§ 89 Struktur- und Entwicklungstheorien

Literatur: Gert Albert, Soziologie mittlerer Reichweite. Die methodologischen Konzeptionen Robert K. Mertons und Max Webers im Vergleich, in: Steffen Sigmund u. a. (Hg.), Soziale Konstellation und historische Perspektive, Festschrift Lepsius, 2008, 455-467; Jean Carbonnier, Die großen Hypothesen der theoretischen Rechtssoziologie, KZfSS Sonderheft 11, 1967, 135-150; Auguste Aomte, Plan der wissenschaftlichen Arbeiten, die für eine Reform der Gesellschaft notwendig sind, 173 [1822], Rolf Grawert, Ideengeschichtlicher Rückblick auf Evolutionskonzepte der Rechtsentwicklung, Der Staat 22, 1983, 63-82; Merton, On Sociological Theories of the Middle Range, in: ders., Social Theory and Social Structure, 3. Aufl. 1968 S. 39-72; Raimund Popper, Das Elend des Historizismus, 4. Aufl. 1974; Hubert Rottleuthner, Theories of Legal Evolution: Between Empiricism and Philosophy of History, Rechtstheorie Beiheft 9, 1986, 217-230; Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes: Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Bd. I: Gestalt und Wirklichkeit, 1918, Bd. II: Welthistorische Perspektiven, 1922; Peter Stein, Legal Evolution, 1980; Nassim Nicholas Taleb, Der schwarze Schwan. Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse, 2008 (The Black Swan: The Impact of the Highly Improbable, 2007); Csaba Varga, Macrosociological Theories of Law, Rechtstheorie Beiheft 9, 1986, 197-215; Harald Welzer, Ratlos in die Zukunft, Spektrum der Wissenschaft, 11/2008, 139-143; Herbert Zemen, Evolution des Rechts, 1983

I. Hypothesen verschiedener Reichweite

In der Soziologie unterscheidet man nach dem Vorschlag von Robert K. Merton drei Arten von Theorien oder Hypothesen:

  • Großtheorien
  • Theorien mittlerer Reichweite
  • mikrosoziologische Theorien.

Unterscheidungskriterium ist die Reichweite der Theorien, die sich von Individuen und Kleingruppen bis zur Gesamtgesellschaft erstrecken kann. Dabei ist die Unterscheidung zwischen den drei Gruppen alles andere als scharf.

Empirische Sozialforschung bezieht ihre Daten überwiegend aus der Beobachtung von Individuen und Kleingruppen. Die Daten werden in der Regel auch nur in Theorien von geringer Reichweite integriert. Ein Beispiel aus der Rechtssoziologie wäre etwa die Annahme:

  • Zivilprozesse werden überwiegend vom Kläger gewonnen.

Auch Zusatzannahmen, die aus dieser deskriptiven Theorie eine kausale machen, bleiben im Bereich von Mikrotheorien, z. B.:

  • Der Kläger gewinnt häufiger, weil er häufiger im Recht ist.
  • Der Kläger gewinnt, weil regelmäßig ein soziales Gefälle zum Beklagten besteht.
  • Der Kläger gewinnt, weil es größere Aufwendungen erfordert, aktiv zu klagen, als sich passiv verklagen zu lassen, und weil er deshalb nachhaltiger und erfolgreicher selektiert.

Als Beispiel einer Theorie mittlerer Reichweite nennt Merton die Rollen- und die Bezugsgruppentheorie, aber auch Max Webers berühmte These, nach welcher der westliche Kapitalismus ein Produkt calvinistisch-protestantischer Ethik ist. Ein anderes Beispiel wäre die verbreitete Annahme, dass soziale Überlegenheit ihre Fortsetzung auch im Rechtsbereich finde, dass soziale Macht regelmäßig auch Rechtsmacht sei usw.

Große Theorien machen Aussagen über die Gesamtgesellschaft. Eine große Theorie ist die marxistische, die die soziale Entwicklung insgesamt als eine Abfolge von Klassenkämpfen deutet und dem Recht einen ziemlich bedeutungslosen Platz im ideologischen Überbau der Produktionsverhältnisse zuweist (§ 2, 4).

