personen, »soweit sie ihrem Wesen nach auf sie anwendbar sind«. Das wird dahin verstanden, dass juristische Personen den natürlichen Personen grundsätzlich gleichgestellt sind. Sie können wie diese im Rahmen von Art. 2 Abs. 1 GG von ihrer Rechtsfähigkeit Gebrauch machen und genießen den Eigentumsschutz des Art. 14 GG. Sie haben die Freiheit, Meinungen zu äußern und Informationen zu empfangen (Art. 5 GG), sie können einem Bekenntnis oder einer Weltanschauung anhängen (Art. 4 GG), sich zusammenschließen (Art. 9) oder ihren Sitz verlegen (Art. 11). Die Gleichstellung setzt sich im Gerichtsprozess fort (Art. 101 GG), wo nur die Möglichkeit, Prozesskostenhilfe zu erhalten, eingeschränkt ist[9]. Es wirkt nach alledem inkonsequent, dass Organisationen von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ausgenommen sind und nur wegen Ordnungswidrigkeiten zur Verantwortung gezogen werden können.[10]
Die Erfindung der juristischen Person in Analogie zur natürlichen und die Meisterung der damit verbundenen Folgeprobleme war und ist eine große Leistung der Jurisprudenz, ohne die die moderne arbeitsteilige Gesellschaft nicht vorstellbar wäre. Sie war so erfolgreich, dass heute praktisch überall im Rechtsleben Organisationen als die maßgeblichen Akteure auftreten. Heute geht esnicht länger darum, die Gleichstellung von Organisationen mit Individuen zu begründen, sondern gerade umgekehrt die Unterschiede aufzuzeigen, die eine ungleiche Behandlung fordern und rechtertigen.
Die ökonomische und politische Macht der Organisationen ist so angewachsen, dass erhebliche Anstrengungen unternommen werden, um sie mit rechtlichen Mitteln unter Kontrolle zu bringen. Nicht zufällig hat sich die Theorie des Staats- und Verfassungsrechts von der individualistischen Grundkonzeption am weitesten entfernt. Sie hat das Phänomen des korporatistischen oder mediatisierten Staates, des Staates also, dessen Wirklichkeit durch eine Vielzahl pluralistischer Organisationen geprägt wird, jedenfalls im Blick. Aber bis heute verkehrt der private Autofahrer mit dem Ölmulti rechtlich auf der gleichen Ebene wie mit seinem Friseur. Dabei geht es nicht um den Gegensatz zwischen Arm und Reich, zwischen Unterschicht und Oberschicht, und ebenso wenig um den Gegensatz zwischen Produktionsmitteleigentümern und anderen. Zwischen Individuum und Organisation besteht ein struktureller Unterschied von ganz anderer Qualität. Coleman (der Organisationen als korporative Akteure anspricht) hält ihn für so grundlegend, dass er von der asymmetrischen Gesellschaft spricht.
Die Wesenszüge der asymmetrischen Gesellschaft hat Coleman wie folgt zusammengefasst:
- Korporative Akteure bestimmen die moderne Welt. Organisationen sind zahlreicher, größer und mächtiger geworden. Individuuen werden mehr und mehr irrelevant.
- Korporative Akteure können mehr und mehr Rechte geltend machen.
- Korporative Akteure monopolisieren mehr und mehr die Informationen, die für soziale Entscheidungen notwendig sind. Individuuen erhalten ihre Informationen nur noch gefiltert durch Organisationen.
- Diese Asymmetrie ist zur Grundstruktur der Gesellschaft geworden.
- Konsequenz ist die Notwendigkeit einer übergreifenden Autorität. Das heißt praktisch der Staat als Gegenmacht.
- Individuen, die ihre Interessen wahren wollen, müssen sich dazu mehr und mehr auf die größte aller Organisationen, auf den Staat, verlassen.
- Für reale Probleme oder auch nur Ängste werden zunehmend korporative Akteure verantwortlich gemacht.
