§ 81 Erscheinungsformen des Konflikts

I. Konflikt und Gewalt

Literatur: Teresa Koloma Beck/Klaus Schlichte, Theorien der Gewalt – zur Einführung, 2014; Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, 1921/1922, in: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, 1999, 179-204; Richard Bessel, Violence, A Modern Obsession, 2015; Pierre Bourdieu, Die Männliche Herrschaft, 2012, S. 65ff; Robert M. Cover, Nomos and Narrative, Harvard Law Review 97, 1983/84, 4-68; ders. Violence and the Word, Yale Law Journal 95, 1985/86, 1601-1629, wieder abgedruckt in: Martha Minow u. a. (Hg.), Narrative, Violence, and the Law. The Essays of Robert Cover, 1992; Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, 1991 [La Force de Loi, 1990]; Julia M. Eckert (Hg.), Anthropologie der Konflikte. Georg Elwerts konflikttheoretische Thesen in der Diskussion, 2004; Johan Galtung, Strukturelle Gewalt, 1975; Thomas Hoebel, Soziologie der Gewalt. Eine Einführung, 2019; Peter Imbusch, Der Gewaltbegriff, in: Wilhelm Heitmeyer/John Hagan (Hg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, 2002, 26-57; Christoph Menke, Recht und Gewalt, in: Soziologische Jurisprudenz. FS für Gunther Teubner, 2009, 83-96; ders., Recht und Gewalt, 2011; Stephan Moebius/Frithjof Nungesser, Symbolische Gewalt, Bürger & Staat 68, 2018, 120-127; Michael Riekenberg, Auf dem Holzweg? Über Johan Galtungs Begriff der »strukturellen Gewalt«, Zeithistorische Forschungen , 2008, 172-177. Austin Sarat/Thomas R. Kearns (Hg.), Law‘s Violence, Ann Arbor 1995; Thomas Schaarschmidt u. a., Gewaltabkehr als gesellschaftliches Projekt, Zeithistorische Forschungen 2018, 203-221; Frederick F. Schauer, The Force of Law 2015; Trutz von Trotha (Hg.) Soziologie der Gewalt, Sonderheft 37 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1998.

Konflikt wird oft mit Gewalt zusammen gedacht, Gewalt wiederum mit dem Recht. Mit dem Recht verbindet sich die Vorstellung der physischen Gewalt als letzten Sanktions- und Durchsetzungsmittels, mit staatlichem Recht auch die Vorstellung des Gewaltmonopols. »Recht und Gewalt« ist deshalb ein großes Thema von Rechts­philo­sophie und Rechtskritik. Die Diskussion leidet unter unter einem notorisch vagen Gewaltbegriff, der regelmäßig mit kritischen, seltener mit affirmativen Konnotationen belastst ist. Die Soziologie kann sich davon nur schwer freimachen. Deshalb ist es angezeigt, diesen Hintergrund der Gewaltdiskussion in den Blick zu nehmen.

Gewalt im eigentlichen und engeren Sinne ist eine auf den Körper einwirkende physische Kraft. Schon im Strafrecht hat der Gewaltbegriff jedoch eine Differenzierung und Ausweitung erfahren.

Der strafrechtliche Gewaltbegriff hat sich im Laufe der Zeit von körperlicher Gewalt über mittelbare Gewalt (Giftbeibringung, Drohung) bis hin zur »psychischen Gewalt« erweitert. Ursprünglich verstand man unter Gewalt nur die vis corpore corpori afflicta, also nur die unter Anwendung von Körperkraft erfolgende Einwirkung auf den Körper des Opfers. Im Laufe der Zeit ist der Gewaltbegriff entmaterialisiert worden. Zunächst wurde er auf chemische Einwirkungen ausgedehnt. Anfangs musste die »Chemie« dem Opfer noch gewaltsam beigebracht werden (RGSt 58, 98). Später ließ man auch die gewaltlose Beibringung eines Narkotikums genügen (BGHSt 1, 145). Heute gilt als Gewalt jedes Mittel, mit dem auf den Willen oder das Verhalten eines anderen durch ein gegenwärtiges empfindliches Übel eine Zwangswirkung ausgeübt wird, so dass auch »psychische Gewalt« in Betracht kommt. Während ursprünglich die Gewalt vom Täter ausgehen musste, waren die wichtigsten Fälle strafrechtlich relevanter Gewalt zeitweise dadurch gekennzeichnet, dass der Täter ein Hindernis errichtete, das das Opfer nur durch Gewalt wieder ausräumen konnte, wollte es seine Handlungsfreiheit zurückgewinnen. Inzwischen macht das Bundesverfassungsgericht die Strafbarkeit von Sitzdemonstrationen nach der Gewaltalternative des § 240 I StGB jedoch wieder von einer körperlichen Kraftentfaltung durch den Täter abhängig (BVerfGE 92, 1).

Mit den aus dem Strafrecht geläufigen Unterscheidungen von vis absoluta und vis compulsiva, physischer und psychischer Gewalt, Gewalt gegen Personen und Gewalt gegen Sachen, ist es nicht getan. Wenn im Verfassungsrecht von Gewaltenteilung die Rede ist, nähert sich der Gewaltbegriff dem der Macht, ähnlich bei Befehlsgewalt, elterlicher Gewalt usw. In der politischen Diskussion werden soziale Zwänge als »strukturelle Gewalt« bezeichnet (nach dem Titel eines Buches von Johann Galtung, 1975). Damit wird rhetorisch die negative Konnotation von »Gewalt« ausgeschöpft. Für die Soziologie hat Pierre Bourdieu hat den Begriff der symbolischen Gewalt ins Spiel gebracht.

Die englische und die französische Sprache unterscheiden zwischen force und violence. In beiden Sprachen ist violence eher die körperliche Gewalt. Dennoch ist im Englischen von structural violence (Galtung) die Rede und im Französischen von violence symbolique (Bourdieu), wiewohl doch in beiden Fällen gerade eine unkörperliche Gewalt gemeint ist. Es handelt sich um eine beabsichtigte contradictio in adjectu. Dieser rhetorisch mitgeführte Widerspruch bringt den ganzen Gewaltdiskurs zum Schillern. Im Hintergrund steht immer die körperliche Gewalt. Sie macht den Gewaltbegriff zu einem Faszinosum oder gar Mysterium. Antiker Mythos und Tragödie, die mit körperlicher Gewalt beginnen oder enden, sind beliebte Anknüpfungspunkte.

Der kanonische Text zu dem schwierigen Verhältnis von Recht und Gewalt stammt von Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt (1920/1921). Benjamin hat die Stichworte für die weitere Diskussion vorgegeben. Er hat insbesondere auch die Verknüpfung des Themas mit Mythologie und Theologie vorgedacht. Benjamins Essay gipfelt in einer Analogisierung von proletarisch-revolutionärer und göttlicher Gewalt.

In der postmodernen Diskussion wurde »Gewalt« zu einer Metapher, die eine Grundeigenschaft des Rechts charakterisieren soll. In der Einleitung zu ihrem Sammelband »Law’s Violence« schreiben Sarat und Kearns:

»The essays collected in Law’s Violence explore that mystery. Each recognizes that violence, as a fact and a metaphor, is integral to the constitution of modern law, and that law is a creature of both literal violence, and of imaginings and threats of force, disorder, and pain. Each acknowledges that in the absence of such imaginings and threats there is no law, and that modern law is built on representations of aggression and disruption. Law is, in this sense, an extended meditation on a metaphor.«

Angestoßen wurde die Diskussion besonders durch Aufsätze von Robert M. Cover, die von moralischem Pathos getragen sind:

»Legal interpretation takes place in a field of pain and death. This is true in several senses. Legal interpretive acts signal and occasion the imposition of violence upon others: A judge articulates her understanding of a text, and as a result, somebody loses his freedom, his property, his children, even his life. Interpretations in law also constitute justifications for violence which has already occurred or which is about to occur. When interpreters have finished their work, they frequently leave behind victims whose lives have been torn apart by these organized, social practices of violence.« (1985/86 S. 1601)

Auch wenn Cover sich nach Umwegen über Folter und Märtyrertum mäßigt (S. 1601),

»If I have exhibited some sense of sympathy for the victims of this violence it is misleading. Very often the balance of terror in this regard is just as I would want it.«

so bleibt doch eine existentialistische Verkopplung von Recht und Gewalt. Sie führt dazu, Rechtsanwendung schlechthin für gewaltsam zu halten:

»Legal interpretation is … designed to generate credible threats and actual deeds of violence ….«

Richter sind schon deshalb gewaltätig, weil sie bestimmte Rechtsauffassungen zurück­weisen:

»Judges are people of violence. Because of the violence they command, judges characteristically do not create law, but kill it. Theirs is the jurispathic office. Confronting the luxuriant growth of a hundred legal traditions, they assert that this one is law and destroy or try to destroy the rest.« (1983/84 S. 53)

Dieser Text wird gerne von Anhängern eines normativen Rechtspluralismus zitiert, denn hinter den »hundred legal traditions« verbergen sich deren Schützlinge.

