§ 70 Das Recht als autopoietisches System

Texte: Von Niklas Luhmann: Soziale Systeme, 1984; Die soziologische Beobachtung des Rechts, 1986; Die Wirtschaft der Gesellschaft, 1988; Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1990; Das Recht der Gesellschaft, 1993 (= RdG); Die Kunst der Gesellschaft, 1999; Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde., 1997 (=GdG); Recht als soziales System, ZfRSoz 20 (1999) 1-13; Die Politik der Gesellschaft, 2000¸Die Religion der Gesellschaft, 2000. Wegen der älteren Werke vgl. vor § 9.

Literatur: Marc Amstutz, Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001; Ralf Dreier, Niklas Luhmanns Rechtsbegriff, ARSP 88 (2002) 305; Peter M. Hejl, Die Theorie autopoietischer Systeme: Perspektiven für die soziologische Systemtheorie, Rechtstheorie 13 (1982) 45; Werner Krawietz/Michael Welker (Hg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme, 1992; Paradoxien des Rechts: Eine Debatte zu Niklas Luhmanns Rechtssoziologie, ZfRSoz 21 (2000) Heft 1; Walter Reese-Schäfer, Niklas Luhmann zur Einführung, erg. Nachdruck der 4. Auflage (2001) 2005; Martin Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, 2011; Gunther Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989; Helmut Willke, Systemtheorie, 4. Aufl. 1993

I. Recht als Kommunikationssystem

Obwohl ein System nicht als Beziehung des Ganzen zu seinen Teilen gesehen wird, besteht es doch aus einer Mehrzahl von Elementen, die in spezifischer Weise angeordnet sind. Worin bestehen nun die Elemente des Rechtssystems? Wenn wir Luhmann folgen, lassen sich soziale Systeme nicht auf psychische Systeme reduzieren. Die handelnden Personen sind nicht Teil des sozialen Systems, sondern sie bilden nur seine Umwelt. Daher besteht das Rechtssystem nicht aus Richtern und Rechtsanwälten, und ebenso wenig aus juristischen Büchern und Gefängnissen. Es besteht vielmehr, wie alle sozialen Systeme, aus Kommunikationen, und nur aus Kommunikationen (RdG S. 35).

Ein Kritikpunkt, der immer wieder gegen die Systemtheorie erhoben wird, geht dahin, dass diese Theorie nur Kommunikationen als Elemente der Systeme akzeptiert, und damit für Akteure und ihre Handlungen keinen Platz hat. Diese Kritik ist verfehlt. Ebenso wie ein Stadtplan kommt auch die Systemtheorie ohne Menschen aus. Im Gegenteil, dieses Merkmal macht zu einem erheblichen Teil den Reiz und die Analyseschärfe der Theorie in der Fassung Luhmanns aus. Die Akteure und ihre Handlungen spiegeln sich indirekt in den Kommunikationen.

Das Charakteristikum dieser Version der Systemtheorie liegt also darin, dass sie das Recht als einen Strom von Kommunikationen betrachtet. Eine Kommunikation (=Systemoperation) schließt jeweils an eine andere an. Viele Kommunikationen rufen neue Kommunikationen hervor, die sich auf frühere Kommunikationen innerhalb des Systems beziehen: Das Gericht reagiert auf die Klage mit einer Ladung. Der Beklagte erwidert. Vor Gericht wird verhandelt, das heißt, es wird kommuniziert. Man bezieht sich dabei auf Verträge, Gesetze und Präjudizien, also wiederum auf frühere Kommunikationsakte. Und am Ende »kommuniziert« das Gericht ein Urteil. Vielleicht war schon die Klage eine Reaktion auf ein früheres Urteil, und das neue Urteil wird wiederum als Präjudiz wirken, d. h. andere Kläger und Gerichte werden darauf Bezug nehmen. So erzeugt das System die Elemente, aus denen es sich zusammensetzt, indem es an den Elementen anknüpft, aus denen es besteht.

II. Operative Schließung und strukturelle Kopplung

Diese Beschreibung führt zu der Vorstellung, dass Rechtssysteme mit anderen sozialen Systemen die Fähigkeit gemeinsam haben, sich selbst aus ihren Elementen zu reproduzieren, dass sie autopoietisch sind. Das Fremdwort ist zusammengesetzt aus griechisch autos = selbst und poiein = machen. Das Antonym heißt allopoietisch = von fremder Hand gemacht. Allopoietisch sind mechanische Systeme wie die Uhr. Noch einmal mit anderen Worten: Das Recht reproduziert sich selbst in einem rekursiven Prozess, in dem neue Systemoperationen stets an das Netzwerk eigener Operationen anknüpfen. Deshalb heißt es autopoietisch.