- Die Familie könnte ein Gegengewicht gegen den Einfluss korporativer Akteure bilden. Aber die Kultur drängt zum Individualismus und lockert damit die Familienbindung.
Coleman und mehr oder weniger alle Beobachter sind der Ansicht, dass es gilt, die Asymmetrie zwischen zwischen Individuen und korporativen Akteuren auszugleichen, also die Handlungsmacht der Organisationen zu beschränken und die individuelle Macht zu stärken. Es gibt dazu viele Ansätze zu Verbesserung der Stellung von Individuuen in und gegenüber Organisationen. Sie reichen von Managementtheorien über die Compliance-Bewegung und enden noch lange nicht bei Bemühungen um eine bürgerfreundliche Verwaltung und Hilfsangeboten für Verbraucher, Patienten usw. Aber letztlich geht es nicht ohne Recht.
VI. Die strukturelle Differenz zwischen Individuum und Organisation
Literatur: James S. Coleman, The Asymmetric Society, 1982; Holger Lengfeld, Klasse – Organisation – soziale Ungleichheit. Wie Unternehmensstrukturen berufliche Lebenschancen beeinflussen, 2010; James G. March/Herbert A. Simon, Organisation und Individuum. Menschliches Verhalten in Organisationen, 1976 [1958]; Peter Preisendörfer, Organisationssoziologie, 2016, S. 195ff (Asymmetrie in den Beziehungen zwischen individuellen und korporativen Akteuren).
Individuen haben mit Organisationen auf verschiedenen Ebenen Kontakt. Besonders intensiv ist dieser Kontakt bei Arbeitnehmern oder Anstaltsinsassen. Hier besteht im Prinzip ein hierarchisches Innenverhältnis. Dagegen stehen etwa die Kunden einer Firma oder die Bürger einer Stadt im Außenverhältnis zur Organisation. Zwischen beiden bewegen sich die Mitglieder einer Organisation, also etwa Parteimitglieder oder Vereinsmitglieder.
Auch im Innenverhältnis, als im Verhältnis der Organisation zu den ihr eingegliederten Mitgliedern, ganz überwiegend also zu ihren Arbeitnehmern, wirken es strukturelle Unterschiede. Der Klassiker dazu ist March/Simon. Für eine neuere Unteruchung sei auf Lengfeld verwiesen. Dieser Abschnitt behandelt die strukturelle Unterlegenheit des Individuums nur im Außenverhältnis zur Organisation. Die prinzipielle Überlegenheit von Organisationen im rechtlichen Interessenkampf mit Einzelmenschen lässt sich an acht Strukturmerkmalen der Organisation festmachen:
- Spezialisierung durch den Organisationszweck und innere Arbeitsteilung
- instrumentell-rationale Bedürfnis- und Motivationsstruktur
- Förmlichkeit und Affinität zum Recht
- Unpersönlichkeit und die daraus folgende Undurchschaubarkeit
- bürokratisches Verfahren
- überlegenes Gedächtnis
- Ansammlung überlegener materieller Ressourcen
- technisierte Außenkommunikation.
(1) Spezialisierung: Organisationen haben anders als Menschen einen spezifischen Zweck. Das ermöglicht ihnen eine Spezialisierung auf bestimmte Handlungsfelder. Sie verfügen darüber hinaus über eine interne Arbeitsteilung. Individuen sehen sich als Laien mit Experten konfrontiert. Situationen, die an ein Individuum einmalige oder seltene Anforderungen stellen, bedeuten für die Organisation und ihre Mitglieder Routine mit all den technischen, organisatorischen und planerischen Vorteilen (und manchen Nachteilen), die solche Routine mit sich bringt.