Im Mittelpunkt von Derridas »Force de Loi« steht eine »dekonstruktive« Lektüre von Benjamins »Kritik der Gewalt«. Derrida kritisiert bei Benjamin »eine furchtbare Zweideutigkeit«, das Mitschwimmen auf »der großen anti-parlamen­tarischen und gegen-aufklärerischen Welle, an deren Oberfläche dann der Nazismus auftaucht«, die »messianisch-marxistisch oder arche-eschatologisch« gefärbte Sprache und ihre Nähe zu Heidegger und Carl Schmitt. Benjamin hatte in einer Synthese jüdisch-eschatologischer Vorstellungen mit dem neomarxistischen Aktionismus George Sorels die Überwindung der instrumentellen Gewalt des Rechts durch eine reine göttliche Gewalt gefordert. Deren zeitgemäßen geschichtlichen Ausdruck sah Benjamin mit Sorel vor allem im proletarischen Generalstreik, der die Rechtsgewalt des Staates abschafft. Derrida vermeidet es, im Titel von »Violence de Loi« zu sprechen und sucht nach der Gesetzeskraft als einer force juste ou nonviolente. Freilich kommt hier eine neue Mehrdeutigkeit hinein, wenn violence die Bedeutung ungerechter Gewalt erhält, die dann auch wieder unkörperlich sein kann. Es ist immerhin tröstlich, dass Derrida – eher unerwartet – bei seiner Benjamin-Lektüre die Gerechtigkeit, so fern und unerreichbar sie auch sein mag, gegenüber der Gewalt in Schutz nimmt.

Zu den postmodernen Autoren, die im Anschluss an Walter Benjamin (und Carl Schmitt) den Gewaltdiskurs forsetzen, gehört Giorgio Agamben. Er meint, im Ausnahmezustand habe sich die Verbindung von Gesetz und bloßer Gewalt offenbart und damit sei der Begriff des Rechts an und für sich in Frage gestellt.

Eine Funktion des Rechts besteht darin, physische Gewalt auszuschließen und unkörperliche Gewalt zu begrenzen. Dazu ist freilich die Drohung mit Gewalt und gelegentlich ihr Einsatz erforderlich. Nicht ganz selten ist das im Prinzip gewaltfeindliche Recht selbst erst durch einen Gewaltakt zur Herrschaft gekommen. Diese beiden Grundtatsachen lasssen sich leicht als Paradox formulieren:

»Die erste Feststellung besagt: Das Recht ist das Gegenteil der Gewalt … Die zweite Feststellung besagt: Das Recht ist selbst Gewalt … Beide Feststellungen stehen im Gegensatz zueinander, aber keine von ihnen kann bestritten werden; beide sind wahr.« (Menke 2009 S. 83)

Das Paradox resultiert aus der Verwendung von uneingeschränkten Allsätzen. Mit dem gleichen Recht ließe sich sagen: Der Autor ist paradox, denn der Autor schläft und der Autor wacht. Das Paradox verschwindet, wenn die Allsätze dahin eingeschränkt werden, dass der Autor am Tage wacht und nachts schläft. Wegen solcher Zwittrigkeiten ist die postmoderne Gewaltdiskussion eher verwirrend als erhellend. Im Übrigen ist sie vor allem expressiv, das heißt, sie dient zum Ausdruck einer pathetisch-kritischen Einstellung gegenüber dem Recht. Darüber geht verloren, dass »Gewaltabkehr« von gesellschaftlichen auch zu einem juristischen Projekt geworden ist.

II. Spiel- und verhandlungstheoretische Ansätze

Literatur: Helmut Crott u. a., Verhandlungen, 2 Bde., 1977; Roger Fisher/William Ury, Getting to Yes, 1981; Raiffa, The Art and Science of Negotiation, 1982; Jeffrey Z. Rubin/Bert R. Brown, The Social Psychology of Bargaining and Negotiation, 1975; Klaus F. Röhl, Verhandlungstechnik für Juristen, Ms., 1998; Lawrence B. Solum, Legal Theory Lexicon 060: Efficiency, Pareto, and Kaldor-Hicks; Rasmus Tenbergen, Ist das Harvard-Konzept zu weich?, Ms. 2001.

Konflikte werden nur selten ausschließlich unter rationalen Gesichtspunkten ausgetragen. Aber sie haben regelmäßig auch einen rationalen Aspekt, den man mit der Spieltheorie (§ 28 o.) erfassen kann. Dabei handelt es sich um eine ursprünglich mathematische Disziplin, die für bestimmte, sehr formalisierte Situationen über optimale Strategien zur Erreichung bestimmter Ziele informiert. Unter der Prämisse rationalen Verhaltens wird sie zu einer normativen Entscheidungslehre, die angibt, wie sich ein Individuum gegenüber anderen, die gegenläufige Interessen verfolgen, erfolgreich verhalten kann.

In der Rechtssoziologie dient der Rückgriff auf die Spieltheorie aber nicht dem Ziel einer Mathematisierung, sondern allein zu dem Zweck, einen adäquaten Beschreibungsrahmen für Konfliktsituationen zu gewinnen, die Problemsicht zu verbessern und möglichst auch Ergebnisse der experimentellen Verhandlungsforschung zu nutzen. Auf diese Spieltheorie bauen nämlich verhandlungstheoretische Konzepte der experimentellen Sozialpsychologie auf. Sie versuchen, den Einfluß einzelner struktureller, situativer und sozialer Faktoren auf den Verlauf von Verhandlungen, verstanden als Versuch zur Bereinigung einer Konfliktsituation, zu isolieren. Zu den strukturellen Faktoren rechnen dabei die Zahl der Parteien, die Zahl der Verhandlungsgegenstände und Fragen der Koalitionsbildung. Zu den situativen Merkmalen zählen Verhandlungserfahrung und Verhandlungsverhalten, die Informationsverteilung und die Kommunikationsbedingungen. Als soziale Einflußfaktoren werden vor allem Vermittlung und Schlichtung behandelt. Damit liefern Spiel- und Verhandlungstheorie ein theoretisches Grundgerüst auch für die Analyse von Konfliktverläufen in der Rechtssoziologie.

Drei Spieltypen sind nützlich, um Konflikte, wie sie z. B. im Rechtsstreit ausgetragen werden, spieltheoretisch zu interpretieren, nämlich

das Nullsummenspiel,

das Verhandlungsspiel,

der destruktive Konflikt.

1. Das Nullsummenspiel

Im Zwei-Parteien-Nullsummenspiel entspricht der Gewinn des einen Spielers dem Verlust des anderen. Der Gesamtgewinn ist gleich Null. Was der eine gewinnt, muß der andere hergeben. So liegt es etwa bei den meisten Gesellschafts- und Glücksspielen. Das Beispiel zeigt aber auch schon die Probleme, die sich bei der Übertragung des mathematischen Modells auf soziale Situationen einstellen. Gesellschaftsspiele spielt man nicht allein um Gewinn und Verlust, sondern weil das Spiel als solches Freude macht.