Rechtliche Kommunikationen können nur auf solchen aufbauen, die schon zum System gehören. Sie reagieren nicht auf Kommunikationen, die einem anderen System angehören. Das Rechtssystem antwortet nicht auf die Wettervorhersage, nicht auf Gerüchte über das beste Restaurant in der Stadt und – hoffentlich – auch nicht auf ein Bestechungsgeld. Zwar werden Rechtsnormen auf Sachverhalte angewendet, die als solche nicht zum Rechtssystem gehören. Aber welche Umstände relevant sind, bestimmt das Recht nach rechtlichen Kriterien selbst. Deshalb bezeichnet Luhmann das Recht als ein operativ geschlossenes System (RdG S. 38 ff.).

Die »operative Schließung« eines Systems wird dadurch möglich, dass es sich selbst von seiner Umwelt unterscheiden kann. Was zeichnet eine Kommunikation aus, damit sie als zum Rechtssystem gehörig erkennbar ist? Die Antwort Luhmanns lautet: Recht kann sich selbst dadurch von seiner Umwelt unterscheiden, dass es diese Umwelt unter einem Gesichtspunkt beurteilt, der nur ihm zur Verfügung steht, nämlich mit Hilfe der Unterscheidung von Recht und Unrecht. Die Einheit des Rechtssystems kommt dadurch zustande, dass alle Kommunikationen innerhalb des Systems auf die Dichotomie von Recht und Unrecht bezogen sind. Das klingt plausibel. Wenn eine Kommunikation darauf gerichtet ist, ein (subjektives) Recht geltend zu machen oder es zu bestreiten, ein Recht zu begründen oder zu vernichten, ein Recht vorzuschlagen oder zu kritisieren, stets gehört es dann zum Rechtssystem. Andere Systeme verfügen über andere Grundideen. Die Wirtschaft ist das System, in dem alle Kommunikationen sich mit Wert und Kosten befassen. In der Wissenschaft geht es um Wahr und Falsch, und in der Religion um Gott und die Welt. Diese Kernvorstellung, aus der sich die Zugehörigkeit von Kommunikationen zum System ergibt, nennt Luhmann auch die Leitunterscheidung oder den Code des Systems. Sie verhilft dem System zur Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz und damit sich selbst zu einer Identität und seiner Umwelt gegenüber zur Selbständigkeit (Autonomie).

Autopoietische Systeme, und damit auch das Rechtssystem, sind reflexiv, das heißt, sie können sich selbst bei ihrer Arbeit beobachten. Sie können ihre Operationen so steuern, dass sie die eigene Identität zum Thema machen, indem sie die Leitunterscheidung benutzen, mit der sie sich von ihrer Umwelt unterscheiden. Ihre Identität wird durch Selbstbeobachtung erzeugt. Innerhalb des Rechtssystems werden laufend die Systemgrenzen beobachtet und bedacht. Man stellt sich ständig die Frage nach dem Verhältnis von System und Umwelt, also von Recht und Moral, Recht und Politik, Recht und Wirtschaft usw. Auf solche Fragen sind Rechtsphilosophie und Rechtstheorie spezialisiert, die damit zum Rechtssystem gehören.

Die Leitunterscheidung eines Systems ist eine evolutionäre Errungenschaft. Als solche ist sie nicht weiter begründbar. Sie kann insbesondere nicht sinnvoll auf sich selbst angewendet werden, man kann also nicht entscheiden, ob die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht selbst Recht oder Unrecht ist. Würde die Leitunterscheidung auf sich selbst angewendet, dann, so jedenfalls Luhmann, wird die Sache paradox.