(2) Zweck-Mittel-Rationalität: Die Festlegung der Organisation auf einen Zweck macht instrumentelles Handeln sinnvoll, ja Zweck-Mittel-Rationalität, eingebunden in eine hierarchische Befehlsstruktur, gilt seit der Zeit Max Webers als das Kennzeichen der Organisation schlechthin. Die moderne Bürokratieforschung hat dieses Idealbild zwar eingeschränkt. Selbsterhaltung und Funktionsfähigkeit sind als neue Themen der Organisationssoziologie hinzugekommen. Dennoch bleibt die Organisation, verglichen mit dem Individuum, dem Modell rationalen, auf Zielverwirklichung hin orientierten Verhaltens weitaus näher.
(3) Affinität zum Recht: Organisationen sind formal. Das heißt, sie gewinnen ihre innere Struktur aus einem Satz ausdrücklich formulierter Regeln über die Festschreibung der Ziele, die Zusammensetzung der Mitglieder und über die zur Zielverfolgung einzusetzenden Mittel. Mittel in diesem Sinne sind vor allem die Funktionäre, die in bestimmten Rollen agieren, wie sie näher in der Bürokratietheorie Max Webers (§ 79 I) charakterisiert werden. Die Form aller gesellschaftlich relevanten Organisationen hat darüber hinaus heute Rechtsqualität. Sie ist im Vereinsrecht, Gesellschaftsrecht, in Parteiengesetz und im öffentlichen Organisationsrecht festgeschrieben. Organisationen verdanken ihre Existenz rechtlich qualifizierbaren Gründungsakten, die sich in Satzungsbeschluss und Registereintragung niederschlagen. Sie haben eine rechtliche Binnenstruktur in Gestalt von Statuten, Gesellschaftsverträgen, Geschäftsführungs- und Vertretungsregelungen. Diese Affinität zum Recht legt es den Organisationsmitgliedern nahe, auch die Außenbeziehungen als rechtlich geordnet wahrzunehmen. Der Gebrauch von Recht bildet für Organisationen ein wichtiges Mittel zweckrationalen Verhaltens. Dagegen ist der Einzelmensch von Fleisch und Blut. Er erlebt seine Außenbeziehungen viel unmittelbarer vor dem Hintergrund seiner Bedürfnisse oder internalisierter Wertvorstellungen. Der Gebrauch von Recht liegt ihm zunächst fern.
(4) Unpersönlichkeit: Organisationen sind komplex insofern, als sie sich aus einer Mehrzahl von Personen und oft auch Unterorganisationen zusammensetzen. Ein bestimmter Akt kann kaum auf Entscheidungen und Handlungen einzelner Personen zurückgeführt werden. Organisationen wirken daher auf ein Individuum unpersönlich. Zu diesem Eindruck trägt nicht zuletzt die andersartige Zeitperspektive von Organisationen bei. Organisationen verhalten sich als Interaktionspartner anders als Individuen. Vor ihnen versagt die Fähigkeit des Individuums, verstehend die Perspektive des Interaktionspartners zu übernehmen. Auch als Adressaten von Rechtsnormen reagieren Organisationen anders als Einzelmenschen. Sie lassen sich kaum von immateriellen Sanktionen beeinflussen, jedenfalls nicht von solchen die Privaten zur Verfügung stehen, reagieren dagegen umso schärfer auf ökonomische Vor- und Nachteile.
(5) Bürokratisches Verfahren: Organisationen verfahren in der Regel bürokratisch, d. h. in diesem Zusammenhang, sie verfahren nach Regeln und berücksichtigen nicht die Besonderheiten des Einzelfalls, die aus der Sicht der Betroffenen wichtig sind.