Konkrete Beispiele aus der empirischen Forschung, die aus Mertons Befassung mit der Wirkung von Massenmedien stammen – u.a. seine Monographie »Mass Persuasion« — sollen diese theoretischen und methodologischen Erörterungen verdeutlichen. In der Auseinandersetzung mit allgemeinen Theorien menschlichen Handelns entwickelte Merton eine tiefgehende Skepsis gegenüber ›grand theories‹. Auf dem gegenwärtigen Stand der Entwicklung der Soziologie hält er sie einfach für unangemessen und ›premature‹. Theorien mittlerer Reichweite sind häufig missverstanden worden und haben zu der Fehlentwicklung der speziellen Soziologien zu sogenannten Bindestrichsoziologien beigetragen. Sie stellen aber, richtig verstanden, in der gleichen Weise analytische Theorien dar wie allgemeine Theorien, ihr Geltungsbereich ist aber von vornherein in mehreren Hinsichten begrenzt und Generalisierungen über diesen Bereich hinaus sind wissenschaftlich nicht gesichert. Dieser Ansatz hat Rückwirkungen auch auf die Begriffsbildung, da allgemeine Begriffe als inhaltsleere Konstrukte vermieden und Aussagen nur für begrenzte gesellschaftliche Kontexte angestrebt werden.

Die Beispiele zeigen, dass die Theorien mit der Zunahme ihrer Reichweite immer allgemeiner werden. Je allgemeiner eine Theorie, desto schwerer ist es anzugeben, wie sie durch empirische Sozialforschung bewiesen oder widerlegt werden könnte, denn es werden immer mehr Operationalisierungsschritte notwendig, um beobachtungsfähige Variablen zu bestimmen. Merton meinte daher, die Soziologie solle sich auf Theorien mittlerer Reichweite konzentrieren.

Große Theorien bewegen sich weitgehend im Bereich der Spekulation. Oft kann man nur noch schwer zwischen Philosophie und Soziologie unterscheiden. Dafür ist die marxistische Theorie wieder ein gutes Beispiel. Um anzudeuten, dass Großtheorien letztlich nicht bewiesen werden können, spricht man besser statt von Theorien von bloßen Hypothesen, obwohl auch diese Sprachregelung nicht ganz befriedigend ist, weil man unter Hypothesen in der Regel den Entwurf prüfbarer Theorien versteht.

So schwierig es ist, fundierte Aussagen von der Art großer Hypothesen empirisch zu begründen, so reizvoll ist es andererseits, mit solchen Hypothesen zu operieren. Jeder möchte gern eine Gesamtvorstellung von der Entwicklung der Welt und der menschlichen Gesellschaft gewinnen. Er möchte »seinen Standort bestimmen« und »wissen, wohin die Reise geht«. So haben die meisten Menschen bewusst oder unbewusst ihre eigene Großtheorie von der Gesellschaft.

Auch in den Sozialwissenschaften sind eine Reihe großer Hypothesen entwickelt worden. Da das Recht ein wesentlicher Bestandteil der Gesellschaft ist, machen auch fast alle Großtheorien der Gesellschaft Aussagen über das Recht. Die Evolution von Staat und Recht ist seit Plato, Aristoteles und Polybios ein klassisches Thema der Rechtsphilosophie. Die Gründerväter der Soziologie, die noch an dem intellektuellen Klima des 19. Jahrhunderts Teil hatten, das durch die darwinistische Evolutionstheorie geprägt war, haben fast jeder eine eigene Theorie dieser Art entwickelt. Das gilt für Marx und Comte ebenso wie für Weber und Durkheim. Mit dem ersten Weltkrieg trat die Suche nach universalen Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft, und mit ihnen nach universalen Entwicklungsprinzipien des Rechts, in den Hintergrund. Im Zuge der Globalisierung ist das Interesse an den Entwicklungsgesetzen des Rechts jedoch neu erwacht.