Für den Nullsummenkonflikt ist der status quo von besonderer Bedeutung. Hat eine Partei in Besitz, was die andere beansprucht, so hat der Besitzer keinen Anlaß, sich auch nur auf Verhandlungen einzulassen. Ein »Spiel« kommt gar nicht erst zustande. Es bleibt bei einer einseitigen Forderung. Das ändert sich erst, wenn der Gegner über besondere Drohmöglichkeiten verfügt, z. B. über die Möglichkeit, Dritte zur Hilfe zu holen, und davon auch Gebrauch macht. Die Realisierung von Drohungen ist aber regelmäßig mit Kosten verbunden. Durch den Einsatz von Drohungen verliert der Konflikt deshalb seinen rein distributiven Charakter und wird zum gemischten – genauer: zum destruktiven – Konflikt, und damit zu einem Sonderfall des Verhandlungsspiels.

2. Das Verhandlungsspiel

Das Verhandlungsspiel (bargaining game) zeichnet sich dadurch aus, dass die Parteien durch eine Einigung neue Werte schaffen, also einen Kooperationsgewinn erzielen können, um dessen Verteilung sie streiten. Beispiel ist jeder Markttausch, aus dem beide Teile Gewinn ziehen, weil jeder der Gegenleistung einen höheren Wert zuspricht als der eigenen.

Man denke an einen Bauern, der mehr Kartoffeln geerntet hat, als er selbst verbrauchen kann. Zu ihm kommt ein Städter, der zwar Geld besitzt, aber keine Kartoffeln. Für beide wäre es vorteilhaft, ein Tauschgeschäft zu machen. Sie streiten sich nur über den Preis. Wegen dieser teilweise gleichgerichteten und teilweise konträren Interessen spricht man auch von einer mixed motive situation. Der Bauer sei der Meinung, dass er mindestens 5,- EUR für den Zentner Kartoffeln haben will. Sonst würde er die Kartoffeln lieber an seine Schweine verfüttern. Der Städter will höchstens 10,- EUR ausgeben. Sonst isst er lieber Reis und Nudeln. Für diesen Fall kann der Mathematiker nur angeben, dass jeder Preis zwischen 5,- und 10,- EUR für beide Spieler vorteilhafter ist als gar kein Geschäft. Ob und in welchem Punkt es tatsächlich zu einer Einigung kommt, ist nicht determiniert. Wollte man den Mathematiker dennoch um einen Vorschlag bitten, so würde er den Gewinn wohl in der Mitte teilen. Diese Lösung drängt sich als symmetrisch auf. Man spricht deshalb von einer perzeptiv prominenten Lösung. Die Lösung in der Mitte scheint aber auch verbreiteten Gerechtigkeitsvorstellungen zu entsprechen. Sie wäre daher zugleich normativ prominent. Wird diese Lösung direkt aus der Spielsituation ohne Berücksichtigung eines Verhandlungsprozesses abgeleitet, so haben wir eine statische Lösung vor uns, die manchmal auch Schiedsrichterlösung genannt wird.

Problematischer sind dynamische Lösungen, die das Resultat eines Verhandlungsprozesses bilden. Im Beispiel wäre für eine Verhandlungslösung zunächst relevant, dass beide Parteien nur über eine Drohmöglichkeit verfügen. Jeder kann damit drohen, die Verhandlung abzubrechen. Diese Drohung macht immerhin wahrscheinlich, dass überhaupt eine Einigung zustande kommt. Im Übrigen ist die Lösung das Resultat persönlicher und situativer Variablen. Wichtig wäre z. B. der Informationsstand der beiden Kontrahenten. Kennt der Städter den äußersten Preis des Bauern, weiß der Bauer aber nicht genau, was der Städter bereit ist zu bewilligen, wird wahrscheinlich der Städter den Preis bis gegen 5,- DM drücken können. Verfügt der Bauer über die bessere Information, so kann er seine Preisvorstellungen eher durchsetzen. Fehlt beiden Teilen die Information über die Preisvorstellung des Gegners, also über dessen Anspruchsniveau, so kommt es auf das Verhandlungsgeschick an. Sozialpsychologische Experimente haben bestätigt, was common sense vermutet. Wer gemessen an seinem Anspruchsniveau die höhere Ausgangsforderung stellt und in kleineren Schritten nachgibt, wer also härter verhandelt, wird den größeren Gewinn herausschlagen. Nur bei symmetrischer Verteilung der persönlichen Variablen (oder wenn sich asymmetrische Variablen kompensieren) wird sich die Verhandlungslösung mit der Schiedsrichterlösung decken.

Etwas unübersichtlicher ist das Spiel in folgendem Beispiel: Die Eheleute M und F streiten über ihr nächstes Urlaubsziel. M möchte gern an ein stilles Angelgewässer und legt Wert darauf, dass der Urlaub billig wird, um bald ein neues Auto kaufen zu können. F möchte gerne unter südlicher Sonne einen erlebnisreichen Urlaub verbringen. Damit diese Situation spielthoretisch behandelt werden kann, muß sie zunächst formalisiert werden. Es ergibt sich dabei das Problem der intersubjektiven Nutzenmessung, d. h. es müssen die jeweiligen Präferenzen der Eheleute meßbar und vergleichbar gemacht werden. Man könnte sie z. B. bitten, alle zur Diskussion stehenden Reiseziele auf einer Skala anzuordnen, auf der 100 die beste und 0 die schlechteste Lösung anzeigen soll.

 

Reiseziel Mann Frau Gesamtgewinnn
Gebirgsbach im Sauerland 60 0 60 suboptimal
Heiligenhafen an der Ostsee 50 10 60 suboptimal
Wörthersee 30 30 60 suboptimal
See in Norwegen 40 30 70 pareto-optimal
Varna 30 40 70 pareto-optimal
Mallorca 30 60 90 K-H-suboptimal
Tunis 10 70 80 K-H-suboptimal
St. Tropez 0 100 100 K-H-optimum

 

Die Tabelle zeigt zunächst, dass einige Lösungen offenbar ausscheiden, und zwar die Lösungen »Gebirgsbach« und »Heiligenhafen« weil der Gesamtgewinn niedrig und dazu noch sehr ungleich verteilt ist. Dann gibt es eine weitere Gruppe, die sich dadurch auszeichnet, dass im Vergleich zu ihr keine andere Lösung beiden Parteien einen größeren Gewinn bietet oder einem Partner einen größeren und dem anderen mindestens den gleichen. Unter dem Gesichtspunkt der Gewinnmaximierung sind Lösungen aus dieser Gruppe allen anderen möglichen Übereinkünften überlegen. Es wäre z. B. irrational, die Lösung »Wörthersee« zu wählen, nur weil sie beiden gleich gut gefällt, während es andere Lösungen gibt, die, ohne den einen Teil schlechter zu stellen, den Gewinn des anderen verbessern. Es ist üblich, diese Lösungen als pareto-optimal zu bezeichnen.

Auch diese Lösungen verschenken aber, jedenfalls so, wie die Präferenzen hier verteilt sind, noch ein Stück von dem möglichen Kooperationsgewinn. Würden sich die Eheleute auf St. Tropez als Urlaubsziel einigen, so wäre dieser Gewinn 100. Allerdings würde er allein bei F anfallen. M ginge leer aus. Es kann jedoch sinnvoll sein, einen Partner alles gewinnen zu lassen und nachträglich Ausgleichszahlungen vorzunehmen. Im Beispiel könnten sich die Ehepartner darauf einigen, die von der Frau am meisten bevorzugte Reise nach St. Tropez zu unternehmen. Der Mann könnte dann als Ausgleich für dieses Zugeständnis vielleicht ein Surfbrett erhalten. Wenn also Ausgleichszahlungen möglich und sinnvoll sind, was nicht in jeder Situation der Fall sein muß, wäre es optimal, wenn die Spieler mit Hilfe einer solchen Ausgleichszahlung den höchstmöglichen Kooperationsgewinn sicherstellten. Diese Modifizierung des Pareto – Optimums ist als Kaldor-Hicks-Kriterium bekannt.[1]

Die bisherigen Überlegungen zum Verhandlungsspiel gehen davon aus, dass die Spieler nur über eine Drohmöglichkeit verfügen, nämlich über die Möglichkeit der Drohung mit dem Abbruch der Verhandlungen. Das letzte Beispiel legt es aber nahe, auch die Möglichkeit zu bedenken, dass die Spieler variable Drohmöglichkeiten besitzen. Die Eheleute können sich gegenseitig mit Unfreundlichkeiten, Liebesentzug oder im Extremfall mit Trennung und Scheidungsklage drohen.

