§ 16 Zweck und Funktion, Bedürfnis und Interesse, Güter und Werte

I. Zwecke

Literatur zu I. und II.: Ulrich Beck/Boris Holzer/André Kieserling, Nebenfolgen als Problem soziologischer Theoriebildung, in: Ulrich Beck ua. (Hg.), Die Modernisierung der Moderne, 2001, 63-81; Stefan Böschen/Nick Kratzer/Stefan May, Die Renaissance des Nebenfolgentheorems in der Analyse moderner Gesellschaften, in: Stefan May u. a. (Hg.), Nebenfolgen. Analysen zur Konstruktion und Transformation moderner Gesellschaften, 2006, 7-38; Rudolf von Ihering, Der Zweck im Recht, Bd. 1, 1877; Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, 1968; Brian Z. Tamanaha, Law as a Means to an End, 2006.

Zwecke sind die beabsichtigten Folgen einer Handlung. Handlung soll hier die Überführung einer Situation in eine andere genannt werden. In diesem Sinne handelt der Bürger, wenn er arbeitet oder kauft, aber auch, wenn er Verträge bricht oder stiehlt. Es handeln der Richter, wenn er über eine Klage urteilt, und das Parlament, wenn es neue Gesetze berät und beschließt. Als Situation bezeichnen wir ein Gefüge von irgendwelchen Beziehungen zwischen Personen und Gegenständen. »Situation« ist immer nur ein Ausschnitt aus der Welt.

Für die Frage, wie die Situation von den handelnden Personen »definiert« wird, sind Psychologie und Soziologie zuständig; zur Orientierung und als Quelle für Nachweise vgl. Hartmut Esser, Die Definition der Situation, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1996, 1. Vgl. ferner Ingo Schulz-Schaeffer, Die drei Logiken der Selektion. Handlungstheorie als Theorie der Situationsdefinition, Zeitschrift für Soziologie 37, 2008, 362–379; ders., Handlungszuschreibung und Situationsdefinition, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 61, 2010, 159-182.

Wer sich nicht treiben lässt, sondern sinnvoll handeln will, muss sich Ziele oder Zwecke setzen und nach Mitteln fragen, mit denen sie verwirklicht werden können. Er muss also fragen, welche Verhaltensweisen (= Mittel) geeignet sind, eine gegebene Ausgangssituation in eine gewünschte andere Situation (= Zweck) zu überführen. Ein Zweck kann darauf beschränkt sein, den gegebenen Zustand vor Veränderungen zu bewahren, eine Entwicklungstendenz zu beschleunigen oder sie zu bremsen.

Ziel oder Zweck einer Handlung ist also die Überführung der gegebenen Situation in eine bestimmte andere. Ich gehe zum Bäcker, um mir ein Brot zu holen, das ich vorher nicht hatte. Dabei ist das unmittelbare Ziel oft nur eine Zwischenstation, also seinerseits nur Mittel zu einem ferneren Zweck. Das Brot soll mir dazu dienen, beim Frühstück meinen Hunger zu stillen. Wenn das Brot schmeckt und auch der Kaffee duftet, ist das Frühstück ein Genuss und damit Zweck an sich selbst. Das schließt nicht aus, die Mahlzeit ihrerseits als Mittel zu einem ferneren Zweck anzusehen, nämlich als Mittel, um leistungsfähig, gesund und letztlich überhaupt am Leben zu bleiben. So kann derselbe Zweck gleichzeitig bloß als Zwischenstation und als Selbst- oder Endzweck erscheinen.

Zwecke lassen sich relativ eng und konkret oder weit und abstrakt formulieren. Sie werden umso abstrakter, je mehr man sich einem Endzweck nähert. Von einem Zweck ist jedoch nur solange die Rede, wie ein erstrebter Zustand so genau angegeben wird, dass sich nach Einsatz der vorgesehenen Mittel beurteilen lässt, ob der Zweck erreicht ist. Um einer Krankheit vorzubeugen, lasse ich mich impfen. Um Heizkosten zu sparen, versehe ich mein Haus mit einer Isolierung. Will ich Sonne genießen, buche ich eine Reise an das Mittelmeer. Zweck einer Handlung ist eine operational beschriebene künftige Situation.

Die Auswahl zwischen den vielen denkbaren und vielleicht auch realisierbaren Zwecken trifft der Einzelne, soweit sie in seiner Macht steht, nach Maßgabe seiner Interessen.

II. Kosten, Nebenfolgen und Funktionen

Literatur: Ulrich Beck/Boris Holzer/André Kieserling, Nebenfolgen als Problem soziologischer Theoriebildung, in: Ulrich Beck ua. (Hg.), Die Modernisierung der Moderne, 2001, 63-81; Stefan Böschen/Nick Kratzer/Stefan May, Die Renaissance des Nebenfolgentheorems in der Analyse moderner Gesellschaften, in: Stefan May u. a. (Hg.), Nebenfolgen. Analysen zur Konstruktion und Transformation moderner Gesellschaften, 2006, 7-38.

Funktionen sind Wirkungen, die eintreten ohne Rücksicht darauf, ob sie bezweckt worden sind.

Im römischen Recht verstand man unter functio die einer Person oder Institution obliegende öffentliche Aufgabe mit den zu ihrer Wahrnehmung erforderlichen Rechten und Pflichten, Amtshandlungen und Tätigkeiten. In Mathematik und Physik bezeichnet Funktion die Abhängigkeit einer Größe f von anderen Größen g1 … gn. In der Soziologie wird der Funktionsbegriff vor allem im Zusammenhang mit der Systemtheorie verwendet. Er bezeichnet dort die Wirkung von Handlungen ohne Rücksicht darauf, ob sie beabsichtigt waren oder nicht.

Eine Zweckanalyse ist zielgerichtet = teleologisch. Sie vergleicht Wirkungen mit den Absichten handelnder Personen. Eine Funktionsanalyse ist demgegenüber »systematisch«. Sie untersucht Wirkungen im Hinblick auf ihre Bedeutung in einem System, das heißt, in einem Komplex von Elementen, die sich als zusammengehörig von einer Umwelt unterscheiden lassen (u. § 69 I). Juristen unterscheiden nicht immer zwischen Zweck und Funktion. Ein Beispiel dafür ist die Diskussion der Prozesszwecke.