Mit ihren großen Hypothesen sind die Gesellschaftswissenschaften nicht sehr erfolgreich (Welzer). Nie zuvor hat es eine so dichte Abfolge gesellschaftlicher Umbrüche gegeben wie im 20. Jahrhundert, und im 21. Jahrhundert scheint die Reihe sich fortzusetzen: Weltkrieg I, russische Revolution 1917, der demokratische Anlauf der Weimarer Republik und ihr scheitern, Weltwirtschaftskrise, nationalsozialistische Machtergreifung, Weltkrieg II, Auflösung der Kolonialreiche, »Kulturrevolution« in China, Revolutionen in Südamerika, Kalter Krieg, Globalisierung, Aufschwung der Tigerstaaten, Kollaps des sozialistischen Lagers, Zerfall auf dem Balkan, Afghanistankriege, Taliban, Al Qaida und 9/11, Weltfinanz- und Wirtschaftskrise 2008, »Islamischer Staat«, Renaissance populistisch-nationalistischer Strömungen und drohende Klimakatastrophe. Erstaunlich ist das rasante Tempo, mit dem sich viele dieser Prozesse entwickelt haben. Nur etwa die Hälfte von ihnen wurde durch geplante Revolutionen eingeleitet oder befördert. In den anderen Fällen gewannen von keiner Seite irgendwie geplante Veränderungsprozesse plötzlich eine Eigendynamik, die sich nicht mehr aufhalten ließ. Anscheinend können aber auch eher unscheinbare und zufällige Ereignisse ungeahnte Wirkungen entfalten. Obwohl alle genannten Entwicklungen sich plötzlich und scheinbar überraschend einstellten, sind doch stets technische und soziale Entwicklungen vorausgegangen, deren Relevanz nicht wahrgenommen wurde. Im Nachhinein gibt es stets Erklärungen, die den Ablauf als mehr oder weniger logisch oder zwangsläufig erscheinen lassen. Im Voraus hat man sie nicht erkannt, weil man darauf vertraut, dass sich die Zukunft mit Daten aus der Vergangenheit vorhersagen lasse. Die Geschichten und Theorien, die zur Erklärung der Vergangenheit dienen, schaffen die Illusion, man könne verstehen, was in der Welt vor sich geht, aber sie verstellen den Blick auf das Unbekannte und den unstrukturierten Zufall (Taleb). Und dennoch: Es bleibt gar keine Wahl, als sich Theorien über den Lauf der Dinge zu machen. Das Unvorhersehbare lässt sich nicht vorhersehen. Man kann sich nur durch ein gewisses Risikomanagement beruhigen.

II. Struktur- und Entwicklungshypothesen

Bei großen Hypothesen denkt man in erster Linie an die Entwicklungstheorien des Rechts. Sie sind die interessanteren, denn sie versuchen in der Regel, nicht nur die Vergangenheit zu erklären, sondern auch eine Prognose für Zukunft zu bieten. Als Beispiel sei noch einmal die marxistische Theorie genannt, die den Fortgang der gesellschaftlichen Entwicklung in aufeinanderfolgenden Stadien beschreibt. Neben den Entwicklungstheorien gibt es aber auch große Strukturhypothesen, die allgemeine Aussagen über das Verhältnis des Rechts zu anderen Teilsystemen der Gesellschaft machen. Sie verdienen nicht weniger Aufmerksamkeit. Die wichtigste Strukturhypothese ist die allgemeine Entwicklungshypothese. Das klingt paradox, ist es aber gar nicht, denn diese These besagt nur, dass das Recht nicht statisch, sondern immer in Bewegung ist, nicht aber, in welche Richtung es sich entwickelt. Daneben gibt es eine Reihe speziellerer Strukturhypothesen, insbesondere die von der notwendigen Ineffektivität des Rechts und vom cultural lag. Auch die Aussagen über die Funktionen des Rechts in der Gesellschaft kann man als Strukturhypothesen einordnen.