3. Das destruktive Spiel

Das destruktive Spiel ist dadurch gekennzeichnet, dass die Parteien durch Kooperation zwar keinen Gewinn erzielen, aber doch einen Verlust abwenden können. Ein abgewendeter Verlust kann auch als Gewinn betrachtet werden. Insofern liegt nur ein Sonderfall des bargaining game vor. Als Beispiel mag ein Fall dienen, in dem zwei Grundstücke durch einen Bach getrennt werden, der jedes Jahr wieder Überschwemmungen verursacht. Die Nachbarn können sich jedoch nicht über eine Regulierungsmaßnahme einigen. Viele Spielsituationen erhalten durch die Existenz von Drohmöglichkeiten, deren Realisierung beiden Parteien schaden könnte, einen destruktiven Zug. Destruktive Konflikte haben in der sozialen Wirklichkeit regelmäßig die Besonderheit, dass die Parteien insofern unter Entscheidungszwang stehen, als im Falle der Nichteinigung Ersatzgeschäfte mit Dritten ausgeschlossen sind. Während man für einen Markttausch nach einem anderen Vertragspartner suchen kann, können im Beispiel die Nachbarn sich nicht ausweichen; es handelt sich um ein Duopol. Die Alternative zur Einigung ist Kampf oder Verlust, der je nach dem status quo bei einem oder beiden Parteien eintreten kann.

III. Die Komplexität des Konflikts

Literatur: Gessner, Recht und Konflikt, 1976.

Eine wichtige Variable, von der die Entwicklung eines Interessengegensatzes oder einer Enttäuschung zum Konflikt und dessen weiterer Verlauf abhängen kann, ist die Komplexität des Konflikts, oder genauer, die Komplexität der Beziehungen zwischen den streitenden Parteien.

Unter dem Aspekt der Komplexität lassen sich Verhaltenserwartungen danach unterscheiden, ob sie auf eine konkrete Person, auf eine bestimmte Rolle oder auf einzelne Normen bezogen sind[2]. Erwartungen an konkrete Personen bilden sich aus gemeinsamen Erlebnissen. Wenn die Akteure sich bei einer Vielzahl von Anlässen in der Familie, in der Freizeit oder bei wirtschaftlicher Betätigung immer wieder begegnen, erwächst eine gemeinsame Geschichte, die die Beteiligten mit einem breiten Spektrum wechselseitiger Erwartungen aneinander bindet. Diese personenbezogene Interaktionsform ist hochkomplex. Von sehr niedriger Komplexität sind dagegen jene Situationen, in denen die Akteure sich unter der Anforderung sozialer Normen begegnen, die nur eine einzige spezifische Erwartung begründen. Der Kinobesucher muß am Eingang die Eintrittskarte lösen, der Autofahrer bei Rot anhalten. Damit ist der Norm auch schon genügt. Zwischen beiden Extremen stehen die rollenbezogenen Erwartungen. Der Rollenspieler sieht sich einem Bündel von Verhaltenserwartungen ausgesetzt, die zwar nicht seine ganze Person einbeziehen, die aber auch nicht bloß einen isolierten Handlungsvollzug fordern, sondern mit denen er in einer sozialen Position angesprochen ist, als Arbeitnehmer etwa, Vereinsmitglied oder Patient.

Die Komplexität der Beziehungen beeinflußt im Enttäuschungsfall den Ablauf des Konflikts. Wird in einem komplexen Interaktionszusammenhang auch nur eine einzelne Erwartung enttäuscht, so entsteht die Gefahr, dass der Konflikt sich auf alle anderen Erwartungen in der sozialen Beziehung ausbreitet, auch wenn diese an sich miteinander verträglich wären. So kann aus einem hochkomplexen Sozialverhältnis ein totaler Konflikt entstehen, wie mancher Ehestreit bezeugt. Je mehr sich eine soziale Beziehung jedoch auf einige wenige Erwartungen reduziert, desto weniger Generalisierungsmöglichkeiten sind vorhanden. Es kommt hinzu, dass Konflikte in Beziehungen, die funktional spezifisch und affektiv neutral sind, weniger hart und heftig verlaufen als solche, die hochkomplex und damit diffus und affektiv sind und die ganze Persönlichkeit ihrer Teilnehmer beanspruchen.Die Komplexität sozialer Beziehungen begründet indessen nicht nur die Gefahr einer Ausbreitung des Konflikts, sondern begünstigt gleichermaßen dessen rasche Beilegung. Stehen nach einer Enttäuschung weitere oder gar alle Erwartungen zur Debatte, so kann gerade daraus ein Gegengewicht entstehen. Eine andere Erwartung kann übererfüllt oder die erwartete Handlung später nachgeholt werden. So sind in komplexen Handlungssituationen Tauschprozesse und Kreditbeziehungen möglich, die die konfliktträchtige Enttäuschung kompensieren können.

In sozialen Beziehungen von geringer Komplexität führen Probleme dagegen eher zu distributiven oder Nullsummenkonflikten. Wer von Unbekannt einen Gebrauchtwagen kauft und enttäuscht wird, wer bei einem Unfall Verletzungen erleidet, kann nur Forderungen stellen und keine Gegenleistungen bieten. Dennoch wird die große Masse auch dieser Konflikte ohne Gerichtshilfe geregelt. Grund dafür ist aber nicht mehr die Logik der Situation, sondern die Nötigung durch Normen und andere Drohungen. Diese Nötigung ist so wirksam, dass auch in Situationen, die sich zunächst als reines und einseitiges Nullsummenspiel darstellen, bei Einbeziehung normativer, insbesondere rechtlicher Gesichtspunkte vielfach Möglichkeiten einer Einigung vorhanden sind, die von beiden Seiten der Fortsetzung des Streits vorgezogen werden. Dafür ist nicht zuletzt bedeutsam, dass die Rechtslage bei weniger komplexen Konflikten auch übersichtlicher ist. Im Hinblick auf einen langwierigen und teuren Prozeß erhält der Streit den Charakter eines destruktiven Konflikts. Das zeigen etwa die zahlreichen Kraftfahrzeughaftpflichtschäden, die von den Versicherungen in über 90 % der Fälle ohne Gerichtshilfe reguliert werden[3]. Kommt es im Ausnahmefall dennoch zum Prozeß, so ist vielleicht die Rechtslage unklar. Aber auch bei unklarer Rechtslage kann man vor dem Hintergrund einer zur Entscheidung bereitstehenden Justiz verhandeln, wenn man den Ausgang der Entscheidung als Risiko kalkuliert und sich über eine Teilung des Risikos verständigt. Erst wenn ein Normeninteresse ins Spiel kommt, wenn etwa, um im Beispiel zu bleiben, die Versicherung eine Klärung der Rechtslage in einem Musterprozess herbeiführen möchte, werden Verhandlungen sinnlos.

IV. Interessenkonflikt und Wertkonflikt

Literatur: Vilhelm Aubert, Competition and Dissensus, Journal of Conflict Resolution 7, 1963, 26 ff. (deutsch in: Bühl, Konflikt und Konfliktstrategie, 2. Aufl. 1973, 178 ff.); Alexander Bogner, Die Ethisierung von Technikkonflikten, 2011 (S. 47-82); Ulrich Willems, Wertkonflikte als Herausforderung der Demokratie, 2016.

Der Übergang von der Spieltheorie zur Soziologie, der mit der Verhandlungstheorie schon vorbereitet ist, gelingt mit Hilfe der von Vilhelm Aubert eingeführten Unterscheidung von Interessenkonflikt und Wertkonflikt, zwei Konflikttypen, die sich zwanglos spieltheoretisch interpretieren lassen.

Als Interessenkonflikt (competition) bezeichnet Aubert den Streit, der der Knappheit des begehrten Objekts entspringt. Der Konflikt nimmt seinen Ausgang paradoxerweise von einem Konsens, nämlich von der gemeinsamen Wertschätzung sozialer Objekte, um die man streitet. Es kann sich um Geld handeln oder um Ware, aber ebenso um einen Sexualpartner oder um soziale Positionen, die Macht und Ansehen verleihen. Man streitet also um die Verteilung knapper Güter.