Nach dem Vorschlag des amerikanischen Soziologen Robert K. Merton unterscheidet man zwischen latenten und manifesten sowie zwischen intendierten und nicht intendierten Funktionen. Manifeste Funktionen sind solche, die offen zu Tage liegen. Latente Funktionen sind dagegen den im System handelnden Personen zunächst verborgen oder jedenfalls nicht ohne weiteres bewusst. Intendierte Funktionen sind Wirkungen, die von den im System handelnden Personen beabsichtigt oder angestrebt werden. Es handelt sich also um Zwecke. Nicht intendierte Funktionen sind solche, die eintreten, obwohl sie nicht bezweckt sind. Es handelt sich also um die Nebenfolgen von Handlungen. Sie können sich als positiv oder als negativ erweisen, je nachdem, ob sie sich mit vorhandenen Interessen decken oder ihnen zuwiderlaufen.

Nebenfolgen besonderer Art sind die mit jeder Zweckverfolgung verbundenen Kosten. Mittel sind knapp. Deshalb kann jedes Mittel, das zur Erreichung eines Zwecks eingesetzt wird, unter dem Gesichtspunkt der Kosten betrachtet werden, weil es nicht mehr für andere Zwecke zur Verfügung steht. Am deutlichsten zeigt sich das beim Geld. Das Geld, das ich für Brötchen ausgegeben habe, kann ich nicht mehr zum Kauf eines Lehrbuchs verwenden. Das gilt im Prinzip aber auch für alle anderen Mittel. Während ich im Kino einen Film ansehe, kann ich nicht im Fitnessstudio trainieren. Jede Handlung hat, wie es die Ökonomen nennen, Opportunitätskosten.

Alle diese Überlegungen stecken schon in Max Webers Formulierung der Zweckrationalität. Deshalb sei daran erinnert, dass das Zweck-Mittelschema aus verschiedenen Richtungen problematisiert wird.

Erstens ist da die Horkheimers Kritik der instrumentellen Vernunft. »The End of Reason«, von Max Horkheimer, 1941 im Exil in Los Angeles verfasst[1], kritisiert, dass die Vernunft entgegen den Hoffnungen der Aufklärung die Menschheit »nicht in einen wahrhaft menschlichen Zustand« gebracht, sondern im Gegenteil sich als bloß »instrumentelle Vernunft« in den Dienst von Wirtschaft und Technik und letztlich von Despotismus und totalitärer Ideologie gestellt habe. Die Emphase, mit der Horkheimer seine Kritik vortrug, und die Wucht, die diese Kritik in der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule entfaltet hat, waren in der historischen Situation in und nach der nationalsozialistischen Tyrannei bitter notwendig. Aus heutiger Sicht hat sie jedoch eine unerwünschte Nebenwirkung, weil sie den Vernunftbegriff schlechthin in Misskredit gebracht hat, wiewohl nicht Vernunft als solche, sondern ihre Überdehnung, ihre schleichende Entartung und der offene Missbrauch zu kritisieren waren. Später ist die »Kritik der instrumentellen Vernunft« zu einer Kritik an der Moderne geworden. Sie besagt ganz grob formuliert, dass nicht ein Wünschbares, sondern das Machbare die gesellschaftliche Entwicklung geprägt habe.

Zweitens ist klar geworden, dass Zweckrationalität nur auf der Handlungsebene funktioniert. Anders als Max Weber es sich vorgestellt hatte, sind Organisationen – bei Weber die Bürokratie – nicht einfach Mittel zum Zweck, sondern sie führen sozusagen ein Eigenleben.[2] Das gilt erst recht, wenn man sich mit Luhmann auf die Systemebene begibt.[3]

Drittens hat der Anlauf zur Kybernetik nach dem zweiten Weltkrieg, der insbesondere mit dem Namen Norbert Wieners verbunden ist, eine Diskussion hervorgerufen, in der kritisiert wird, dass Kybernetik letztlich einer Art Maschinenentelechie anhänge.[4]

Schließlich kann man Michael Polanyis Konzept des tacit knowlege als Kritik des Zweck-Mittel-Modells lesen, denn das Konzept besagt, dass vieles im Halbbewussten oder Unbewussten abläuft, wo für Zwecksetzung kein Raum ist.

Daraus folgt aber nicht, dass das Zweck-Mittel-Modell obsolet wäre. Zweck und Mittel sind nicht alles. Aber ohne Zweck und Mittel wäre vieles nicht.

III. Bedürfnis und Interesse

Literatur: Christoph Antweiler, Was ist den Menschen gemeinsam?, 2. Aufl., 2009; Philipp Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, 1912; ders., Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112, 1914, 1-318; ders., Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932; ders., Interessenjurisprudenz, 1933; Peter Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, Nachdruck mit Nachtrag 2006; Ernst-Joachim Lampe, Rechtsanthropologie heute, ARSP Beiheft 44, 1991, 222-235; ders., Zur Frage nach dem »richtigen Recht«, in: Günter Dux u. a. (Hg.), Moral und Recht im Diskurs der Moderne, 2001, 253-282; Abraham H. Maslow, Motivation and Personality, 1954; Roscoe Pound, A Survey of Social Interests, Harvard Law Review 57, 1943, 1-39; John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975 (A Theory of Justice, 1971); Hartwig Schuck, Wie objektiv sind Interessen?, Facetten und Funktionen des Interessenbegriffs in kritischen Analysen sozialer Verhältnisse, Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie, 2014, 298-324.

Die Auswahl von Handlungszwecken erfolgt nach Maßgabe von Interessen. Der Interessenbegriff ist tückisch, weil er sowohl »subjektiv« als auch »objektiv« verwendet wird. Der hier subjektiv genannte Interessenbegriff ist empirisch oder anthropologisch, der objektive dagegen normativ. Nicht selten wechselt der Sprecher unter der Hand von der einen zur anderen Bedeutung.

Die (subjektiven) Interessen eines Menschen bestehen in seinen von ihm selbst wahrgenommenen Bedürfnissen. Interessen im subjektiven Sinne sind die Wünsche und Bedürfnisse Einzelner, des Klägers und des Beklagten, eines bestimmten Mieters oder Vermieters, eines Bauwilligen und seiner Nachbarn, oder die Interessen eines Kindes, Unfallopfers oder Tennisspielers. Interessen in diesem subjektiven Sinne sind auch noch die gleichgelagerten Wünsche und Bedürfnisse bestimmter Interessengruppen, also der Vermieter und der Mieter, der Grundeigentümer, der Presse usw.