III. Universale Gesetze oder bloße Trends?

Ob und wieweit es sich bei den hier so genannten großen Hypothesen überhaupt um Hypothesen im Sinne von Theorieentwürfen, d. h. um verallgemeinerungsfähige Gesetzmäßigkeiten handelt oder um bloße Trendbeschreibungen, die nur für eine bestimmte historische Epoche gelten, ist ein schwieriges wissenschaftstheoretisches Problem. Mit ihm hat sich besonders der Physiker und Wissenschaftstheoretiker Karl R. Popper in seinem Buch »Das Elend des Historizismus« auseinandergesetzt.

Als Historizismus bezeichnet Popper eine von ihm bekämpfte Richtung der Sozialwissenschaften, die dadurch gekennzeichnet sein soll, dass sie nach langfristigen oder Großprognosen Ausschau hält. Er meint, diese Richtung sei durch den Erfolg der Theorie Newtons stark beeindruckt, besonders von deren Fähigkeit, die Stellung der Planeten weit in die Zukunft vorauszusagen, und strebe daher dasselbe hohe Ziel an nach dem Motto: Wenn es der Astronomie möglich ist, Sonnenfinsternisse zu prognostizieren, warum sollte es der Soziologie nicht möglich sein, Revolutionen vorherzusagen? (S.30). Im Unterschied zu den Naturwissenschaften lehnen aber die von Popper so genannten Historizisten experimentelle Methoden und Verallgemeinerungen ab. Sie suchen vielmehr nach besonderen historischen Gesetzen, welche die aufeinanderfolgenden Epochen der Geschichte miteinander verbinden.

Popper unterscheidet sodann zwischen technologischen Prognosen und Prophezeiungen. Prophezeiungen nennt er Vorhersagen von Entwicklungen, die schicksalhaft über die Welt kommen sollen, wie der Lauf der Sterne oder nach der Vorstellung der Zeugen Jehovas der letzte Tag. Technologische Prognosen dagegen geben an, welche Maßnahmen wir ergreifen müssen, um bestimmte Erfolge zu erzielen. Dieser Unterschied ist natürlich relativ vom Stand von Wissenschaft und Technik abhängig. Die Meteorologie beschert uns bis heute nur Wetterprognosen, die wir wie Prophezeiungen geschehen lassen müssen. Aber vielleicht wird sie eines Tages auch angeben, wie man das Wetter machen kann. Karl Marx hat den prophetischen Charakterzug seiner Theorie im Vorwort zum »Kapital« – nicht ohne Ambivalenz – so formuliert:

»Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist …, kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern.«

Popper meint, dass ein historisches Entwicklungsgesetz, selbst wenn es ein solches geben sollte, nicht bewiesen werden könnte, weil man keine Chancen habe, damit zu experimentieren und wiederholte Beobachtungen anzustellen, um es zu überprüfen. Das Problem liegt darin, dass man fast von jeder Theorie sagen kann, dass sie mit vielen Tatsachen übereinstimmt. Als bewiesen oder bescheidener, als bewährt, kann man eine Theorie aber nur dann bezeichnen, wenn sich keine Tatsachen auffinden lassen, die sie widerlegen. Theorien, die sich mit der menschlichen Gesellschaft befassen, sind stets nur probabilistischer Art. Wenn ein Kriminologe etwa ein »Gesetz« formuliert, nach dem unter bestimmten Voraussetzungen ein einmal wegen einer Straftat Verurteilter rückfällig wird, so gilt dieses nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit. Einzelne Verurteilte, die nach diesem »Gesetz« rückfällig werden sollen, können sich durchaus straffrei halten. Es sind wiederholte Beobachtungen und statistische Verfahren notwendig, um die Theorie zu bestätigen oder zu widerlegen. Solche Verfahren lassen sich auf einmalige Vorgänge nicht anwenden.