(6) Überlegenes Gedächtnis: Akten bilden das Gedächtnis der klassischen Bürokratie. Die moderne Schriftlichkeit gab dem Individuum immerhin eine Chance durch die Sammlung einer Parallelakte, also insbesondere durch die Sammlung von Korrespondenz aller Art, mit dem Gedächtnis der Bürokratie halbwegs gleich zu ziehen. Seit die Akten durch elektronische Medien ersetzt werden, wird es für den Bürger schwieriger, mitzuhalten. Technisch wäre das zwar möglich. Aber in der Regel fehlen ihm die Routinen, die notwendig sind, um eine vollständige elektronische Akte anzulegen. Es kommt hinzu, dass die Organisationen oft Daten über ihre Klienten gesammelt haben, die aus Vorgängen entstanden sind, die der Klient gar nicht für relevant gehalten hat oder nicht einmal kennt. Schließlich sind Organisationen im Stande, ihre eigenen Daten mit denen von Datenlieferanten zu verknüpfen.
(7) Ansammlung materieller Ressourcen: Organisationen gelingt vielfach die Ansammlung überlegener materieller Ressourcen. Oft können sie ihren Finanzbedarf auf eine Vielzahl von Mitgliedern umlegen. Für Handelsgesellschaften ist die Ansammlung eines Grundkapitals, dessen Erhaltung und Vermehrung, geradezu Existenzvoraussetzung.
(8) Technisierte Außenkommunikation: Für den Kontakt genügen nicht Name und Anschrift, sondern es wird nach vielstelligen Kunden- oder Geschäftsnummern oder nach Passworten gefragt. Sieht man einmal vom stationären Einzelhandel ab, so kommuniziert der Bürger heute mit Behörden und Firmen aller Art in der Hauptsache elektronisch. Oft muss das Individuum sich duch eine mehr oder weniger übersichtliche Internetseite durchklicken uind sich durch ein Passwort legitimieren. Einen Sachbearbeiter bekommt er nicht mehr zu Gesicht und auch nicht mehr ans Telefon. Behörden und Unternehmen verbergen ihre Durchwahltelefonnummern und bieten nur noch eine Servicenummer an, die in ein Callcenter führt und dort, meistens nach Wartezeiten, oft mit einem automatisierten Sprachdialogsystem beginnt. Personen- oder ressortbezogene Mailadressen bleiben ebenso wie Telefonnummern verborgen. Selbst in Behörden sind persönliche Vorsprachen oft nur noch nach elektronischer Terminvergabe möglich.
Alle Strukturmerkmale wirken zusammen. Sie ergänzen und verstärken sich soweit, dass jedenfalls auf dem Handlungsfeld des Rechts Organisationen dem Einzelmenschen als Akteure prinzipiell überlegen sind. Organisationen müssen den Gebrauch von Recht nicht erst lernen. Er ist ihnen selbstverständlich. Austauschbeziehungen werden von Organisationen von vornherein im Hinblick auf rechtliche Auseinandersetzungen geplant. Große Breitenwirkung entfaltet solche Planung durch die Verwendung allgemeiner Geschäftsbedingungen. Beim Vertragsschluss spielen Organisationen mit verteilten Rollen. Ihre – zunehmend elektronischen – Agenten können beim privaten Vertragspartner Hoffnungen und Erwartungen wecken, die mangels Vertretungsmacht und Schriftform juristisch irrelevant oder unbeweisbar bleiben. Im Streitfalle ist die Verrechtlichung des Konflikts und in der Folge die Inanspruchnahme des Gerichts oder jedenfalls die Drohung damit für Organisationen ein vertrautes Handlungsmuster, dessen man sich in geeigneten Situationen ohne weiteres bedienen kann. Für Individuen dagegen liegt oft schon der Gedanke fern, sich auf Recht zu berufen oder gar vor Gericht zu gehen.
Es wäre aber zu eng, den Gegensatz zwischen Individuum und Organisation nur unter dem Gesichtspunkt der organisatorischen Überlegenheit zu betrachten. Es gibt auch die umgekehrte Seite, dass Individuen die strukturelle Differenz zu ihrem Vorteil nutzen. Individuen können besonders dadurch, dass sie sich den Kommunikationstechniken und sonstigen Routinen der Organisationen verweigern, deren Strategie durchkreuzen. Noch die simpelste Methode wäre, dass der Autofahrer bei der Überweisung des Verwarnungsgeldes die Zahlen im Aktenzeichen der Behörde verdreht.