»Eine Paradoxie kommt zustande, wenn man den Code auf sich selbst anwendet, also die Frage stellt, ob es recht oder unrecht ist, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. Die für Juristen (und Logiker) triviale Antwort, es sei recht, lässt offen, was denn in diesem Falle als Gegenbegriff zu Recht, als auch mögliches Unrecht funktioniert. Die andere Antwort, es sei unrecht, erzeugt dasselbe Problem im umgekehrten Sinne. Im einen Fall ist das Recht als rechtlich legitim, im anderen als illegitim behauptet. Aber die Frage nach der Einheit der beiden Behauptungen, die Frage der Einheit des Codes, ist nicht einmal gestellt.« (RdG S. 188)

Zum Paradox wird die Frage nach dem Recht des Rechts indes nur durch Ausbeutung einer Äquivokation, denn »Recht« und Recht klingen zwar gleich, meinen aber nicht dasselbe, es sei denn, der Fragesteller lege es darauf an, ein Paradox zu produzieren. Was mit der Frage sinnvoll gemeint sein könnte, hängt vom Standpunkt des Beobachters ab. Der Soziologe, der das System von außerhalb beobachtet, erwartet als Antwort eine Stellungnahme zur Legitimität des Rechts oder zu seiner Wirksamkeit. Der Jurist sieht das Recht von innen. Aus dieser Perspektive wäre die Frage nach dem »Recht« von Recht nur eine andere Formulierung der Frage nach der Geltung des Rechts. Die Frage führt nicht in einen Widerspruch, sondern in einen unendlichen Regress. Sie lässt sich theoretisch endlos wiederholen und führt nie zu einer definitiven Antwort. Praktisch muss und kann sie mit einem Werturteil entschieden werden. Oder, was dasselbe meint: Der Ursprung des Rechts liegt nicht im Recht. Schlicht kann man sagen: Der Ursprung des Rechts ist ein Werturteil. Oder man kann die Sache dramatisieren, indem man die »Kraft des Gesetzes« mit Derrida »gewaltsam« nennt.

Luhmanns Theorie von der Konstitution des Rechtssystems mit Hilfe eines Paradoxons braucht uns also nicht zu beunruhigen. Beunruhigender ist seine These von der operativen Geschlossenheit der Systeme, die zu verhindern scheint, dass das Recht auf Informationen von außerhalb des Systems reagiert. Vielleicht kann man sich die Sache so vorstellen, wie eine Gruppe von Menschen, die nur ihre eigene Sprache spricht, und andere Gruppen, die auch nur ihre eigene Sprache kennen, nicht verstehen. So nehmen die Gruppen (Systeme) sich zwar gegenseitig wahr, bemeken auch, dass die anderen etwas sagen, vernehmen aber nur ein Rauschen. Die herkömmliche Systemtheorie hatte zwar die Vorstellung von einer Grenze zwischen System und Umwelt. Diese Grenze wurde aber nicht für undurchlässig gehalten. Man nahm vielmehr an, dass Systeme in einem Austauschverhältnis mit ihrer Umwelt stünden. Luhmann konzentriert sich dagegen auf die internen Operationen des Systems. Nur im Rahmen seiner eigenen Möglichkeiten kann ein System auf Veränderungen in seiner Umwelt antworten. Die Krankenhäuser können Unfälle nicht abschaffen, sondern müssen ihr Bestes tun, um die Verletzten zu versorgen. Und so können auch die Gerichte kein Geld drucken, um die Unfallopfer zu entschädigen, sondern nur mit ihren systemeigenen Mitteln antworten, indem sie auf eine Klage Schadensersatz zusprechen.

Da es im Rechtssystem um Normen geht, ist die Geschlossenheit jedoch nur eine normative. Kognitiv bleibt das Rechtssystem offen (RdG Kap 3 VI). Man spricht auch von informationeller Offenheit. Im Rechtssystem kann man selbstverständlich zur Kenntnis nehmen, was in der Welt geschieht. Aber darauf kann das System nur mit eigenen Maßstäben reagieren. So kann es etwa die Proteste gegen den Bahnhofsumbau Stuttgart 21 rechtlich als Versammlung und Demonstration einordnen, den Verlauf als rechtmäßig oder rechtswidrig beurteilen, muss aber im übrigen die Proteste für das Planungsverfahren und für abgeschlossene Verträge als irrelevant erachten.