Gegen diesen Einwand könnte man die sogenannten Zyklustheorien ins Feld führen. Sie bestreiten, dass die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft einmalig sei und greifen den alten Gedanken auf, dass der Lebenszyklus von Geburt, Kindheit und Tod oder der Kreislauf der Jahreszeiten auch auf die Entwicklung von Gesellschaften oder der Gesellschaft schlechthin übertragen werden könne. Die bekannteste Theorie dieser Art aus neuer Zeit hat Oswald Spengler in seinem Buch »Der Untergang des Abendlandes« entwickelt. Da uns solche Zyklustheorien als große Hypothesen der Rechtssoziologie nicht begegnen, brauchen wir uns mit ihnen hier nicht weiter auseinanderzusetzen.

Eingehen müssen wir aber auf die Behauptung, dass ein Entwicklungsprozess, selbst wenn er einzigartig sein sollte, an einem Trend, einer Tendenz oder einer Richtung zu erkennen sei, über die sich Hypothesen formulieren lassen, die an der zukünftigen Erfahrung überprüfbar sind.

Popper bestreitet nicht, dass sich solche Trends beschreiben lassen. Er macht aber geltend, dass Trends keine Gesetze sind. Der Unterschied ist folgender: Ein Gesetz ist ein sog. All-Satz. Es besagt, dass unter den Randbedingungen, die das Gesetz beschreibt, in jedem Falle eine bestimmte Folge eintritt. Ein Satz, der die Existenz eines Trends behauptet, ist dagegen ein Es-gibt-Satz. Er besagt, dass zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort eine Beobachtung gemacht werden kann, enthält also kein universales Gesetz. Das bedeutet praktisch, dass man die Existenz von Trends nicht zur Grundlage wissenschaftlicher Prognosen machen kann. Ein Trend kann sich in jedem Augenblick umkehren. Als Beispiel nennt Popper das Jahrhunderte anhaltende Bevölkerungswachstum, das jedenfalls in den westlichen Industrienationen plötzlich beendet zu sein scheint.

Trends gibt es also wirklich. Doch ihr Andauern hängt vom Andauern bestimmter Randbedingungen ab (Popper, S. 100). Das Problem besteht darin, die Bedingungen anzugeben, unter denen der Trend sich fortsetzt. Praktisch läßt sich das nur bewerkstelligen, indem man umgekehrt versucht, sich Bedingungen vorzustellen, unter denen der betreffende Trend verschwinden würde. Vor allem gegen Marx gerichtet meint Popper, das Elend des Historizismus sei das Elend der Phantasielosigkeit. Der Historizist glaube fest an seinen Lieblingstrend, etwa einen Trend zur »Akkumulation der Produktionsmittel«, und versäume darüber, nach den Bedingungen zu suchen, von denen dieser Trend abhängig sei. Vor allem aber, so lautet Poppers Argument, könnten diese Bedingungen durch menschliche Erfindungen verändert werden, die schlechthin nicht vorhersehbar seien.

Prognosen von Sachverständigen, wie sie die Rechtspolitik bestellt, etwa über die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, über die Entwicklung von Bevölkerungszahlen, Arbeitslosigkeit, Energieverbrauch, Gesundheitsfragen usw. zeigen noch ein anderes Problem, dass als »Strukturbruch« bekannt ist. Gemeint ist der Eintritt unvorhergesehener und wohl auch unvorhersehbarer Großereignisse wie Revolution und Krieg, reale und politische Erdbeben, Klimawandel, neue Krankheiten wie Aids oder die Vogelgrippe oder Finanzkrisen. Prognosemodelle beruhen auf Wahrscheinlichkeitsrechnungen. Ihre Erklärungskraft wächst mit der Länge der Vergleichszeiträume. Es scheint, als ob mit der Modernisierung und der daraus folgenden Verdichtung der Gesellschaft auch die Zahl der Strukturbrücke zunimmt mit der Folge, dass die Vergleichszeiträume kürzer werden.