Individuen haben nicht nur plumpe materielle Bedürfnisse, sondern sie beurteilen eigene und fremde Bedürfnisse auch unter dem Gesichtspunkt von Werten, die sie sich zu Eigen machen. Ein Individuum kann ein Interesse auch am Wohlergehen anderer haben. Subjektive Interessen müssen nicht egoistisch sein; sie können altruistisch oder, wie Heck es nannte, auch »ideale« Interessen sein. Interessen können von Vorstellungen über Werte geleitet werden.

Während der subjektive Interessenbegriff darauf abstellt, was ein Mensch tatsächlich wünscht oder will, schreibt der objektive Interessenbegriff den Subjekten vor, was sie wünschen sollen, was für sie gut und richtig ist. Er beruht damit auf einer Idee vom guten oder wertvollen Leben. Wenn man den Unterschied deutlich machen will, redet man von berechtigten, allgemeinen, verallgemeinerungsfähigen oder öffentlichen Interessen. In neueren Gesetzen wird der objektive Interessenbegriff gelegentlich durch »Belange« ersetzt, so in § 1 VI BauGB, wo von den Belangen der Wirtschaft, des Umweltschutzes usw. die Rede ist. Hier handelt es sich immer schon um die »berechtigten« Belange. In Gutachten und Urteilsgründen spricht man oft vom »Schutzbedürfnis« einer Partei, des Verbrauchers, Mieters usw., wenn subjektive Interessen als berechtigte anerkannt werden sollen.

Vielfach weiß man nicht, was die Menschen wünschen und wollen. Man kann sie auch nicht immer fragen. Dann muss man Mutmaßungen über ihre Wünsche anstellen. Oft macht man sich aber gar nicht mehr klar, ob man eigentlich Mutmaßungen über die subjektiven Interessen der Betroffenen ausspricht oder ob man ihnen als »Interesse« zuschreibt, was man für sie als gut und richtig ansieht. Ähnliche Übergänge treten auf, wenn kurzfristige und langfristige Interessen zur Debatte stehen. Kurzfristig mag es im Interesse eines Jugendlichen liegen, ein Auto zu besitzen. Langfristig wäre es für ihn meistens besser, wenn er sich die damit verbundenen Schulden ersparte und sich durch Fußmärsche und Radfahren Bewegung verschaffte. Wenn wir ihn nur richtig aufklärten, würde er vermutlich selbst auf seine aktuellen Wünsche zugunsten seiner langfristigen Interessen verzichten. Ein Beobachter ist leicht geneigt, unterstellte langfristige Interessen eines Individuums dessen aktuellen subjektiven Interessen vorzuziehen. Eine solche Verschiebung stellt sich auch ein, wenn es um die Interessen einer Gruppe geht. Die konkreten Wünsche ihrer Mitglieder laufen keineswegs immer konform. Was für die Gesamtheit der Mieter nützlich ist, liegt nicht immer auch im Interesse jedes Einzelnen. Die Zusammenfassung der individuellen Wünsche zu einem gemeinsamen Interesse bedeutet daher regelmäßig schon eine Objektivierung. So kommt es zu der verbreiteten, fast unvermeidbaren Ambivalenz des Interessenbegriffs.

Philipp Heck, der Begründer der Interessenjurisprudenz, verstand unter den Interessen die »Lebensbedürfnisse« oder die »in der Rechtsgemeinschaft vorhandenen Begehrungen und Begehrungstendenzen«, die »materiellen« wie die »idealen«. Dieser Interessenbegriff ist subjektiv. Er geht aus von der aktuellen Interessenlage. Dann wechselt Heck vom subjektiven zum objektiven Interessenbegriff. Das Gesetz – so seine Vorstellung – zieht die Grenzlinie zwischen den gegenläufigen Interessen, es entscheidet Interessenkonflikte. Die Entscheidung erfolgt ihrerseits auf Grund von »Gemeinschaftsinteressen« des Gesetzgebers. Als solche kommen in Betracht das Interesse an der Sicherheit des Rechtsverkehrs, an Eigentumsschutz, Mieterschutz usw., also an Rechtsgütern im weitesten Sinne. Die von Heck so genannten Gemeinschaftsinteressen sind nicht mehr reale Interessen bestimmter Individuen, sondern Gesichtspunkte zur Bewertung und Abgrenzung subjektiver Interessen.

Könnten Anthropologie oder Soziologie einen Bedürfniskatalog aufstellen und gar noch eine Rangordnung der Bedürfnisse angeben, dann ließe sich die Interessenjurisprudenz auf eine empirische Grundlage stellen. Sicher existieren biologische Grundbedürfnisse nach Nahrung, Kleidung oder jedenfalls Wärme, Befriedigung der Sexualität und Schlaf.

Zu Funktionserfordernissen, die sich entweder auf somatische oder auf kulturelle Eigenschaften beziehen Andreas Bruck, Lebensfragen: Eine paktische Anthropologie, 1997. Gewisse Daseinsgrundfunktionen lassen massenstatistisch erfasen, z B. Essen, Wohnen, Arbeiten, Konsumieren, sich bilden, sich unterhalten, sich erholen.

Aber diese vitalen Bedürfnisse lassen sich auf sehr verschiedene Art und Weise erfüllen. Und jede Art der Bedürfnisbefriedigung zieht neue, abgeleitete Bedürfnisse nach sich. Aus jeder Problemlösung ergeben sich Folgeprobleme, die nach einer Lösung verlangen. Die Erfindung von Werkzeugen etwa, hervorgerufen durch das Bedürfnis nach Nahrung, wirft die Frage auf, wer darüber verfügen darf und wie ein Missbrauch als Waffe verhindert wird. Die Befriedigung der Sexualität bringt Kinder und oft einen gemeinsamen Haushalt mit sich. Daraus entsteht Arbeit, die unterschiedlich verteilt und in verschiedenen Formen geleistet werden kann.

Sekundäre Bedürfnisse entstehen nicht nur zwangsläufig aus Folgeproblemen, sondern sie entwickeln sich sozusagen wildwüchsig, wo immer nach der Befriedigung des Existenzminimums noch Kraft verbleibt. Zunächst wollen wir nur essen und trinken. Doch alsbald genügt es uns nicht mehr, dass wir satt werden, sondern wir wünschen auch, dass es uns schmeckt. Wir möchten auch nicht mehr bloß aus der Hand essen, sondern mit Messer und Gabel vom Teller speisen. Später sind wir auch mit der Funktionalität von Messer, Gabel und Löffel nicht mehr zufrieden. Wir entwickeln ästhetische Bedürfnisse. Das Besteck muss aus Silber und der Tisch kunstvoll dekoriert sein. Damit erfüllen wir zugleich unser Geltungsbedürfnis, indem wir anderen unsere Ess- und Tischkultur vorzeigen. Doch auch damit nicht genug. Wir wollen auch noch über unsere Ess- und Tischsitten reflektieren. So sind menschliche Bedürfnisse zwar alle mehr oder minder auf einen biologischen Ausgangspunkt bezogen. Sie sind dadurch aber keineswegs determiniert. Vielmehr ist es die soziale Überformung, die den Bedürfnissen jeweils ihre konkrete Gestalt gibt.