Trotzdem sind System und Umwelt natürlich nicht völlig voneinander isoliert. Die zwischen ihnen bestehende Beziehung heißt bei Luhmann strukturelle Kopplung. Die Kopplung besteht darin, dass das System sich intern ein Bild von seiner Umwelt entwirft, mit dem es bestimmte Eigenarten der Umwelt dauerhaft voraussetzt (RdG S. 441). So unterstellt die Verfassung in ihrem Grundrechtsteil, dass individuelle Freiheit durch den Staat prinzipiell gefährdet ist. Das Mietrecht baut auf die Annahme, dass Wohnungsmieter besonders schutzbedürftig seien; das Arbeitsrecht hält einzelne Arbeitnehmer für weniger verhandlungsstark als den Arbeitgeber. Aber Gerichte können keine Polizisten entwaffnen, keine Wohnungen bauen und keine Arbeitsplätze schaffen. Sie können nur Fälle, die an sie herangetragen werden, unter Anknüpfung an Rechtsnormen systemkonform entscheiden. Wenn Richter also von Übergriffen der Polizei, von der Knappheit billiger Mietwohnungen oder über die verbreitete Arbeitslosigkeit in der Zeitung lesen, werden sie das als Person zur Kenntnis nehmen. Das Recht als System nimmt solche systemfremden Kommunikationen der Umwelt dagegen nur als ein »Rauschen« wahr, das nicht mehr als »Irritationen« auslösen kann.

Wenn Richter aus der Zeitung erfahren, wie das Publikum über die Beschimpfung von Soldaten als »Mörder« denkt, was es von Kreuzen im Klassenzimmer hält und dass es die Rechtschreibreform ablehnt, werden sie darüber vielleicht nachdenken und mit Kollegen oder ihrer Familie darüber reden. Doch diese Kommunikation bewegt sich nicht im Rechtssystem. Wie könnte es anders sein, wenn wir das Recht zuvor von den anderen Systemen dadurch abgegrenzt haben, dass es auf spezifische Kommunikationsakte beschränkt ist? Deshalb ist die Beschreibung der Systeme und damit auch des Rechtssystems als »geschlossen« tautologisch. Dennoch werden sich die Richter in irgendeiner Weise, die rechtlich zunächst nicht fassbar ist, von dem beeindrucken lassen, was sie als Person in anderen Teilsystemen der Gesellschaft wahrnehmen. Das mag man »Irritation« oder »Interferenz« nennen. Doch damit ist nichts gewonnen, wenn sich nicht die Frage anschließt, wie genau diese »Störung« das Rechtssystem beeinflusst.

Diese Frage stellt eine empirische Untersuchung aus den USA, die 146 Entscheidungen des United States Supreme Court aus der Zeit von 1934-1986 mit den Ergebnissen von Meinungsumfragen vergleicht, die etwa zur gleichen Zeit durchgeführt wurden, und zu dem Ergebnis gelangt, dass die Entscheidungen de facto überwiegend mit der Mehrheitsmeinung der Bevölkerung übereinstimmten (Thomas R. Marshall, Public Opinion and the Supreme Court, Boston 1989). Anscheinend verursacht das »Rauschen« der öffentlichen Meinung nicht bloß »Irritationen«.

Luhmanns systemtheoretische Beschreibung des Rechts läuft auf eine anspruchsvolle Reformulierung der Trennungsthese des Rechtspositivismus hinaus. Geschlossenheit des Rechtssystems bedeutet eben nichts anderes als die Abkopplung von Moral und Politik, Religion und Wirtschaft und auch von der öffentlichen Meinung. Die »Leitentscheidung« des Systems tritt an die Stelle einer Grundnorm, die nicht mehr hinterfragt wird. Ihre Kennzeichnung als Paradox ist ein rhetorisches Mittel. Es hilft in kreativer Weise über die vermisste, aber nicht mögliche Letztbegründung hinweg. Selbstbeobachtung oder Reflexivität äußern sich in dem immer neuen Versuch, die Geltung des Rechts zu begründen oder, mit anderen Worten, den Anschluss des Rechts an seine Umwelt herzustellen.

III.  Autonomie des Rechts

Literatur: Harold J. Berman, Recht und Revolution, Die Bildung der westlichen Rechtstradition, 1995 [Law and Revolution 1983]; Marie Theres Fögen, Römische Rechtsgeschichten: Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems, 2002; Thomas Vesting, Rechtstheorie, 2007, Rn. 268-270.