Nicht alle Konflikte lassen sich als Verteilungskonflikte um knappe Güter beschreiben. Oft steht eine Meinungsverschiedenheit über Tatsachen, Normen oder Werte im Vordergrund. So streitet man z. B. darüber, ob eine Schwangerschaftsunterbrechung als Mord des ungeborenen Kindes oder als Selbstbestimmung der Frau anzusehen ist, ob eine Unterschrift gefälscht ist oder ein Rechtssatz bestimmten Inhalts Geltung beanspruchen kann. Für diese Fälle hat sich als Übersetzung des englischen dissensus die Bezeichnung als Wertkonflikt durchgesetzt, obwohl sie eigentlich zu eng ist, da sie auf die Meinungsverschiedenheit über Tatsachen nicht passt, die mit eingeschlossen sein sollen.

Die Beziehung zwischen Interessenkonflikten und Wertkonflikten ist vielschichtig. Jeder wird zugeben, dass Meinungen von Interessen beeinflusst werden können. Umgekehrt werden Meinungen vorgebracht, um damit Interessen durchzusetzen oder zurückzuweisen. So geschieht es auch im Rechtsstreit. Es ist ein Problem, ob es überhaupt reine Wertkonflikte geben kann oder ob letztlich jeder Wertkonflikt auf einen Interessenkonflikt zurückgeht, wie es manche behaupten. Es lässt sich aber nicht leugnen, dass jedenfalls im Bewusstsein der Menschen die Vorstellungen von Werten nicht immer unmittelbar mit Interessen verknüpft sind. Ein Wertkonflikt wird aber oft von einem Interessenkonflikt begleitet, der sich aus der Knappheit von Ansehen und Macht ableitet.

Die Bedingungen für die Lösung von Interessenkonflikten und Wertkonflikten sind verschieden. Viele Interessenkonflikte lassen sich als Verhandlungsspiel beschreiben. Die Logik der Situation ermöglicht den Parteien eine Einigung. Besonders wirtschaftliche Beziehungen bergen Interessenkonflikte. Sie werden gewöhnlich durch den Ausgleich von Angebot und Nachfrage reibungslos eliminiert. Jeder versucht, einen Verlust zu vermeiden und geht deshalb Kompromisse ein, z. B. weil es vorteilhafter ist, Ware zu bezahlen als gar keine zu erhalten und umgekehrt. Die typische Lösung eines Interessenkonflikts erfolgt daher durch eine Verhandlung und endet oft in der juristischen Form des Vertrages oder spezieller des Vergleichs. Soweit der Markt funktioniert, braucht der Kompromiss nicht einmal ausgehandelt zu werden.

Es gibt allerdings Situationen, in denen ein Kompromiss scheitert, weil eine Partei den Konflikt einseitig für sich entscheiden kann. Der Stärkere kann sich mit Gewalt nehmen, was der Schwächere ihm verweigert. Weniger krass liegt es, wenn die zum Kompromiß führende Verhandlung durch eine Ungleichheit der Parteien so beeinflußt wird, dass ein Teil die Bedingungen des Austausches für ungerecht hält. Für beide Fälle versucht das Recht im Verein mit anderen sozialen Normen mehr oder weniger erfolgreich eine einseitige Lösung des Konflikts zu verhindern.

Ungelöst bleibt der Interessenkonflikt auch dann, wenn er den Charakter eines Nullsummenspiels annimmt. Konflikte von dieser Art ergeben sich häufig dann, wenn im Zuge der Abwicklung von Tauschgeschäften eine Seite enttäuscht wird, wenn z. B. das gekaufte Auto vor der Übergabe gestohlen wird oder bald danach zusammenbricht. Dann erscheint der Streit um den Schaden, jedenfalls auf den ersten Blick, als Nullsummenspiel. Es gibt keinen Verhandlungsspielraum und keine konsensfähige Lösung. Eine Veränderung des status quo ist nur mit Hilfe situationsfremder Nötigung zu erreichen, die die Gestalt internalisierter oder durch Drohung mobilisierter Normen annehmen kann. Man darf allerdings bei Problemen dieser Art die Situation nicht voreilig als Nullsummenspiel interpretieren. Es hat eine Reihe von Untersuchungen gegeben, die mit sichtlicher Überraschung feststellen, dass jedenfalls innerhalb der Wirtschaft die große Mehrzahl auch ernsthafter Leistungsstörungen ohne Rechts- und Gerichtshilfe bereinigt wird[4]. Diese Beobachtung ist damit zu erklären, dass sich die Situation, spieltheoretisch betrachtet, nicht auf einen punktuellen Austausch beschränkt, sondern in eine Geschäftsverbindung eingebunden ist, die, ähnlich einem Arbeits- oder Mietverhältnis, als solche einen Wert darstellt und die Beteiligten zu einer langfristigen Kalkulation des Kooperationsgewinns veranlasst. Viele Konflikte, die als komplex eingeordnet werden, weil es zwischen den Parteien eine Vielzahl von Beziehungen gibt, lassen sich spieltheoretisch in ähnlicher Weise als Verhandlungsspiel deuten. Ihr Verlauf ist jedenfalls teilweise aus der Situationslogik des Verhandlungsspiels zu erklären.

Wertkonflikte müssen nicht unbedingt zum Streit führen, denn als bloße Vorstellungen in den Köpfen von Menschen können unterschiedliche Meinungen nebeneinander bestehen. Wo der Gegensatz zur Sprache kommt, kann man sich aus dem Wege gehen. Oft helfen Normen der Liberalität oder Toleranz, einen Streit zu vermeiden. Tatsächlich versagen sie jedoch nicht selten. Dann führen Wertkonflikte in Gestalt religiöser oder ideologischer Kämpfe zu besonders aggressivem Konfliktverhalten. Ein Grund dafür liegt wohl darin, dass die Parteien sich als Vertreter überindividueller Ansprüche verstehen, die von den Normen persönlicher Zurückhaltung befreit sind.

Auch ein Wertkonflikt kann grundsätzlich friedlich beigelegt werden. Es kommt vor, dass einer den anderen überzeugt. Kompromisse sind nicht ausgeschlossen. Besonders alltagsnahe Normen und Wertvorstellungen sind sehr flexibel. Aber meistens sind die Bedingungen für eine Kompromisslösung ungünstiger als beim Interessenkonflikt. Für einen Sonderfall des Wertkonflikts, nämlich für den Streit um die Wahrheit von Tatsachen[5], liegt der Grund dafür auf der Hand. Die Wahrheit ist ungeteilt und duldet keinen Kompromiss. Aber auch Normen und Werte werden oft mit einem wahrheitsähnlichen Absolutheitsanspruch vertreten. Darüber, ob man an Gott glauben soll, ob die Todesstrafe gerechtfertigt ist oder ob ein sozialistisches System der Marktwirtschaft vorzuziehen ist, kann man sich kaum einigen. Deshalb haftet Wertkompromissen ebenso wie Kompromissen über Tatsachen der Geruch des Unerlaubten an. Auch die Tauschbedingungen sind unsicher, denn es fehlt an einem Maßstab für die vergleichende Bewertung gegenseitigen Nachgebens. Das gilt verstärkt, wo Werte rationalisiert und systematisiert sind, wie es im modernen Recht der Fall ist. Die meisten Wertkonflikte und insbesondere alle rechtlichen Auseinandersetzungen haben daher prinzipiell den Charakter von Nullsummenspielen. Die Dichotomie von Recht und Unrecht kennt nur Gewinner und Verlierer.

Alexander Bogner hat die Unterscheidung Aubert aufgegriffen und sie zur Grundlage der Analyse von modernen Technikkonflikten gemacht, wie sie auf der politischen und gesellschaftlichen Ebene ausgetragen werden. Gestritten wird – um nur die prominentesten Felder zu nennen – um um Atomtechnik, Gentechnik, den Umgang mit Embryonen und um Klimafolgen. Alle diese Felder haben einen ökonomischen oder Interessenaspekt, einen wissenschaftlichen oder Risikoaspekt und einen Ethischen oder Wertaspekt. Während bei Aubert wissenschaftliche und ethische Konflikte einheitlich als Wertkonflikte behandelt werden, meint Bogner mit guten Gründen, dass sie sich doch soweit unterscheiden, dass man sie getrennt betrachten muss. Was eben als unterschiedlicher Aspekt angesprochen worden ist, wird bei Bogner zur Thematisierungsweise. Gemeint ist, was sonst in Soziologie und Medienwissenschaften als Rahmung oder Framing eines Diskurses angesprochen wird.