Tatsächlich bieten alle großen Hypothesen der Rechtssoziologie kaum mehr als Trendbeschreibungen im Sinne Poppers. Etwas anderes gilt allenfalls für die Strukturhypothesen. Sie lassen sich möglicherweise als universale Gesetze verstehen und formulieren. Wir wollen uns durch wissenschaftstheoretische Skrupel jedoch nicht davon abhalten lassen, die in der Rechtssoziologie diskutierten großen Hypothesen zur Kenntnis zu nehmen. Wir müssen nur wissen, dass wir uns auf ebenso ungesichertem Boden bewegen wie der Börsenspekulant, der seine Geschäfte auf Trendkurven gründet.

IV. Entwicklungstheorien, Evolution, Evolutionismus und Sozialdarwinismus

Literatur: Naomi Beck, Social Darwinism, Max Planck Institute of Economics; Jena, Papers on Economics and Evolution Nr. 1215, 2012; Gunther Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989.

Die biologische Evolutionstheorie (§ 90 III) geht davon aus, dass die Entwicklung des Lebens zwar nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten abläuft, aber nicht auf ein Ziel zusteuert und deshalb nicht als Fortschritt oder Vervollkommnung interpretiert werden darf. Die Evolution ist blind. Sie kennt keine Richtung. Alle Veränderungen beruhen letztlich auf Zufall. Daher lassen sich mit ihrer Hilfe auch keine Prognosen erstellen. Viele soziologische Theorien behaupten dagegen für die Entwicklung der Gesellschaft eine Entwicklungslogik oder Gerichtetheit, organisches Wachstum oder Fortschritt im Sinne zunehmender Differenzierung und Komplexität. Solche Theorien, die ein bestimmtes Entwicklungsmuster verfolgen, werden hier im Gegensatz zu anderen, die sich an die biologische Evolutionstheorie anlehnen, Entwicklungstheorien genannt. Entwicklungstheorien in diesem Sinne sind Max Webers Theorie der Rechtsentwicklung, die vom traditionalen zum rationalen Recht führt, oder Luhmanns These von der Ausdifferenzierung der Gesellschaft in immer neue soziale Systeme und damit verbunden einer immensen Steigerung ihrer Komplexität.

Entwicklungstheorien haben das Problem, dass sie dazu neigen, die langfristige Wandlungen von Natur und Gesellschaft nicht bloß zu beschreiben, sondern sie implizit oder explizit zu bewerten, meistens als Fortschritt, gelegentlich aber auch als Verfall. Berühmt und berüchtigt ist der sog. Sozialdarwinismus, der die Ideen Darwins mit einer Fortschrittsidee verbindet. Er wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts populär und diente im 20. Jahrhundert zur Rechtfertigung von Rassenpolitik und Eugenik. Der wichtigste Autor war Herbert Spencer (1820-1903). Sein umfangreiches Werk kreist um die Idee einer Evolution der Gesellschaft. Ausgangspunkt ist die These, dass sich die Gesellschaft und ihre Kultur in einem langen und kontinuierlichen Prozess ohne göttliche Lenkung, also selbsttätig, in einer Weise entwickeln, dass aus Einfacherem etwas Differenzierteres und Komplexeres entsteht. Er sprach als erster vom survival of the fittest, ein Ausdruck, den Darwin bald übernahm. Die Übertragung dieses Gesichtspunktes auf die Gesellschaft scheitert nicht schon an dem Missverständnis, der dem Sozialdarwinismus zugrunde liegt. Es entsteht, wenn man Anpassung und Fitness als Fortschritt oder Vervollkommnung versteht. Biologisch gesehen ist Fitness relativ, nämlich bezogen auf die aktuellen Lebensumstände. Fitness kann daher auch Vereinfachung, Vergröberung, oder Rückschritt (Regression) bedeuten. Selektion ist für die Biologie schlicht eine Frage des Ergebnisses. Wer sich fortpflanzt, ist der Selektion nicht zum Opfer gefallen. Für die Gesellschaft können wir uns schwer von der Vorstellung frei machen, dass Anpassung und Selektion nicht ganz mechanisch erfolgen. Teubner (S. 68) hält es sogar für »offenkundig …, dass evolvierende Systeme wie das Recht über höhere Autonomie im Evolutionsprozeß verfügen«.