Die operative Geschlossenheit, die dem Recht zu einer gewissen Autonomie gegenüber anderen Sozialsystemen verhilft, ist eine historisch relative neue Errungenschaft. Wann und wo das Recht erstmals diese Qualität erreicht hat, ist nicht ganz klar und kann im Hinblick darauf, dass die Übergänge fließend sind, auch nicht auf den Punkt genau bestimmt werden. Drei unterschiedliche Startzeiten für das moderne Recht werden erörtert. Fögen sieht den Anfang eines geschlossenen Rechtsystems schon im römischen Recht. Harold J. Berman[1] hat viel Zustimmung zu seiner These erfahren, dass das moderne Recht seinen Anfang mit der Wiederentdeckung der Digesten im Mittelalter genommen habe.

IV.  Die Fortentwicklung der Theorie durch Gunther Teubner

Schriften von Teubner: Reflexives Recht: Entwicklungsmodelle des Rechts in vergleichender Perspektive, ARSP 68, 1982, 13; Substantive and Reflexive Elements in Modern Law. Law and Society Review 17, 1982/1983, 239-286; Recht als autopoietisches System, 1989, 2. Aufl. 1996; Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, Rechtshistorisches Journal 15, 1996, 255-290; Verrechtlichung – ein ultrazyklisches Geschehen, 1997; Nach der Privatisierung? Diskurskonflikte im Privatrecht, Zeitschrift für Rechtssoziologie 19, 1998, 8-36; Eigensinnige Produktionsregimes: Zur Ko-evolution von Wirtschaft und Recht in den varieties of capitalism, Soziale Systeme 5, 1999a, 7-26; Privatregimes: Neo-Spontanes Recht und duale Sozialverfassungen in der Weltgesellschaft?, in: Simon Dieter/Manfred Weiss (Hg.), Zur Autonomie des Individuums, 2000, 437-453; Rechtsirritationen: Zur Koevolution von Rechtsnormen und Produktionsregimes, in: Günter Dux/Franz Welz (Hg.), Moral und Recht im Diskurs der Moderne, 2001, 351-381; Globale Zivilverfassungen: Alternativen zur staatszentrierten Verfassungstheorie, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 63, 2003a, 1-28; Der Umgang mit Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter, in: Christian Joerges/Gunther Teubner (Hg.), Rechtsverfassungsrecht, 2003b, 25-46; Netzwerk als Vertragsverbund, Virtuelle Unternehmen, Franchising, Just-in-time in sozialwissenschaftlicher und juristischer Sicht, 2004; Die anonyme Matrix: Zu Menschenrechtsverletzungen durch »private« transnationale Akteure, Der Staat 44, 2006, 161-187; Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts?, Zeitschrift für Rechtssoziologie 29, 2008, 9-36; Fragmented Foundations: Societal Constitutionalism Beyond the Nation State, in: Petra Dobner/Martin Loughlin (Hg.), The Twilight of Constitutional Law, Oxford 2010a, S. 327-341; ders., Verfassungen ohne Staat? Zur Konstitutionalisierung transnationaler Regimes, in: Klaus Günther/Stefan Kadelbach (Hg.), Recht ohne Staat 2010b, im Erscheinen; Selbst-Konstitutionalisierung transnationaler Unternehmen? Zur Verknüpfung »privater« und »staatlicher« Corporate Codes of Conduct, in: Stefan Grundmann u. a., Unternehmen, Markt und Verantwortung. Festschrift für Klaus Hopt, 2010c, 1449-1470. Für viele weitere Arbeiten sei hier auf die im Internet verfügbare vollständige Publikationsliste verwiesen. Die meisten Arbeiten Teubners sind über seine Webseite im Internet zugänglich. Sie werden hier nach der Internetfassung zitiert.

Schriften von Teubner und Mitautoren: Gunther Teubner/Helmut Willke, Kontext und Autonomie, ZfRSoz 6, 1984, 4-35; Gunther Teubner/Peer Zumbansen, Rechtsentfremdungen: Zum gesellschaftlichen Mehrwert des zwölften Kamels, Zeitschrift für Rechtssoziologie 21, 2000, 189-215; Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Regime-Kollisionen. Zur Fragmentierung des globalen Rechts, 2006; dies., Fragmentierung des Weltrechts: Vernetzung globaler Regimes statt der strukturellen Kopplung der Funktionssysteme, in: Mathias Albert/Rudolf Stichweh (Hg.), Weltstaat und Weltstaatlichkeit, 2007, 37-61.

In der Rechtsoziologie wirkt die Systemtheorie Luhmanns heute in erster Linie durch die Fortentwicklung und die Anwendungen, die maßgeblich Gunther Teubner (geb. 1944) und seine Schüler und Anhänger geprägt haben.

