§ 17 Die Methode der Jurisprudenz

Literatur: Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978; Karl Engisch, Einführung in das juristische Denken, 8. Aufl. 1983; Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Auf. 2007.

I. Empirische Erklärungsprobleme in der Jurisprudenz

Rechtssoziologie ist eine empirische Wissenschaft. An dieser Stelle geht es nur darum festzuhalten, dass die Jurisprudenz keine empirische Wissenschaft ist, mag sie auch erhebliche empirische Anteile haben.

Auch im Bereich des Rechts gibt es Beschreibungs- und Erklärungsprobleme, die im Prinzip nach einer empirischen Antwort verlangen. Sie stellen sich auf ganz verschiedenen Ebenen.

Am übersichtlichsten ist die Ebene des Beweises im Prozeß. Wird z. B. der Beklagte als nichtehelicher Vater des klagenden Kindes in Anspruch genommen, so läßt sich mit Hilfe von Gesetzen über die Verteilung von Blutgruppenmerkmalen bei Eltern und Kindern regelmäßig eine Klärung der Vaterschaft herbeiführen. Soll ein Strafgefangener auf Bewährung entlassen werden, dann ist eine Prognose erforderlich, ob der Gefangene sich künftig straffrei führen wird. Prognosen ergeben sich durch eine bloße (tautologische) Umformung des HO-Schemas. In diesem Falle könnte man also wieder das Glueck’sche Gesetz über die Entstehung der Straffälligkeit heranziehen, das in besonderem Maße zur Erklärung von Rückfallkriminalität geeignet erscheint (wenn es als solches – was die moderne Kriminologie bezweifelt – auch gültig ist).

Auch der Rechtsanwalt steht regelmäßig vor einem Prognoseproblem. Er muß für seinen Mandanten eine Aussage darüber machen, wie das Gericht voraussichtlich entscheiden wird. In der Regel wird der Anwalt, jedenfalls in unserem Rechtssystem, die Theorie zugrunde legen, dass das Gericht nach vorhandenen Rechtsgesetzen und Präjudizien entscheiden werde. Gelegentlich wird er auch andere Annahmen machen, etwa die, dass ein Richter in einem sonst schwierigen und langwierigen Prozeß geneigt sein könnte auf einen Vergleich zu drängen oder die zweifelhafte Frage der Verjährung zu bejahen, weil er sich damit Arbeit ersparen kann. Vor gleichartigen Fragen steht der Gesetzgeber. Er muss nach Theorien suchen, die ihm erklären, worauf die lange Dauer der Zivilprozesse beruht oder wodurch Straßenverkehrsunfälle zustande kommen, um mit Hilfe dieser (sozialen oder technischen) Gesetzmäßigkeiten Mittel zur Änderung des unerwünschten Zustandes durch (Rechts-)Gesetze zu finden.

Aber solche Fragen stehen nicht eigentlich im Mittelpunkt der Rechtswissenschaft. Im Vordergrund steht die Frage: Was ist zu tun? Wie soll (vom Richter) dieser Fall oder (vom Gesetzgeber) diese Gruppe von Fällen behandelt werden? Antwort auf solche Fragen geben Werte und Normen des Rechts und der Moral.

II. Werte und Normen als Tatsachen

Werte und Normen lassen sich wie alle anderen Dinge der Umwelt beobachten, beschreiben, erklären. Ein Rechtsgesetz wird von einer Parlamentsmehrheit beschlossen und im Bundesgesetzblatt abgedruckt. Es ist dann eine Tatsache, dass ein Gesetz mit diesem Wortlaut existiert und dass es im Bundesgesetzblatt verkündet worden ist. Die Beobachtung dieser Tatsache ist in der Regel unproblematisch, man schlägt einfach das Gesetzblatt auf. Auch in Lehre und Rechtsprechung kann man oft eine herrschende Meinung zu bestimmten Fragen als Tatsache feststellen[1].