Diese These der abgeleiteten Kulturbedürfnisse geht zurück auf den Anthropologen Bronislaw Malinowski. Ihr trägt die Bedürfnispyramide des Psychologen Abraham H. Maslow Rechnung. Maslow ordnet die menschlichen Bedürfnisse in fünf Stufen.

  • Die Basis bilden physiologische Bedürfnisse wie Hunger und Durst oder nach Schutz vor Hitze und Kälte (physiological needs).
  • Auf der zweiten Stufe finden sich Sicherheitsbedürfnisse (safety needs): Das Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz vor Schmerz, Furcht, Angst und Ungeordnetheit, aber auch das Bedürfnis nach schützender Abhängigkeit, nach Ordnung, Gesetzlichkeit und Verhaltensregelung.
  • Darüber liegt eine Schicht sozialer Bindungsbedürfnisse (needs for belongingness and love): Der Wunsch nach Liebe und Zärtlichkeit, nach Geborgenheit, sozialem Anschluss und nach Identifikation.
  • Weiter unterscheidet Maslow eine Schicht sogenannter Selbstachtungsbedürfnisse (esteem needs): Es handelt sich um Bedürfnisse nach Leistung, nach Geltung oder Zustimmung.
  • An der Spitze der Pyramide sind Selbstverwirklichungsbedürfnisse angesiedelt (self-actualization needs): Selbsterfüllung in der Realisierung der eigenen angelegten Möglichkeiten und Fähigkeiten; das Bedürfnis nach Verstehen und Einsicht.

Eine empirische Interessenjurisprudenz könnte sich nicht damit begnügen, mögliche Bedürfnisse zu beschreiben, sondern sie müsste die Bedürfnisse der Menschen vergleichend bewerten, um ihnen im Streitfall die stets knappen Mittel zur Bedürfnisbefriedigung zuzuweisen. Sie steht damit vor dem Problem der intersubjektiven Nutzenmessung.

Jenseits des Existenzminimums bestimmen sich Art und Stärke der individuellen Bedürfnisse nicht mehr nach der Natur, sondern nach der Kultur. Was wir für unser Bedürfnis halten, haben wir meistens von anderen gelernt. Bei jedem Menschen treffen wir auf eine andere Mischung von erlernten Bedürfnissen und Sättigungsgraden. Nicht einmal die Bewertung eines Reizes als positiv oder negativ ist konstant. Wahrscheinlich gibt es einige Reize, deren Belohnungscharakter biologisch und damit in gewisser Weise absolut ist: Wärme, Nahrung, sexuelle Befriedigung. Umgekehrt werden Schmerz und körperliche Gebrechen oder Entzug der Bewegungsfreiheit praktisch immer als negative Güter zu gelten haben. Meistens ist der positive oder negative Wert eines Reizes jedoch nur sozial determiniert. Wie anders könnte man die biologisch höchst unwahrscheinliche Tatsache erklären, dass es Menschen gibt, die die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes als eine Belohnung empfinden? Der Wert eines Reizes wächst oder schwindet je nach dem, in welchem Maße auch andere ihn schätzen. Hier wirken Mode und Markt.

Howard S. Becker hat die Gewöhnung an den Marihuana-Konsum beschrieben. Marihuana ist, wie viele andere Konsumobjekte auch, nicht von vornherein erstrebenswert. Es erschließt sich dem Konsumenten erst, wenn ihm gezeigt wird, wie es richtig zu konsumieren ist. Eine Untersuchung von Claudio E. Benzecry[5] zeigt, wird man zum Opernfan wird. Es ist weniger die Herkunft und Erziehung zur Hochkultur, sondern die Kennerschaft der Fangemeinde. Das Teatro Colón in Buenos Aires ist mit fast 2500 Sitzplätzen und eintausend Stehplätzen wohl das größte Opernhaus der Welt. Dort sind die oberen Ränge jeden Abend mit vier bis sechshundert Zuschauern besetzt, die meist mehrfach in der Woche die Oper besuchen. Ihre Opernbegeisterung ist kaum durch Elternhaus oder sonstige Erziehung angelegt worden. Bei fast allen gab eine erste musikalische Erfahrung – Radio, Konzertbesuch, Schallplatte – den Anstoß. Danach begann eine ganze Stufenfolge von Lernschritten, die sie zu Opernfans machten. Sie lernen durch Gespräche beim Warten auf Karten, vor den Aufführungen und in den Pausen und auf der oft sehr langen Heimfahrt im Bus. Die Unterhaltung greift von der aktuell besuchten Oper aus auf Vergleichsfälle: dieselbe Oper mit anderen Sängern oder in anderen Häusern und führt weiter etwa zu Komponistenvergleichen. Die Gemeinschaft der Opernfans ist nicht exklusiv. Fragen werden stets einladend gestellt. Wenn das Gegenüber nicht mithalten kann, garantiert der beidseitige Enthusiasmus, dass asymmetrisches Wissen akzeptiert und nicht zur Demonstration von Überlegenheit ausgenutzt wird. Man besucht Vorträge, die das Theater organisiert und lässt sich über Musikgeschichte im allgemeinen und das anstehende Werk im Besonderen informieren, und weiß nicht selten mehr als die Referenten, freut sich aber trotzdem am Wiedererkennen. Schließlich weiß man als Kenner, wann der richtige Zeitpunkt für Beifall oder Buhrufe gekommen ist.

Die soziale Determinierung eines Reizes als Belohnung ist manchmal kaum weniger eindeutig als die Prägung durch biologische Bedürfnisse. Geld und leicht in Geld tauschbare Gegenstände werden mit ähnlicher Sicherheit honoriert wie Wärme und Nahrung. Aber in anderen Fällen ist die positive oder negative Billigung eines Reizes ganz offen. Dazu brauchen wir nicht einmal so abseitige Beispiele wie den Masochisten heranzuziehen, der Schläge als Belohnung empfindet. Um die Ambivalenz von Reizen zu erkennen, genügt es, an jene afrikanischen Stämme oder studentischen Verbindungen zu denken, die Schmucknarben für erstrebenswert halten. Für den einen ist Rockmusik eine Qual, für den anderen höchster Genuss. Man muss erst lernen, Austern und Kaviar Geschmack abzugewinnen, und mancher lernt es nie.