Teubner ist von Hause aus Jurist. Nach Stationen an der Universität Bremen und am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz war er seit 1993 Professor an der renommierten London School of Economics und hatte ab 1998 bis zu seiner Emeritierung 2009 einen Lehrstuhl für Privatrecht und Rechtssoziologie an der Universität Frankfurt a. M. inne. Obwohl er heute wohl eher als Systemtheoretiker wahrgenommen wird, hat er die Verbindung zu konkreten Rechtsfragen und zur großen Rechtstheorie nie verloren. Seinen Weg in die Rechtsoziologie fand er 1972-1974 über einen Studienaufenthalt am Center for the Study of Law and Society der University of California in Berkeley, das damals von seinem Gründer Philip Selznick (1935-2010) und dessen Nachfolger Philippe Nonet geprägt war. Teubner ist einer der ganz wenigen deutschen Rechtssoziologen der Gegenwart, die auch international wahrgenommen werden. Die Grundlage dafür hat er schon 1983 durch einen Aufsatz in der Law and Society Review gelegt. Seine Monographie von 1989 ist in neun Sprachen übersetzt worden. Damit hat er wesentlich zur Verbreitung der Systemtheorie über Deutschland hinaus beigetragen.

Zu den Autoren, die weitgehend im Einklang mit Teubner, aber doch selbständig die Systemtheorie für Rechtsthemen verwenden, zählen Marc Amstutz, Karl-Heinz-Ladeur, Thomas Vesting und Helmut Willke.

Ein großer Wurf gelang Teubner zusammen mit Helmut Willke 1984 mit dem Aufsatz »Kontext und Autonomie« in der Zeitschrift für Rechtsoziologie, in dem die Autoren aus Luhmanns Idee der autopoietischen Geschlossenheit sozialer Systeme die Unfähigkeit der Politik und des Rechts zur (direkten) Steuerung der anderen Funktionssysteme der Gesellschaft, insbesondere der Wirtschaft, ableiteten. Stattdessen verwiesen sie auf die Möglichkeit der »Kontextsteuerung« durch »reflexives Recht« (näher unten § 71). 1989, also noch vor Luhmanns »Recht der Gesellschaft« (1993), arbeitete Teubner seine Vorstellungen von der Systemtheorie als Grundlage der Rechtssoziologie monographisch aus. Darin nahm er den (eher verwirrenden) Begriff des Hyperzyklus[2] auf, mit dem er die Autopoiese des Rechtssystems »gradualisierte« (S. 36 ff.). Autopoiese und Autonomie des Rechtsystems sind danach nicht einfach nur das Ergebnis selbstbezüglicher Verknüpfung von (einfachen) Rechtskommunikationen, sondern die rekursive Verknüpfung von Verknüpfungsergebnissen, wie man sie aus der Begriffsjurisprudenz kennt. Vor allem aber richtete er in dem Buch von 1989 die Systemtheorie auf das Problem der Evolution des Rechts zu (näher unten § 90). Ein häufig wiederkehrendes Thema mit konkretem Rechtsbezug bilden die Zwischenformen zwischen Vertrag und Organisation (Vertragsnetzwerke, Just-in-Time-Lieferung, Franchising). Seit Mitte der 1990er Jahre hat Teubner sich vor allem mit der Globalisierung des Rechts befasst. Erneut gelang ihm ein großer Wurf, indem er das Konzept des Rechtspluralismus systemtheoretisch rekonstruierte und dabei den inzwischen sprichwörtlichen Ausdruck von der »Global Bukowina« prägte (1996), der auf die Grundlegung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich anspielt.

Teubner arbeitet grundsätzlich mit dem Begriffsgerüst Luhmanns (Funktionssysteme, Systemcode, autopoietische Schließung, strukturelle Kopplung), hat sich im Laufe der Zeit jedoch eine eigene Begrifflichkeit geschaffen: Neben den Hyperzyklus tritt später noch der Ultrazyklus. Während der Hyperzyklus sich innerhalb des Systems abspielt, führt der Ultrazyklus in einem Prozess »ökologischer Rekursivität« zu einer Verstetigung von struktureller Kopplung (1997:23ff.). Ökologisch meint in diesem Zusammenhang die Beziehungen der Funktionssysteme zu ihrer Umwelt, die aus den anderen Funktionssystemen un der natürlichen Umwelt (Menschen, Natur) besteht.