»Herrschende Meinung« ist eine in der juristischen Literatur und Rechtsprechung überwiegend vertretene Auffassung zu einem Rechtsproblem, die durch ihre Verbreitung zum eigenständigen Entscheidungsgrund wird. Wann eine Meinung in diesem Sinne »herrschend« ist, wird dabei nur intuitiv festgestellt. Auf wessen Meinung es also ankommt und welche Mehrheiten erforderlich sind, bleibt offen und wird schon gar nicht gezählt. Die Frage, wie »herrschende« Meinungen entstehen, welche Autoren zur Kenntnis genommen werden, welche Rolle Verlage und Zeitschriften spielen, welche personellen und wirtschaftlichen Verflechtungen dabei mitwirken, liegt auf der Hand. Antworten gibt es bisher kaum. Immerhin haben verschiedene Untersuchungen für einige Bereiche, die entweder besonders ideologieanfällig sind oder die es mit starken organisierten Interessengruppen zu tun haben, mächtige Meinungs- und Zitierkartelle aufgezeigt.[2] Einiges Aufsehen hat 2009 ein Urteil des OLG Naumburg[3] erregt, mit dem zwei Rechtsanwälte erfolgreich das Honorar für einen Aufsatz[4] einklagten, den sie auf Bestellung einer Beratungsfirma verfasst und veröffentlicht hatten.

Normen und Wertvorstellungen lassen sich nicht nur beschreiben, sondern, jedenfalls im Prinzip, auch kausal erklären. Wenn ein Gesetz im Parlament verabschiedet worden ist, kann man fragen, warum es zustande kam, und erhält vielleicht die Antwort, dass bestimmte Parteien und hinter ihnen stehende Interessengruppen das Gesetz gewünscht haben. Diese Wünsche kann man noch weiter auf ökonomische und soziale Bedingungen zurückzuführen versuchen. Wenn ein Gericht entschieden hat, läßt sich das Urteil vielleicht mit der sozialen Herkunft oder der politischen Einstellung der Richter erklären (vgl. §·41).

Tatsache ist zunächst, dass ein bestimmter Normabsender, der parlamentarische Gesetzgeber, eine Erklärung abgegeben hat. Sieht man auf den Inhalt dieser Erklärung, so scheint sie eine ganz ähnliche Struktur zu haben wie die Allsätze der empirischen Wissenschaft. Nicht ohne Grund bezeichnet man Aussagen der empirischen Wissenschaft ebenso wie Aussagen des Gesetzgebers als Gesetz. Ähnlich wie ein empirisches Gesetz sagt ein Rechtsgesetz: Immer wenn bestimmte Randbedingungen gegeben sind, oder, juristisch gesprochen, wenn ein bestimmter Tatbestand T erfüllt ist, soll die Rechtsfolge R eintreten. Die Rechtsfolge nimmt die Stelle des Explanandums im HO-Schema ein. Der Unterschied liegt im Grunde nur in der Kopula soll, wie sie in Rechtsgesetzen implizit oder ausdrücklich verwendet und hinter der sich ein Imperativ des Gesetzgebers zu verbergen scheint.

III. Normenlogik

Wenn eine Norm vorhanden ist, dann lässt sich daraus auch, jedenfalls im Prinzip, logisch eine Entscheidung ableiten. Gewöhnlich wird diese Gedankenoperation Justizsyllogismus genannt und folgendermaßen dargestellt

T →
S ═ T
S → R

Ein Beispiel:

(1) Ein lediger Bürger mit einem Jahreseinkommen von 100·00 EUR soll 56·000 EUR Steuern zahlen.
(2a) B hat ein Jahreseinkommen von 100·000 EUR
(2b)  B ist ein lediger Bürger.
(3)  B soll 56·000 EUR Steuern zahlen.