Frames (oder Skripts) sind zunächst ein psychologisches Konzept. Sie bezeichnen ein Format, in dem ein ein Basiswissen über typische Situationen und Abläufe gespeichert ist.[6] In jeder Handlungssituation haben die Teilnehmer Vorstellungen darüber, was gerade »gespielt wird«. Man bewegt sich im Straßenverkehr oder in der Familie, am Arbeitsplatz, in einer offiziellen Veranstaltung, im Kaufhaus oder im Museum. Jede Situation hat einen mehr oder weniger deutlichen Bezugsrahmen, der den Ereignissen einen Sinn verleiht und bestimmte Verhaltensweisen nahelegt, andere dagegen ausschließt. Bei Gericht kommt es vor, dass Zeugen ihre Aussagen um Details ergänzen, die sie gar nicht beobachtet haben, weil solche Details »dazugehören«.[7] Umgekehrt »fällt aus dem Rahmen«, wer als Zuschauer im Gerichtssaal Fragen stellt.

In die Soziologie ist die Rahmenanalyse durch Irving Goffman eingeführt worden. Hier ist das Format des Rahmens größer angelegt als in der Psychologie. Standardbeispiel der Psychologen ist die Konversation zwischen Gast und Kellner beim Bestellvorgang im Restaurant. Soziologen würden dagegen die Gesamtsituation des Restaurantbesuchs analysieren. In Medienforschung und Politikwissenschaft wird der Rahmen noch viel weiter gezogen. Hier bezeichnet der Rahmen unterschiedliche Formen der politischen Debatte oder der medialen Aufbereitung eines Stoffes. Die Medien verpacken ihre Themen als Konflikte, als Fragen der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft oder der Moral. Sie bieten Unterhaltung oder sie personalisieren, indem sie Einzelschicksale darstellen. Für Umwelt und Technikkonflikte beschreibt Bogner drei Thematisierungsweisen. Solche Konflikte werden als Interessenkonflikte, als Wissenskonflikte oder als Wertkonflikte ausgetragen. Im Alltag bleibt die Rahmung meistens unbewußt und wird jedenfalls kaum explizit gemacht. Die Politikwissenschaft interessiert sich dafür, wie etwa soziale Bewegungen oder die Medien die Rahmung eines Themas verändern.

Bogner analysiert, wie Technikkonflikte unter ökonomischen Aspekten als Interessenkonflikte, unter wissenschaftlichen Aspekten als Wissenskonflikte und unter ethischen Aspekten als Wertkonflikte thematisiert werden können. Seine These ist, dass sie zunehmend als ethisiert werden mit der Folge einer Kultur des Dissenses, d. h., Dissens wird beinahe zum Normalzustand. Die Rahmung als Wertkonflikt hat zur Folge, dass jeder, der sich an diesem Konflikt beteiligen will, dem ethischen Diskurs nicht ausweichen darf, wenn er überhaupt gehört werden will.

V. Die Verrechtlichung von Konflikten

Literatur: Günter Ellscheid, Die Verrechtlichung sozialer Beziehungen, in: Recht und Moral, Neue Hefte für Philosophie 17, 1979, 37 ff.; ders., Verrechtlichung und Entsolidarisierung, in: Gessner/Hassemer, Gegenkultur und Recht, 1985, 51 ff.

Ein Beobachter erkennt in vielen Konflikten sowohl Züge eines Interessenkonflikts als auch eines Wertkonflikts. Für den Konfliktverlauf kommt es jedoch auf die Sicht der Parteien an, die den Streit in der einen oder anderen Weise wahrnehmen. Ein Konflikt kann in verschiedenen Phasen als Interessenkonflikt, als Wertkonflikt oder als gemischter Konflikt ausgetragen werden. Rechtlich relevante Konflikte nehmen ihren Ausgang regelmäßig von Interessenkonflikten. Die Umwandlung in einen Wertkonflikt erfolgt, wenn eine Verhandlungslösung Schwierigkeiten bereitet. Wenn man sich für seinen Interessenstandpunkt auf Normen und Werte beruft, so geschieht das mit einem Richtigkeitsanspruch, der auch Außenstehende einschließt. Auf diese Weise läßt sich die Hilfe der Gesellschaft für die eigenen Interessen mobilisieren. Der Interessengegensatz wird als Meinungsverschiedenheit über bestimmte Tatsachen in der Vergangenheit oder die Anwendung bestimmter Normen auf den Streitfall formuliert und dadurch zum Wertkonflikt. Man schaut zurück auf Verträge, die die Parteien abgeschlossen, oder auf Handlungen, mit denen sie sich Schaden zugefügt haben, und auf Normen, die mit solchen Ereignissen den Erwerb von Rechten oder die Begründung von Pflichten verbinden. Die Bedürfnisse der Parteien, ihre Wünsche für die Zukunft, die den Interessenkonflikt ausgelöst hatten, treten in den Hintergrund.

Oft ist die Berufung auf Recht nur die Folge des schon zuvor offen ausgebrochenen Konflikts. Nicht selten ist sie aber selbst die Ursache. Sie kennzeichnet den Übergang einer Konkurrenzsituation in einen Konflikt im engeren Sinne (§ 51, 3 f) und damit zugleich eine psychologisch eine wichtige Veränderung. Die alltägliche Zuwendung zu anderen Menschen ist durch Gewohnheiten und einen gewissen Vertrauensvorschuss gekennzeichnet. Das ändert sich, wenn der gewöhnliche oder erwartete Verlauf der Dinge unterbrochen wird und Enttäuschungen entstehen. Wenn es nicht alsbald gelingt, das gestörte Interaktions- und Vertrauensverhältnis wiederherzustellen, schlägt die Grundstimmung in Misstrauen um. Der Partner wird zum Gegner.

Bei diesem Vorgang kann das Recht eine entscheidende Rolle spielen. Alle Sozialverhältnisse können heute mehr oder weniger unter rechtlichen Gesichtspunkten betrachtet werden (§ 54,2). Aber gewöhnlich bleibt diese Möglichkeit latent. Wer in einen Laden geht, um ein Kleid zu kaufen, weiß kaum, dass ein Vertrag geschlossen wird, denkt in diesem Augenblick nicht an Gewährleistungsansprüche und erst recht nicht an die Verkehrssicherungspflicht des Ladeninhabers. Selbst wenn sich der Rechtsbezug aufdrängt, etwa weil ein schriftlicher Vertrag geschlossen wird, bleibt es grundsätzlich bei der kooperativen Grundeinstellung. Deshalb werden Verträge, jedenfalls in Gegenwart des anderen, kaum genau gelesen, und erst recht nicht die allgemeinen Geschäftsbedingungen auf der Rückseite. Das betonte Bemühen um eine rechtliche Absicherung wirkt störend. Man vertraut darauf, dass alles gut gehen werde. Erst wenn diese Erwartung enttäuscht wird, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass sich die kooperative Grundeinstellung ändert. Wenn der frustrierte Teil seine Enttäuschung gegenüber dem anderen zum Ausdruck bringt, kommt es zu einer Art Neuverhandlung der Beziehungen. Oft gelingt es, das Vertrauensverhältnis wiederherzustellen. Dabei kann das Recht weiter im Hintergrund bleiben, selbst wenn allgemeine Gerechtigkeitsargumente oder gar rechtliche Gesichtspunkte eingeführt werden. Die Situation schlägt gewöhnlich um, sobald rechtliche Argumente stärker betont werden. Sie wirken nun als Drohung, Dritte – die Polizei, Anwälte oder Gerichte – zur Hilfe zu holen. Damit tritt an die Stelle der Kooperationsorientierung eine strategische oder taktische Einstellung. Das Vertrauen wird durch kalkuliertes Mißtrauen ersetzt.