Nicht nur die Art der Bedürfnisse variiert, sondern nicht minder deren Intensität. Alle Bedürfnisse bestehen nur relativ zu ihrem aktuellen Befriedigungsstand (Gesetz vom abnehmenden Gratifikationswert). Wer gerade gegessen hat, lässt sich kaum durch das Angebot einer Mahlzeit locken. Eskimos brauchen keine Klimaanlage, Tropenbewohner keine Heizung. Was dem Armen ein Vermögen bedeutet, ist für den Reichen nur ein Taschengeld.

Jenseits des Existenzminimums sind alle Mittel zur Bedürfnisbefriedigung bis zu einem gewissen Grade substituierbar. Jedes Bedürfnis kann auf verschiedene Weise befriedigt werden. Jedes Angebot befriedigt verschiedene Bedürfnisse. Die Folge ist, dass nur der Betroffene selbst seine Bedürfnisse wirklich kennt und sie einschätzen kann. Es kann nur jeder selbst entscheiden, ob er seine begrenzten Mittel lieber für Essen oder für Trinken, für Wohnung oder für Kultur, für Reisen oder für Spenden aufwenden will. Deshalb gibt es für das Problem der intersubjektiven Nutzenmessung keine Lösung. Es fehlt an einem empirischen Maßstab. Wo es einen Markt gibt, löst er das Problem in einem Tauschprozess. Am Markt stehen sich individuelle Bedürfnisse als potentielle Tauschwünsche gegenüber, und nur die stärksten Bedürfnisse werden in einem Tauschvorgang realisiert. So lenkt der Markt knappe Ressourcen an die Stellen, wo sie den größten Nutzen stiften. Wo ein Markt fehlt oder der Markt versagt, muss das Recht eintreten. Deshalb bleibt es Juristen nicht erspart, immer wieder Bedürfnisse und die Mittel zu ihrer Befriedigung vergleichend zu bewerten.

Man kann das ganze Recht als eine Veranstaltung zur vergleichenden Bewertung widerstreitender Interessen begreifen. Damit ist nur die Aufgabe bezeichnet, nicht die Lösung.

Lampe hat eine Liste von 17 »rechtserheblichen menschlichen Grundbedürfnissen« zusammengestellt. Diese Liste ist statisch und vernachlässigt damit den Gesichtspunkt der primären und der abgeleiteten Bedürfnisse ebenso wie das Problem der intersubjektiven Nutzenmessung. Für das Recht kommt es aber, wie gesagt, gerade auf eine vergleichende Bewertung widerstreitender Interessen an. Immerhin verhilft ein solcher Katalog zu einem Maßstab der Rechtskritik. Recht, das die menschlichen Grundbedürfnisse nicht gewährleistet, ist – in der Formulierung Lampes – nicht »menschengerecht«.

Um jedenfalls einen Ausgangspunkt festzulegen, lässt sich an eine Überlegung von John Rawls anknüpfen. Rawls akzeptiert, dass es prinzipiell nicht möglich ist, die persönlichen Präferenzen, Ziele und Wertvorstellungen der Individuen zu kennen. Er nimmt jedoch an, dass die Chancen jeder Person, ihre subjektiven Interessen zu realisieren, davon abhängen, in welchem Umfang sie über gewisse gesellschaftliche Grundgüter (primary social goods) verfügt. Das sind Güter, die jeder vernünftige Mensch in möglichst großem Umfang haben möchte, weil er weiß, dass sie seinen Interessen dienlich sind, worin auch immer diese Interessen bestehen mögen. Solche Güter sind nach Rawls (S. 82, 111 ff.) bürgerliche Freiheiten und politische Rechte, soziale Chancen, Einkommen, Vermögen und die sozialen Grundlagen der Selbstachtung. Über die Minimalausstattung mit solchen Grundgütern lässt sich trefflich streiten. Doch steht außer Streit, dass das Recht eine Grundausstattung vorzusehen hat. Rawls spricht insoweit von Basisgerechtigkeit. Im juristischen Diskurs spricht man von Menschenwürde.

IV.  Norm und Zweck

Jede Norm kann als Mittel zum Zweck betrachtet werden. Die StVO dient der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs. Zu diesem Zweck ordnet sie die Einhaltung von Vorfahrtsregeln, Geschwindigkeitsbegrenzungen oder speziellen Vorsichtsmaßnahmen an. § 311b BGB dient dem Schutz von Käufer und Verkäufer vor den oft schwerwiegenden Folgen eines nicht hinreichend bedachten Grundstücksgeschäfts. Mittel zum Zweck ist die notarielle Beurkundung. § 185 StGB dient dem Schutz der Ehre. Mittel zum Zweck ist die Strafbewehrung. Aus der Sicht des Normgebers sind Rechtsnormen, indem sie Handlungen vorschreiben, ein Mittel, um bei einem gegebenen Ausgangszustand ein bestimmtes rechtspolitisches Ziel durchzusetzen, das wir als den Zweck des Gesetzes bezeichnen.

Hat man sich für einen Zweck entschieden, lässt sich innerhalb der Grenzen des empirischen Wissens angeben, welche Normen als Mittel eingesetzt werden müssen, um das Ziel zu realisieren. Um die Kinderlähmung zu bekämpfen, wird eine Impfpflicht eingeführt. Um die Zahl der Verletzten und Toten im Straßenverkehr zu senken, wird das Anlegen von Sicherheitsgurten angeordnet. Ein Vorruhestandsgesetz soll die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Später lässt sich dann feststellen, ob das Ziel erreicht worden ist oder jedenfalls messen, um wie viel das Ziel näher gerückt ist. Kinderlähmung ist durch die Impfung praktisch ausgerottet worden. Die Zahl der Verletzten und Toten im Straßenverkehr ist gesunken. Dagegen hat sich die Zahl der Arbeitslosen nicht verringert. Solche Beispiele können nur das Grundmuster andeuten. Sieht man genauer hin, erweist sich die Ermittlung der Wirkungen eines Gesetzes im Vergleich mit dem Zweck des Gesetzgebers als schwierig, denn oft sind schon die Zielvorstellungen unklar, und die Wirkungen eines Gesetzes lassen sich kaum isolieren und sind meistens vielfältig. Hier hat die Rechsdwirkungsforschung ihre Aufgabe.