Man kann also mit Normen empirisch und logisch umgehen: Man kann feststellen, dass es Normen gibt, d. h. man kann das positive Recht ermitteln, und mit gegebenen oder gedachten Normen logisch operieren. Wenn etwa die Frage zu beantworten ist, wie schnell man in einer geschlossenen Ortschaft mit dem Auto fahren darf, blickt man in die StVO. Dort lässt sich §·3 Abs. 3 Nr. 1 entnehmen, dass die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit 50·km/h beträgt. Natürlich kann man dann weiter fragen: Warum gilt die StVO? Die StVO verweist auf §·6 StVG. Dort findet sich eine Ermächtigung für den Bundesverkehrsminister mit Zustimmung des Bundesrats eine Verordnung zu erlassen. Die weitere Frage ist dann: Warum ist das Straßenverkehrsgesetz maßgeblich: Die Antwort findet sich in Art. 74 Nr. 22 GG, der dem Bund die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit für den Straßenverkehr einräumt. Man kann noch einmal weiter fragen: Warum sollen wir überhaupt einem Gesetz gehorchen? In Art. 2 Abs. 2 GG finden wir: »Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden«. Letztlich gelangt man so zu der Frage: Warum gilt die Verfassung? Darauf läßt sich nicht mehr ohne weiteres mit einem Regress auf eine höherrangige Norm antworten, es sei denn, man bedient sich der von dem Rechtsphilosophen Hans Kelsen eingeführten sogenannten Grundnorm. Diese Grundnorm ist aber nicht etwas, das tatsächlich existiert, sondern lediglich ein Kunstgriff, um das Gesamtsystem des Rechts durchgehend als ein normatives Gebilde deuten zu können. Wir werden stattdessen an dieser Stelle ganz bewusst den zwar logisch nicht begründbaren, aber praktisch sinnvollen Schluss vom Sein auf das Sollen ziehen, indem wir im Sinne der sog. Anerkennungstheorie sagen: Die Verfassung gilt, weil sie allgemein anerkannt ist.

IV. Grenzen von Empirie und Normenlogik

Die angeführten Beispiele, das Steuerbeispiel und das Beispiel mit der Höchstgeschwindigkeit, sind unproblematisch. Aber so einfach liegen Rechtsfragen in der Regel nicht. Es gibt Fälle, für die es überhaupt an einer Norm für die Entscheidung fehlt, z. B. bei der Frage, ob und unter welchen Bedingungen es zulässig ist, Verstorbenen Organe für eine Transplantation zu entnehmen. Es gibt andere Fälle, in denen Normen einander widersprechen. Hier ist es allerdings nicht ganz einfach, Beispiele zu finden. Denn es ist gerade der Ehrgeiz der Juristen, einander widersprechende Normen gar nicht erst entstehen zu lassen oder, wo sie doch entstanden sind, den Widerspruch auszumerzen. Es kommt allerdings vor, dass zwischen verschiedenen Normschichten Widersprüche bestehen, etwa im Fall des verfassungswidrigen Gesetzes. Dann geht das höherrangige Gesetz vor. Ferner geschieht es, dass Gerichte einander widersprechende Entscheidungen treffen, oder genauer: Bei ihren Entscheidungen von einander widersprechenden Normvorstellungen ausgehen. Das ist ein Fall, der eigentlich gar nicht vorkommen dürfte, also ein juristischer »Unfall«. Ferner können rechtliche und außerrechtliche Normen sich widersprechen. Rechtlich ist es z. B. verboten, nach Alkoholgenuß Auto zu fahren. Im gesellschaftlichen Bereich kann es jedoch geschehen, dass man genötigt wird, Alkohol zu trinken, auch wenn man auf sein Auto angewiesen ist. Auch hier gibt es eine Regel für die Beseitigung der Widersprüche, nämlich den Vorrang des Rechts. Problematisch sind eigentlich nur solche Fälle, wo auf derselben Normebene Widersprüche auftauchen. Als Beispiel könnte die Behandlung von Unfallfahrzeugen im Schadenersatzrecht und im Kaufrecht dienen. Im Schadenersatzrecht gibt es nur sehr eingeschränkt einen merkantilen Minderwert. Man geht davon aus, dass eine ordnungsgemäß durchgeführte Reparatur grundsätzlich keinen technischen und dementsprechend auch keinen merkantilen Minderwert zurücklässt. Im Kaufrecht hält die Rechtsprechung jedoch den Verkäufer für verpflichtet, den Käufer auf jeden, auch den kleinsten Unfallschaden hinzuweisen. Falls das nicht geschieht, liegt ein Fall des arglistigen Verschweigens vor, der den Käufer zur Anfechtung des Kaufvertrages berechtigt. In dieser unterschiedlichen Behandlung liegt wohl ein Widerspruch.