»Die für eine rechtsoziologische Betrachtung erforderliche Generalisierung und Respezifizierung ultrazyklischer Beziehungen« hat Teubner so zusammengefasst:

»1) Selbstreproduktive Prozesse im Rechtssystem um in gesellschaftlichen Teilsystem schließen sich über Bindungsinstitutionen zyklisch zu einem von beiden genährten selbstreproduktiven Prozeß zusammen.

2) Der Zusammenschluß wirkt in der Weise wachstumsbeschleunigend, daß das gesellschaftliche Teilsystem Transaktionen produziert, die zugleich autokatalytisch für das eigene Wachstum und fremdkatalytisch für das Wachstum der Rechtsnormenproduktion wirken und umgekehrt.

3) Diese ultrazyklische Bindung von Recht und gesellschaftlichem Teilsystem führt nicht zur Herausbildung eines neuen operativ geschlossenen Systems, sondern beruht auf Trennung und Autonomie der beteiligten Systeme, ja nützt gerade die prinzipielle Verschiedenheit der Systemoperationen (gesellschaftliche Akte und Rechtsakte) für die Fremdkatalyse aus. Deshalb also kein Hyperzyklus im Verhältnis Recht – Gesellschaft, der beide in einem emergenten System der Selbstreproduktion der Komponenten zusammenschlösse, sondern ein Ultrazyklus, der die Grenzen von Recht und gesellschaftlichem Teilsystem respektiert und zugleich überschreitet, eine zirkuläre Förderungsbeziehung zwischen System und Nische, eine Art ökologischer Rekursivität.« (1997:24)

Während diese Formulierung ziemlich ungenießbar wirkt, erscheint das praktische Ergebnis plausibel:

»Verrechtlichung der Gesellschaft bedeutet also immer zugleich Vergesellschaftung des Rechts. Dies ist nicht einfach als ›Wechselwirkung‹ zwischen Recht und gesellschaftlichem Teilsystem zu verstehen, sondern als dynamischer kumulativer Prozess, in dem sich eine ›chain of misreadings‹ (Santos) aufbaut, die beide Systeme in einer merkwürdigen Dynamik der Mißverständnisse vorantreibt. … Die Machtphänomene des Politischen werden in die Sprache des Rechts neu gelesen und in Rechtsphänomene verwandelt und als Rechtswirklichkeiten bearbeitet. In einer zweiten Lektüre werden diese neuen Rechtsphänomene wieder wahrgenommen, aber jetzt als Machtphänomene rekonstruiert und als politische Realitäten prozessiert. Das Recht wiederum liest die repolitisierten Phänomene erneut in der Rechtsprache usw. Es handelt sich also um einen infiniten Prozeß der wechselseitigen Lektüre neuproduzierter Realitäten, die nur gelegentlich auf stabile Attraktoren und Eigenwerte zuläuft. « (1997:24f.)

Aus dem Ultrazyklus der strukturellen Kopplung entwickelt sich ein »Meta-Code«, der sich dem binären Code der Funktionssysteme überordnet. Daraus entsteht dann, was Teubner Konstitutionalisierung nennt. Diesen Begriff haben Teubner und seine Schüler im Rahmen der Globalisierungsthematik entwickelt. Deshalb wird er dort (§ 97 III, 4) etwas näher behandelt.

Zwar behandelt auch Teubner wie Luhmann Systeme als Kommunikationssysteme. Doch während Luhmann die Kommunikation eher mediensoziologisch verstand, macht Teubner Anleihen bei der Sprach- und Kulturphilosophie von Derrida und Lyotard. So werden aus den Systemen »hermetisch geschlossene Diskurse«. Im Verhältnis der Systeme untereinander entstehen »einander feindliche Sprachspiele, die sich gegenseitig Gewalt antun«, und aus der strukturellen Kopplung wird »Intertexturalität«. Alles zusammen bekommt die Überschrift »Polykontexturalität«. Später[3] kommt noch die »Metapher der anonymen Matrix« hinzu. Teilweise findet »Matrix« als Synonym für »System« Verwendung, teilweise bezeichnet die »anonyme Matrix« unbenannte Eigenschaften geschlossener Systeme und öfter geht es um die »anaynymme Matrix eines verselbständigten Kommunikativen Mediums«.