Rechtsnormen haben häufig weniger konkrete Ziele. Sie dienen dem Tierschutz oder der Wettbewerbsfreiheit, der Markttransparenz oder der Medienvielfalt. Je allgemeiner die »Zwecke« werden, umso eher spricht man von Rechtsgütern und schließlich von Werten.

V.  Rechtsgüter als kollektive Güter

Literatur: Robert Alexy, Individuelle Rechte und kollektive Güter, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, 232; Knut Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972; ders., Der Begriff des Rechtsguts in der Lehre vom strafrechtlichen Rechtsgüterschutz, in: Roland Hefendehl/Andrew von Hirsch/Wolfgang Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003, 155; Daniel H. Cole/Graham Epstein/Michael D. McGinnis, Digging Deeper into Hardin’s Pasture, The Complex Institutional Structure of ‘The Tragedy of the Commons’, 2013. SSRN 2361177; Christoph Engel, Das Recht der Gemeinschaftsgüter, Verw. 30 (1997), 429; Garrett J. Hardin, The Tragedy of the Commons, Science 162, 1968, 1243-1248; Roland Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002; ders., Mit langem Atem: Der Begriff des Rechtsguts, Goldtammer’s Archiv 154, 2007, 1; Tatjana Hörnle, Grob anstößiges Verhalten: Strafrechtlicher Schutz von Moral, Gefühlen und Tabus, 2005; Lawrence B. Solum, Legal Theory Lexicon 29: Public and Private Goods.

Wer sich für Gemeinschaftsgüter interessiert sei auf das CommonsBlog von Silke Helfrich hingewiesen. Sie hat für die Heinrich-Böll-Stiftung den Sammelband »Wem gehört die Welt?, Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter« 2009 mit Beiträgen u. a. von Elinor Ostrom herausgegeben. Wie es sich gehört, wenn man ein mehr an mehr Gemeinschaftsgüter fordert, steht das Buch in einer Netzausgabe zur Verfügung.

1.      Die Rechtsgüter der Juristen

Das Rechtsgut ist eine Erfindung des Strafrechts aus dem 19. Jahrhundert. Es ist Wegweiser für die teleologische Auslegung von Gesetzen, die keinen einmaligen Erfolg zum Ziel haben, sondern eine Daueraufgabe lösen wollen, so dass man von Gesetzen mit Ordnungscharakter sprechen kann.

Die Lehre vom strafrechtlichen Rechtsgüterschutz nimmt ihren Ausgang von dem Umstand, dass das Strafrecht dem Verbrechensopfer keine subjektiven Rechte zubilligt, ja sogar Verbrechen ohne Opfer kennt. Wer ein Fenster einwirft, verletzt, jedenfalls aus der Sicht des Strafrechts, nicht das subjektive Recht des Hauseigentümers, sondern sozusagen das Eigentum als solches. Wer eine Urkunde fälscht, verletzt schon gar kein Individuum, sondern die »Sicherheit des Rechtsverkehrs«. Zugleich hilft der Begriff, den bloßen Handlungsunwert einer Tat unabhängig von irgendeinem äußeren Erfolg zu begründen. Man darf sich nicht dadurch täuschen lassen, dass bei manchen Rechtsgütern die Einwilligung des Verletzten rechtfertigend wirkt. Das Strafrecht schützt dennoch nicht, jedenfalls nicht primär, das individuelle Recht, sondern ein überindividuelles Rechtsgut. Das zeigt sich daran, dass die Einwilligung des Verletzten vor der Tat vorliegen muss, wenn sie strafrechtlich relevant sein soll, und ebenso daran, dass der bloße Tatversuch nach § 23 StGB strafbar sein kann. Zivilrechtlich wäre dagegen nur bei Wiederholungsgefahr ein Unterlassungsanspruch gegeben, und auf Ansprüche aus unerlaubter Handlung kann man auch nach der Tat verzichten. Im öffentlichen Recht begründet der folgenlose Versuch einer Rechtsgutsverletzung allenfalls ein Indiz für Gefahr oder, wo es darauf ankommt, für persönliche Unzuverlässigkeit.

Man streitet sich darüber, ob das Rechtsgut im Strafrecht mehr bedeuten soll, als die Kennzeichnung des Gesetzeszwecks (»Abbreviatur des Zweckgedankens« = methodischer Rechtsgutsbegriff) oder ob man zunächst unabhängig von bestehenden Strafgesetzen eine Liste von Rechtsgütern aufstellen kann, die einerseits nach strafrechtlichem Schutz verlangen und die andererseits als kritischer Maßstab für eine Auslegung der Strafgesetze oder gar für deren Geltung dienen können (materieller Rechtsgutsbegriff). So besagt die »personale Rechtsgutstheorie«, dass das Strafrecht nur Rechtsgüter schützen darf, deren Verletzung konkrete Menschen schädigen würde; negativ, dass bloße Moralverstöße nicht strafwürdig sind. Solange sie niemandes Freiheit und Sicherheit beeinträchtigen, verletzen sie kein Rechtsgut. Auch der Schutz von Gefühlen soll keine legitime strafrechtliche Aufgabe sein. Als Konsequenz dürfte man Exhibitionismus nur bestrafen, wenn die Tat bei konkreten Personen den begründeten Eindruck erweckt, dass der Täter sie in sein Sexualverhalten einbeziehen oder sie gar handgreiflich sexuell belästigen wolle.

Dieser Standpunkt erinnert an das harm principle. Unter diesem Namen ist das von John Stuart Mill formulierte Prinzip über die Grenzen staatlichen Strafens und Zwangs bekannt:

»That the only purpose for which power can be rightfully exercised over any member of a civilised community, against his will, is to prevent harm to others. His own good, either physical or moral, is not sufficient warrant. He cannot rightfully be compelled to do or forbear because it will be better for him to do so, because it will make him happier, because, in the opinion of others, to do so would be wise, or even right…The only part of the conduct of anyone, for which he is amenable to society, is that which concerns others. In the part which merely concerns himself, his independence is, of right, absolute. Over himself, over his own body and mind, the individual is sovereign.« (On Liberty, 1859, Kap. I, 9. Absatz)

Danach wäre die Bestrafung eines opferlosen Verbrechens ebenso unzulässig wie die Ahndung einer Tat, die mit Zustimmung des Opfers erfolgt. In diesem Sinne findet Amelung (2003) nur bei Erfolgsdelikten, nicht dagegen bei bloßen Tätigkeitsdelikten, ein legitimes Rechtsgut. Eine so radikale Einschränkung staatlicher Gewalt ist, bei aller Sympathie für die liberale Idee, nicht vertretbar. Sie steht zu sehr unter dem Eindruck des Verfalls der auf das Sexuelle bezogenen »Sittlichkeit«. (Zur Kritik des liberalen Harm Principle Steven Douglas Smith, The Hollowness of the Harm Principle, 2004, SSRN 591327).