Normen können unscharf sein. Sprachliche Eindeutigkeit ist kaum zu erreichen. Selbst im Alltagssprachgebrauch so unproblematische Wörter wie z. B. Fenster oder Haus können im Streitfall problematisch werden. Im Nachbarrecht etwa ist vorgesehen, dass man nur bei Einhaltung bestimmter Grenzabstände Fenster auf der Seite zum Nachbarn einbauen darf. Dann entsteht etwa die Frage, ob auch eine Wand aus Glasbausteinen als Fenster in diesem Sinne anzusehen ist. Viel wichtiger sind aber die Fälle, in denen die Normen planmäßig oder unplanmäßig Lücken aufweisen oder unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten. Das berühmteste Beispiel ist die Verweisung auf Treu und Glauben und die Verkehrssitte in §·242 BGB.

Vor allem aber: Wir können der Meinung sein, eine Norm sei schlecht, falsch oder unbeachtlich. Darin unterscheiden sich Rechtsgesetze und soziale Normen von Naturgesetzen. Von Naturgesetzen, von denen wir annehmen müssen, dass sie gültig sind, ist es sinnlos zu sagen, sie seien schlecht oder falsch oder unbeachtlich. Dagegen können eine Rechtsnorm und ebenso eine Moralnorm in dem Sinne vorhanden sein, dass es Normabsender gibt und dass diese Norm auch praktisch befolgt und durchgesetzt wird. Dennoch kann ich der Ansicht sein, diese Norm sei nicht maßgeblich. Hier zeigt sich, dass normative Sätze eine andere Geltungsqualität haben. Ihre Geltung beruht zunächst auf der Autorität und Durchsetzungsfähigkeit des Normabsenders. Ob und wieweit sie darüber hinaus auch von der inneren Richtigkeit abhängt, ist ein Problem. Es handelt sich geradezu um das Problem der Rechtsphilosophie schlechthin.

Mindestens an zwei Stellen versagen also Empirie und Normenlogik: Wenn sich kein positives Recht ermitteln lässt, das den zu entscheidenden Fall regelt, oder wenn die Richtigkeit des positiven Rechts in Frage steht. Dann ist eine wertende Entscheidung notwendig, von der die Rechtsphilosophie sagt, dass sie an der Gerechtigkeit orientiert werden müsse, ohne freilich genau angeben zu können, was dieser Gesichtspunkt meint. Aber selbst die scheinbar selbstverständliche Anwendung unproblematischen positiven Rechts impliziert noch die Feststellung dieses Rechts als herrschend und seine Annahme als gerecht oder jedenfalls nicht ungerecht, und damit letztlich ein Werturteil. Werturteile machen damit das Wesen der Jurisprudenz aus. Werturteile stehen im Gegensatz zu Logik und Empirie. Dieser Gegensatz bestimmt auch den Unterschied zwischen (dogmatischer) Rechtswissenschaft und (empirischer) Rechtssoziologie.


[1] Josef Esser, Herrschende Meinung und ständige Rechtsprechung in Dogma und Kritik in den Wissenschaften, Mainz 1961; Uwe Wesel, hM, Kursbuch 56, 1979, 88-109; Rita Zimmermann, Die Relevanz einer herrschenden Meinung für Anwendung, Fortbildung und wissenschaftliche Erforschung des Rechts, Berlin 1983; Gerhard Müller, Die »ganz herrschende Meinung« als Entscheidungsgrund, NJW 1984, 1798-1802. [neu: Fritz Jost, Die Mindermeinung, in: Matthias Mahlmann (Hg.), Gesellschaft und Gerechtigkeit, Festschrift für Hubert Rottleuthner, 2011, 142-151.]

[2] Sog. Kartellforschung; zum Arbeitsrecht vgl. Wolfgang Däubler, Gesellschaftliche Interessen und Arbeitsrecht, Demokratie und Recht, Beiheft, Köln 1974 Roderich Wahsner, Das Arbeitsrechtskartell, Kritische Justiz 1974, 369-386; zum Privatversicherungsrecht Rudolf Gärtner Privatversicherungsrecht, Darmstadt 1977, S. 113 ff.; dazu unter dem Aspekt einer Wissenschaftssoziologie der Jurisprudenz Klausa, Deutsche und amerikanische Hochschullehrer, 1981, 25 ff.

[3] U. vom 22. 1. 2009, Az. 1 U 82/08.

[4] Jörg Gstöttner/Markus Valerius, Vorzeitige Beendigung kapitalbildender Lebens- und Rentenversicherungen – ist die Erhebung einer Kapitalertragsteuer bei geminderten Rückkaufwerten verfassungskonform?, Der Betrieb 2008, 1883-1887.