[1] Fritz J. Roethlisberger/William J. Dickson, Management and the Worker, Cambridge, Mass. 1939.
[2] Zur Ubiquität der Informalität in formalen Organisationen Stefan Kühl, Informalität und Organisationskultur, Working Paper 2010.
[3] Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, 1964, 304-314.
[4] Richard Rottenburg, When Organization Travels: On Intercultural Translation, in: Barbara Czarniawska/Guje Sevón (Hg.), Translating Organizational Change, 1996, 191-240.
[5] Der Begriff stammt wohl von Edward P. Thompson (The Moral Economy of the English Crowd in the 18th Century, Past and Present 50, 1971, 76-136). Er wurde geläufig, als ihn Martin Kohli in seiner Analyse des Generationenvertrages in die Wohlfahrtsstaatsforschung einführte und wie folgt definierte: »Moralökonomie bezeichnet einen Bereich des Austauschs von Gütern, in dem die Preisbildung nach dem Marktmodell – d.h. nach dem Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage von Akteuren, die an der eigenen Nutzenmaximierang orientiert sind – außerökonomischen Einschränkungen unterworfen ist. Sie entzieht bestimmte Güter in bestimmten Situationen der nutzengeleiteten Disposition der Marktteilnehmer und unterstellt sie allgemeinen Kriterien von Gerechtigkeit (oder ›Fairness‹). Sie konstituiert also moralische Standards für die Entscheidung von wirtschaftlichen Konflikten.« (Moralökonomie und »Generationenvertrag«, in: Max Haller/Hans Joachim Hoffmann-Nowotny/Wolfgang Zapf (Hg.), Kultur und Gesellschaft: Verhandlungen des 24. Deutschen Soziologentags usw., 1989, 532-555. In unserem Zusammenhang wurde der Begriff schon 1987 von Georg Elwert verwendet: Ausdehnung der Käuflichkeit und Einbettung der Wirtschaft. Markt und Moralökonomie, KZfSS Sonderheft 28, 1987, 300-321.
[6] Richard Rottenburg, »We have to do business as business is done!«. Zur Aneignung formaler Organisation in einem westafrikanischen Unternehmen, Historische Anthropologie 2, 1994, 265-286; ders., Formale und informelle Beziehungen in Organisationen, in: Achim von Oppen/Richard Rottenburg (Hg.), Organisationswandel in Afrika, 1995, 19-34; ders., When Organization Travels: On Intercultural Translation, in: Barbara Czarniawska/Guje Sevón (Hg.), Translating Organizational Change, 1996, 191-240.
[7] Grundlegend Ludwig Raiser, Das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, Hamburg 1935.
[8] Otto von Gierke, Das Deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 1, Berlin 1868,. 882-907; ders., Deutsches Privatrecht, Bd. 1, Leipzig 1895, 456 ff.; 479 ff.; ders., Das Wesen der menschlichen Verbände, Berlin 1902 (Nachdruck Darmstadt 1954). Zur juristischen Person heute vgl. etwa Uwe John, Die organisierte Rechtsperson, Berlin 1977; Franz Wieacker, Zur Theorie der juristischen Person des Privatrechts, in: FS für Ernst Rudolf Huber, Göttingen 1973, 339-383.
[9] Vgl. BVerfGE 35, 348.
[10] Dazu Bernd Schünemann, Unternehmenskriminalität und Strafrecht, Köln usw. 1979. Weitere Nachweise in den Kommentaren zum StGB zu § 14. Zur aktuellen Diskussion um ein Unternehmensstrafrecht in Deutschland vgl. den Bericht auf der Webseie der Hochschule Konstanz.
[1] 1968, 2. Aufl. 1985.
[2] Gunther Teubner, Organisationsdemokratie und Verbandsverfassung, 1978.