Die materielle Rechtsgutslehre steht und fällt mit der Frage, ob sich unabhängig von einer konkreten Entscheidung des Gesetzgebers zum Erlass eines Strafgesetzes bestimmte schutzwürdige Güter identifizieren lassen. Aus dem Grundgesetz kann man einige Rechtsgüter herauslesen, die nach strafrechtlichem Schutz verlangen. Es gibt auch eine Tradition »klassischer Rechtsgüter« (Hörnle). Aber vorrechtliche Rechtsgüter gibt es nicht.

Die Rechtsgüter der Juristen werden nicht frei erfunden, und sie sind auch nicht naturrechtlich vorgegeben, sondern sie werden mittelbar aus dem positiven Recht erschlossen. Das ist freilich keine Rechenoperation, sondern fordert eine systematische Auslegung. Das Ergebnis ist mit vielen Unsicherheiten behaftet. Das zeigt beispielhaft der Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit »wichtigen Gemeinschaftsgütern«. Wichtige Gemeinschaftsgüter in diesem Sinne sind die Rechtsgüter, die aus der Verfassung abgeleitet werden.

Nach einer ständig wiederkehrenden Formulierung des Bundesverfassungsgerichts sind Eingriffe in Grundrechte zur Abwehr konkreter Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter zulässig (seit BVerfGE 44, 105/118). Gleichbedeutend ist auch von wichtigen Belangen des Gemeinwohls die Rede. Gemeinschaftsgüter sind verfassungsrechtlich geschützte oder hervorgehobene Güter. Dabei wird zwischen wichtigen und überragend wichtigen Gütern unterschieden. Es gibt keinen Katalog. Doch anhand von Beispielen kann man nachvollziehen, welche Güter gemeint sind: Presse- und Rundfunkfreiheit; die Vertraulichkeit journalistischer Arbeit; Ehe und Familie; Jugendschutz; Volksgesundheit; Schutz der rechtsuchenden Bevölkerung und des Rechtsverkehrs; Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtspflege; ein hoher Beschäftigungsstand, Sicherung gegen gemeingefährliche Straftäter; Entlastung der Rentenkassen.

Die wichtigen Gemeinschaftsgüter sind im Prinzip durch die Verfassung vorgegeben. Dem Gesetzgeber ist es überlassen, sie zu konkretisieren oder gar erst zu kreieren. Aber das geschieht nicht explizit, und daher wirkt ihre Benennung durch das Bundesverfassungsgericht im Einzelfall doch mehr oder weniger beliebig. Funktions- und Vertrauensgüter lassen sich beinahe beliebig erfinden: Funktion der Rechtspflege oder spezieller der Strafrechtspflege, Vertrauen der Patienten, dass sich der Arzt nicht von kommerziellen Interessen leiten lässt u.a.m. Manche Rechtsgüter sind so abstrakt formuliert, dass es sich eher um Scheingüter handelt. Das gilt etwa für den öffentlichen Frieden. Auch die öffentliche Sicherheit und Ordnung wäre als Rechtsgut nicht viel besser, wenn sie nicht durch viele Einzelgesetze und die Praxis der Rechtsprechung ausbuchstabiert wäre.

2.      Gemeinschaftsgüter

Rechtsgüter stehen im Gegensatz zu individuellen Rechten, aber auch zu Gütern, wie sie von der Wirtschaft produziert werden. Sie benennen als Ziel eines Gesetzes ein Gemeinschaftsgut, an dem ein öffentliches Interesse besteht. Es ist verwirrend, dass der Begriff des Gemeinschaftsguts noch in einer anderen, spezifischeren Weise benutzt wird. Den Begriff des Gemeinschaftsguts hat Zacher eingeführt (nach Engel S. 429). In Bonn gibt es ein Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern. Auf der Webseite (auf der man interessante Veröffentlichungen zum Download findet) kann man lesen:

»Gemeinschaftsgüter sind Güter, mit denen die Märkte nicht ohne weiteres fertig werden. Dazu kommt es vor allem, wenn der Zugang zu ihnen nur schwer begrenzt werden kann. Beispiele sind die Umweltmedien Luft, Wasser und Boden, physische und virtuelle Netze, Infrastrukturen und systemische Wirkungen von Finanztransaktionen.«

Gemeint ist also, was Wirtschaftswissenschaftler »kollektive Güter« nennen. Dieser Begriff bezeichnet in der ökonomischen Theorie Güter, die sich durch fehlende Rivalität bei der Nutzung und fehlende Ausschließbarkeit einzelner Nutzer auszeichnen. Niemand kann gehindert werden, frische Luft zu atmen und sich am Landschaftsbild zu freuen. Da kollektive Güter, anders als etwa Geld oder Wohnungen, zum Zwecke der Nutzung nicht erst verteilt werden müssen, kann von ihrer Nutzung niemand ausgeschlossen werden. Dadurch, dass einer sie genießt, werden andere nicht behindert. Kollektive Güter kann man konsumieren, ohne dafür zu zahlen.

Im Gegensatz zu kollektiven Gütern ist ein privates Gut (Individualgut) ein solches, das sich durch Rivalität und Ausschließbarkeit auszeichnet. Beispiele sind Geld oder anderes Eigentum, Wohnungen und Arbeitsplätze.

Das Urbild eines kollektiven Gutes ist die Natur. Kollektive Güter können aber auch künstlich geschaffen werden wie Autobahnen, öffentliche Straßen und Plätze. Auch Informationen sind kollektive Güter, soweit die freie Nutzung nicht individuell durch Geheimhaltung oder rechtlich durch Urheber- und Patentrecht ausgeschlossen wird. Eine kollektive Seite haben ferner Netzwerkgüter. Bei Netzwerken ist allerdings oft die Ausschließung einzelner Nutzer möglich. Sie müssen in der Regel zur Nutzung erst zugelassen werden, beim Telefon etwa durch die Eröffnung eines Anschlusses. Hier ist es oft erst das Recht, das den Zugang eröffnet. In unserem Zusammenhang ist wichtig, dass rechtliche Institutionen eine kollektive Seite haben. So ist das Eigentum als Institution ein kollektives Gut. Niemand könnte sein Eigentum genießen, wenn es nicht »als solches« geschützt wäre. Erst recht Geld wäre wertlos, wenn es nicht als Währung von anderen akzeptiert würde. Wenn eine funktionierende Strafrechtspflege gewährleistet ist, kommt sie durch ihre präventive Wirkung allen zugute.