Ergebnis der autopoietisch herbeigeführten operativen Schließung der Systeme ist deren »Eigenlogik«. Aber über eine Eigenlogik und die draus folgende »Rationalität« verfügen nicht nur die Funktionssysteme der Gesellschaft, sondern: »Jeder gesellschaftliche Handlungsbereich entwickelt seine eigenwillige formale Rationalität, die sich in einem unauflöslichen Konflikt mit den Rationalitäten anderer Bereiche befindet.« (2003a:5) Dieser Konflikt entsteht freilich erst dadurch, dass die sozialen Funktionssysteme als expansiv vorgestellt werden: Politik will alles politisieren, die Wirtschaft alles ökonomisieren, das Recht beides verrechtlichen usw. (1997:14, 25).

Teubners Arbeiten sind gedankenreich, materialreich und differenziert. Auch nach Abzug der systemtheoretischen Einkleidung bieten sie immer wieder interessante Beobachtungen und neue Sichtweisen. Der systemtheoretische Sprachstil verdunkelt jedoch die Zusammenhänge eher als sie zu erhellen. Daraus wachsen gelegentlich Blüten, die als Zitat ohne Kontext für eine Satire gut sind. Das hat auch damit zu tun, dass Teubner, stärker noch als Luhmann, das Phänomen der Selbstreferenz und daraus vermeintlich folgende Paradoxien betont. Auch der ominöse re-entry von Unterscheidungen taucht immer wieder auf. Nicht wenige finden an den elaborierten Figuren der Systemtheorie um ihrer selbst willen Gefallen. Insofern kann man von einem Eigenwert der Systemtheorie sprechen.

Zusatzannahmen zur »klassischen« Systemtheorie Luhmanns, vor allem die Betonung von Meta-Codes der strukturellen Kopplung (2010b) erwecken den Eindruck, dass die Systemtheorie an Grenzen stößt. Eine Grenze besteht darin, dass sie nur schwer mit Subsystemen umgehen kann, weil diese über keinen deutlichen Systemcode verfügen, der ihre Identität verbürgt. Daher tauchen unterhalb der großen Funktionssysteme der Gesellschaft Einheiten auf, die nur unzulänglich in die Systemtheorie eingebaut werden. Dabei geht es um Regimes, Netzwerke, Diskurse oder »Projekte«. Der Systemstatus dieser Einheiten bleibt ungeklärt.

Den jüngeren Arbeiten Teubner wird man nur gerecht, wenn man sie nicht mehr der Rechtssoziologie zuordnet, sondern als soziologische Jurisprudenz versteht, die darum bemüht ist, Grund- und Menschenrechte und Gemeinwohlvorstellungen in einem staatsunabhängigen globalisierten Weltrecht zu verankern. Der normative Ansatz besteht in einer Verallgemeinerung kollisionsrechtlichen Denkens. Dazu setzt Teubner die (verbreitete) Forderung nach der Schaffung gesellschaftsadäquater Rechtsbegriffe kurzschlüssig um, indem er auf systemtheoretische Begriffe zurückgreift. Expansive Systeme, geschlossene Diskurse und anonyme Matrizen gefährden die Integrität von Psyche, Körperlichkeit und natürlicher Umwelt. Abhilfe erwartet Teubner von der »immensen Zunahme wechselseitiger Irritabilität« durch multiple strukturelle Kopplungen, aus denen staatsfreie Zivilverfassungen hervorgehen sollen.

 



[1] Vgl. Thomas Vesting, Harold J. Berman (1918-2007), Ancilla Juris 2008.

[2] Ausführlich hatte Teubner diesen Begriff bereits 1987 begründet: Hyperzyklus in Recht und Organisation. Zum Verhältnis von Selbstbeobachtung, Selbstkonstitution und Autopoiese, in: Hans Haferkamp/Michael Schmid (Hg.), Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung, 1987, 89-128.

[3] Gunther Teubner, Die anonyme Matrix: Zu Menschenrechtsverletzungen durch „private“ transnationale Akteure, Der Staat 44, 2006, 161-187. Eine nähere Erläuterung, was der Begriff besagen soll, habe ich nicht gefunden. Anscheinend geht es einfach nur um stark verfestigte soziale Strukturen. In diesem Sinne ist etwa bei Judith Butler (Körper von Gewicht, 1997, 36) die Rede von der »heterosexuellen Matrix«.

[Stand deer Bearbeitung Januar 2011]