Dieser Verrechtlichung genannte Umwandlungsvorgang ist nicht nur wichtig, weil er die Bedingungen für eine Konfliktregelung verändert, sondern auch deshalb, weil hier die eine Ursache vieler Entfremdungserlebnisse der Parteien im Rechtsstreit gelegt wird. Was sie erreichen können, bestimmt sich nicht länger nach ihren Wünschen, sondern nach Maßgabe rechtlicher Anspruchsgrundlagen. Relevant ist nicht länger, was die Parteien dafürhalten, sondern nur noch ein enger Ausschnitt aus der Vergangenheit, der durch die Anspruchsnorm vorgezeichnet ist.

VI. Die emotionale Komponente des Streits

Mit einer verhandlungstheoretischen Betrachtungsweise wird die Realität von Konflikten nicht ausgeschöpft, denn sie bezieht sich lediglich auf die rational nachvollziehbaren Elemente des Streits. Unübersehbar ist aber bei vielen Konflikten die emotionale Komponente, die von einem der Sache adäquaten Engagement bis hin zu einer alle rationalen Aspekte verdrängenden Aggressivität oder Apathie reichen kann. Vermutlich bildet der emotionale Aspekt des Konfliktgeschehens einen wichtigen Zugang zu den sogenannten tieferen Konfliktursachen. Um dieses »irrationale« Moment des Konfliktgeschehens zu erfassen, ist es hilfreich, auf Max Webers Handlungslehre (vgl. § 20) zurückzugreifen.

1. Wert- und zweckrationales Konfliktverhalten

Wertrationales Verhalten im Sinne Webers entspricht dem Wertkonflikt im Sinne Auberts, während der Interessenkonflikt dem zweckrationalen Handeln zugeordnet werden kann. Das Handeln im Blick auf bestimmte Zwecke und Ziele nannte Weber rational, weil es auf die Beziehung von Mittel und Zweck und damit auf das Kausalschema abstellt. Aber auch das Handeln im Hinblick auf Wertprinzipien wollte er als rationales Handeln verstanden wissen (nicht dagegen die Wahl dieser Wertprinzipien selbst). Auch bei den Konflikttypen Auberts haben wir es mit Modellen rationalen Verhaltens zu tun. Das zeigt sich darin, dass diese Konflikttypen spieltheoretisch interpretiert werden können, denn die Spieltheorie ist eine (normative) Theorie rationalen Entscheidens.

Wenn danach der Wertkonflikt und der Interessenkonflikt, wie Aubert sie beschrieben hat, dem wertrationalen und dem zweckrationalen Handeln bei Max Weber entsprechen, so liegt es nahe, nach Konflikttypen zu suchen, die den beiden anderen Typen der sozialen Handlung zugeordnet werden können.

2. Traditionales Konfliktverhalten

Konflikte, die durch traditionales Handeln gekennzeichnet sind, sind in der modernen Gesellschaft nicht leicht auszumachen. Wendet man den Blick aber zurück in einfachere Gesellschaftsformen, so steht als Prototyp traditionalen Konfliktverhaltens die Blutrache vor Augen. Blutrache ist Konflikt aus eingelebter Gewohnheit. Es ist freilich nicht immer ganz einfach, traditionales von wertrationalem Verhalten zu unterscheiden. Die Grenze ist fließend. Denn wo abstrakte Werte sich zu konkreten Verhaltensnormen ausformen, schlägt wertrationales in traditionales Verhalten um. Denkbar ist aber auch die umgekehrte Reihenfolge: Aus tradierten Normen werden erst nachträglich Wertprinzipien herausdestilliert. Mit diesem Unschärfevorbehalt lassen sich weitere Beispiele für traditionales Konfliktverhalten angeben. Zu denken ist etwa an die Händel von Korporierten und Offizieren ebenso wie an die traditionelle Feindschaft zwischen bestimmten Familien oder zwischen ethnisch, religiös oder territorial abgegrenzten Gruppen. Für ein aktuelleres Beispiel denke man an die Fanclubs, die ihre Bundesligamannschaften begleiten.

Als traditional im weiteren Sinne kann man auch solches Konflikthandeln in Betracht ziehen, das auf individuelles oder soziales Lernen zurückgeht. Bei der Auswertung von Interviewdaten ließ sich feststellen, dass 54 % der befragten Prozessparteien schon über frühere Prozesserfahrung verfügten[8]. Mindestens als Problem stellt sich die Frage, ob und ggf. wieweit die Austragung von Konflikten durch frühere Lernprozesse bestimmt wird. Die Daten geben Anlass zu der Vermutung, dass Parteien, die schon einmal einen Zivilprozess geführt haben, ganz gleich in welcher Rolle und mit welchem Erfolg, im Streitfall eher geneigt sind als andere, einen Anwalt aufzusuchen und vor Gericht zu gehen. Von ihren Vertretern, der großen Gruppe der Publikumsanwälte, kann man vielleicht sogar sagen, dass sie die Probleme ihrer Klienten kraft eingelebter Gewohnheit in justizielle Konflikte umwandeln. Jedenfalls ist es sinnvoll, bei der Suche nach traditionalen Elementen des Konfliktverhaltens alle Formen erlernter Konfliktstrategien einzubeziehen.

3.Emotionales Konfliktverhalten

Dem affektuellen Handeln im Sinne Max Webers entspricht eine weitere Art des Konfliktverhaltens, die man diffus-emotional nennen kann. Viele Konflikte begleitet ein emotionales Element, das nicht selten die wert- und zweckrationalen Elemente ganz verdrängt. So unterscheidet etwa Coser zwischen »echtem« und »unechtem« Konflikt. »Echte« Konflikte sind solche, die als Streit um Interessen oder Werte sichtbare Ziele haben, während »unechte« Konflikte Ausdruck feindlicher Emotionen sind, denen Aggressionen nicht Mittel, sondern Selbstzweck bedeuten.

Allerdings formuliert die einfache Gegenüberstellung von rationalem und emotionalem Verhalten und entsprechend von echtem und unechtem Konflikt nur kulturelle Stereotypen und legt damit eine abwertende Gleichsetzung von emotionalem mit irrationalem Verhalten nahe. Sie könnte zu der Diagnose führen: Wer immer sich vor Gericht aufregt, wird von irrationalen Emotionen getrieben, die mit dem Verhalten normaler Erwachsener nichts gemein haben und allenfalls in gründlicher psychologischer Analyse aufgehellt werden können. Solche pathologischen Fälle gehörten dann nicht in das Gerichtsverfahren; sie wären irgendwelchen psychologisch orientierten Diensten zu überstellen. Dieser Kurzschluss läßt sich vermeiden, wenn man den Typus des emotionalen Konfliktverhaltens mit einem interaktionistischen Konzept ausfüllt. Damit wird allerdings der Rahmen der Handlungslehre Max Webers ebenso verlassen wie zuvor schon mit der lerntheoretischen Interpretation traditionalen Konfliktverhaltens. Weber verstand unter affektuellem Handeln das Handeln aus einem aktuellen emotionalen Impuls. Solcher Affekt wird vielfach der Auslöser von Konflikten sein. Viele Konflikte begleitet aber auch dauerhaft ein emotionales Element, das sich oft erst im Laufe der Auseinandersetzung einstellt.

Gefühle sind subjektive, ganzheitliche Stellungnahmen, mit denen ein Mensch die Bedeutung von Personen, Sachen und Sachverhalten für sich selbst zum Ausdruck bringt. Wegen ihres genuin subjektiven Charakters sind Gefühle, anders als Urteile, nicht nachprüfbar. Sie entziehen sich einer Kategorisierung in richtig und falsch. Das bedeutet jedoch nicht, dass Gefühle der rationalen Einschätzung eines Sachverhalts zuwiderlaufen müssen. Einschätzung und gefühlmäßige Bewertung eines Sachverhalts können sich parallel oder gegenläufig verhalten. Ein Beispiel für Gleichgerichtetheit wäre der Ärger über einen Fehler, Beispiel für Gegenläufigkeit die Heiterkeit bei einer Beerdigung. Nach der Art der Übereinstimmung der Gefühlsreaktion mit einer verstehbaren Einschätzung der auslösenden Situation unterscheidet man emotionales Verhalten daher als adäquat oder inadäquat. So wäre etwa in einem Räumungsprozess angesichts der großen Bedeutung der Wohnung für die gesamte Lebensführung eines Menschen eine erhebliche Gefühlsbeteiligung eine adäquate Reaktion.

Aber auch solche Reaktionen, die im Hinblick auf den Gegenstand des Streits als inadäquat erscheinen, lassen sich oft noch erklären und verstehen. Als inadäquat gilt zum Beispiel die »Wut über den verlorenen Groschen«, eine intensive Gefühlsreaktion also, die in keinem Verhältnis zu dem nichtigen Anlass zu stehen scheint. Verständlich wird das Ausmaß der Gefühlsäußerung im Einzelfall aber dann, wenn man sie als Wut nicht über den Verlust des Groschens selbst, sondern über den Verlierer erklären kann, als Wut auf den, der sich als zu nachlässig, zu dumm oder zu ungeschickt, kurz als unfähig gezeigt hat, den Groschen zu bewahren. An den Verlust knüpft die Selbstdefinition als Versager. Die Gefühlsreaktion könnte als Stellungnahme zu dieser wenig schmeichelhaften Definition der eigenen Person in ihrer Intensität angemessen sein.

Einen zentralen Bereich der Persönlichkeit stellt das Selbstwertempfinden dar. Seine Bedrohung bedeutet für jeden Menschen eine gefährliche Situation, die mit hoher Wahrscheinlichkeit negative emotionale Reaktionen auslöst. Selbstwert ist jedoch nichts, was jemand hat oder nicht hat, sondern er wird gebildet, aufrechterhalten und modifiziert in der Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Umwelt, d. h. über weite Strecken in der Interaktion mit anderen Menschen (§ 23, 2).

In Interaktionen werden Mitteilungen gemacht. Ausdrücklich wird oft nur der Sach- oder Inhaltsaspekt angesprochen, bei einem Konflikt also der äußere Gegenstand des Streits. Zugleich besitzt aber jede Mitteilung einen Beziehungsaspekt[9]. Sie enthält, wenn auch in der Regel unausgesprochen, eine Einschätzung des Interaktionspartners, eine Bestätigung, eine Verwerfung oder eine Entwertung seiner Selbstdefinition. Eine Bestätigung sagt etwa: Du hast mit deiner Ansicht über dich Recht; ich sehe dich auch so. Dagegen sagt die Verwerfung: Du bist anders, und zwar schlechter, als du dich selbst siehst. Bestätigungen ziehen in der Regel keine merklichen Gefühlsreaktionen nach sich. Auf Verwerfungen antwortet der Betroffene dagegen leicht mit Emotionen.

Die Bedrohung des Selbstgefühls, die von einer Mitteilung nebenher transportiert wird, erklärt heftige Gefühlsreaktionen, die der objektiven Bedeutsamkeit der im Inhaltsaspekt der Mitteilung gegebenen Information nicht adäquat erscheinen. Damit lassen sich auch heftige Gefühlsreaktionen bei geringfügigen Anlässen erfassen. Bezieht man die Ebene der Interaktion ein und bedenkt, dass Interaktionsprozesse Prozesse der Selbstdefinition sind, wird z. B. der heftig verlaufende Streit nach einem Verkehrsunfall, dessen Kosten zudem die Versicherung trägt, erklärbar. Er bezieht seine Intensität aus der Zumutung zuzugeben, dass man beim Autofahren einen Fehler gemacht hat. Gestritten wird um die Berechtigung, den jeweils anderen als einen schlechten Autofahrer zu definieren. Erst recht vor Gericht, das auch außerhalb des Strafverfahrens vom Publikum als eine Instanz verstanden wird, von der Schuld zugemessen wird, ist ständig das eigene Selbstwertgefühl bedroht. Das gilt nicht nur für die Parteien, sondern auch gegenüber Zeugen, z. B. wenn ihre Wahrheitsliebe angezweifelt wird.

Erst in dieser interaktionistischen Interpretation gewinnt der Typus des emotionalen Konflikts einen differenzierten Gehalt, mag er auch nicht mehr der Vorstellung entsprechen, die Max Weber mit dem Typus des affektuellen Handelns verband. Um auch verbal den Abstand von Max Weber zum Ausdruck zu bringen, sprechen wir nicht mehr von einem emotionalen, sondern vom Beziehungskonflikt, den wir als Gegensatz zu den Sachproblemen verstehen, wie sie als Interessen- oder Wertkonflikt ausgetragen werden.

Wir unterscheiden danach vier Formen des Konflikts,

den Interessenkonflikt,

den Wertkonflikt,

den traditionalen Konflikt,

den Beziehungskonflikt.

Dabei soll es sich um idealtypische Konstruktionen im Sinne Max Webers handeln. Empirisch können sich alle vier Typen mischen. Derselbe Konflikt kann im Verlauf seine Gestalt wandeln. Ferner kann ein Konflikt von den Parteien unterschiedlich erlebt werden. In einem Streit, in dem es dem einen allein ums Geld geht, kommt es dem anderen vielleicht auf das Prinzip an. In einer Auseinandersetzung, die von einer Seite routinemäßig oder rational als Sachproblem gehandhabt wird, kann für die andere Seite das Beziehungsproblem im Vordergrund stehen. Rein rechnerisch sind so zehn Kombinationen möglich, die aber praktisch nicht alle von gleichem Interesse sind. Als Häufigkeitstypen scheinen folgende Kombinationen Bedeutung zu haben:

zweckrational ./. wertrational,

zweckrational ./. zweckrational,

wertrational ./. wertrational,

Sachproblem ./. Beziehungsproblem.

Diese Typologie gestattet es, den Verlauf von Konflikten und den Einfluss intervenierender Dritter besser zu beschreiben als es allein mit dem Begriffspaar Interessenkonflikt und Wertkonflikt möglich wäre. Hier muss zunächst der Hinweis genügen, dass rechtliche Verfahren nur das Sachproblem erfassen können, ein Gerichtsprozess daher immer dann zu unbefriedigenden Ergebnissen führen muss, wenn der Streit von einer oder beiden Parteien als Beziehungskonflikt erlebt wird[10]. Das ist einer der Gründe für die Forderung nach Alternativen zur Justiz (§ 88).
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[1] Nicholas Kaldor, Welfare Propositions of Economics and Interpersonal Comparisons of Utility, The Economic Journal 49, 1939, 549-552; John R. Hicks, Foundations of Welfare Economics, The Economic Journal 49, 1939, 696-712.

[2] Luhmann, Rechtssoziologie, 2. Aufl. S. 85.

[3] Wolfgang Hutmacher, Verkehrsunfälle vor Gericht, ZfRSoz 1983, 247-267, 250; Ross, Settled Out of Court, The Social Process of Insurance Claims Adjustment, 2. Aufl. 1980.

[4] Macaulay, Non-Contractual Relations in Business, ASR 28, 1963, 55 ff.; Hugh Beale/Tony Dugdale, Contracts between Businessmen: Planning and the Use of Contractual Remedies, British Journal of Law and Society 2, 1975, 45-60; Jacek Kurczewski/Kazimierz Frieske, Some Problems in the Legal Regulation of the Activities of Economic Institutions, LSR 11, 1977, 487-505.

Macaulay, “Relational Contracts Floating on a Sea of Custom? Thoughts About the Ideas of Ian Macneil and Lisa Bernstein,” 94 Nw. U. L. Rev. 775-804 (2000). [pdf]

[5] Psychologische Untersuchungen zur Verfahrensgerechtigkeit zeigen, dass es sich dabei um eine empirisch triftige Begriffsbildung handelt, vgl. Austin/Tobiasen, Legal Justice and the Psychology of Conflict Resolution, in: Folger, The Sense of Injustice, 1984, 227 ff., 252.

[6]  Paul Whitney, Schemas, Frames, and Scripts in Cognitive Psychology, in: International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences 2001, S. 13522-13526.

[7] E. F. Loftus, Eyewitness Testimony, Harvard University Press, Cambridge/Massachusetts, 1974.

[8] Vgl. Röhl u. a., Der Vergleich im Zivilprozeß, 1983; Ergebnisse insoweit unveröffentlicht.

[9] Watzlawick/Beavin/Jackson, Menschliche Kommunikation, 4.Aufl. 1977, 53 ff.

[10] Dazu Rainer Hegenbarth, Kommunikation vor Gericht, in: Röhl u. a., Der Vergleich im Zivilprozeß, 1983, 121-170.