Meritorische Güter[6]: Marktteilnehmer haben in der Regel keinen Anlass, kollektive Güter herzustellen, denn solange niemand von der Nutzung ausgeschlossen werden kann, ist auch niemand bereit, für das Gut zu zahlen. Es gibt jedoch an vielen kollektiven Gütern ein erhebliches öffentliches Interesse. Das gilt nicht nur für Autobahnen, sondern für Bildung, Gesundheit und Sicherheit. Daher werden solche Güter teilweise unmittelbar vom Staat bereitgestellt (Landesverteidigung, Polizei, Justiz) oder der Staat gibt Anreize, damit der Markt solche Güter schafft.

Mautgüter: Bei vielen Gütern, bei denen an sich keine Rivalität im Konsum besteht, wird die Ausschließbarkeit künstlich hergestellt, weil sich sonst kaum jemand bereit fände, solche Güter zu produzieren oder dafür zu zahlen. Man darf aber nicht nur an Straßenbenutzungsgebühren denken. Das Immaterialgüterrecht macht Erfindungen oder geistige Werke durch Patente oder Urheberrechte zu Mautgütern.

Allmendegüter: Die Allmende ist eine früher verbreitete Form des Gemeinschaftseigentums, besonders an Weiden oder Wald, von dem jeder Beteiligte nach Belieben Gebrauch machen kann. Bei übermäßiger Nutzung wird jedoch die Nutzungsmöglichkeit am Ende ganz zerstört. Dieses Elend der Allmende ist als Tragedy of the Commons bekannt. Lange waren auch die Umwelt und manche natürlichen Ressourcen, also Wasser, Fische im Meer, Klima usw. ein öffentliches Gut, d.h. von ihrer Nutzung konnte niemand ausgeschlossen werden und es gab auch keine Rivalität, denn diese Güter erschienen unerschöpflich. Doch mit der Unerschöpflichkeit ist es vorbei. Dadurch ist nunmehr Rivalität gegeben. Damit sind diese Güter zu Allmendegütern geworden. Ihre dauerhafte Nutzung lässt sich nur dadurch sichern, dass der Zugang künstlich begrenzt wird, und das wiederum kann praktisch nur durch Recht geschehen.

Drei Lösungen werden erörtert. Erstens die hoheitliche Organisation von Zugang und Verteilung; zweitens die Privatisierung, die den Markt zu Geltung bringt, und drittens die Selbstorganisation der Betroffenen. Die dritte Lösung, für die es historisch viele Beispiele gibt, war in den Hintergrund geraten, bis Elinor Ostrom (Nobelpreis 2009) eine Reihe von Untersuchungen über die funktionierende Selbstorganisation von Fischgründen, Weideland und Wald, Wasserversorgung und Bewässerung vorlegte (Governing the Commons, 1990). Ostrom beobachtete, wie Menschen in realen gesellschaftlichen Institutionen mit Kollektivgütern umgehen. In ihrem Buch »Governing the Commons« beschreibt Ostrom der Erfindungsreichtum, den Menschen entwickeln, wenn es um Kontrollinstanzen und Kontrollmechanismen bei der Nutzung von gemeinsamen Ressourcen geht. Sie beschreibt u. a., wie Schweizer Almbauern ihre Almwiesen vor Überweisung schützen. Sie vereinbaren Nutzungsregeln und wählen eine Person, die diese überwacht. Ähnliche Lösungen, wenn auch im Detail unterschiedliche Regeln fand sie bei Hochgebirgsbauern in Japan oder bei Bewässerungseinrichtungen in Spanien, auf den Philippinen und in Nepal oder bei Fischfanggemeinschaften in Kanada, der Türkei und in Sri Lanka.

Auf Grund solcher Beispiele und mit Hilfe der Spieltheorie hat Ostrom Bedingungen herausgearbeitet, unter denen solche »spontanen« Lösungen des Allmendeproblems gefunden werden können:

  • Es werden klare Regeln definiert, wer berechtigt ist, die Ressource zu nutzen, und in welchem Umfang.
  • Die Grenzen der Ressource selbst müssen klar abgesteckt sein.
  • Die Regeln sind auf die lokalen Bedingungen abgestimmt.
  • Der Zustand der Ressource wird überwacht.
  • Bei Regelverstößen gibt es Sanktionen.
  • Die Betroffenen können ihre Institutionen selbst gestalten. Externe Autoritäten machen ihnen dieses Recht nicht streitig.

Ostroms Untersuchungen legen es nahe, für nachhaltige Lösungen im Umgang mit natürlichen Ressourcen zunächst auf die beteiligten Bürger und nicht auf den Staat zu setzen. Sie zeigen aber auch die Grenzen. Solche Selbstregulierung funktioniert anscheinend nur in relativ kleinen, übersichtlichen Einheiten. Das Verhalten aller Beteiligten muss wechselseitig ohne großen bürokratischen Aufwand beobachtbar sein. Es gelten hier ähnliche Grenzen wie wie beim private ordering von Vertragssystemen (u. § 64 VI). Ein Unterschied liegt allenfalls darin, dass die Ressourcen der Allmende regelmäßig örtlich begrenzt sind.

Übersichtlichkeit und Ortsnähe hat Ostrom selbst in anderem Zusammenhang hervorgehoben. Minderheiten, die nach vorherrschender Ansicht besonders auf den Schutz des Staates angewiesen sind, können anscheinend von Übersichtlichkeit und Ortsnähe profitieren. Eine viel genannte Studie, die Ostrom zusammen mit Gordon Whittaker angefertigt hat, zeigt, dass Schwarze der Polizei in kleinen Ortschaften eher vertrauen als in der Großstadt, selbst wenn die Stadt von schwarzen Politikern regiert wird.

VI.  Werte

Literatur: Nicolai Hartmann, Ethik, 4. Aufl. 1962; Niklas Luhmann, Positives Recht und Ideologie, ARSP 53 (1967) 531; Hans-Martin Pawlowski, Weisen Werte den wahren Weg?, in: Veritas filia temporis?, FS Rainer Specht, 1995, 281; Adalbert Podlech, Wertungen und Werte im Recht, AöR 95, 1970, 185; Carl Schmitt/Eberhard Jüngel/Sepp Schelz, Die Tyrannei der Werte, 1979; Max Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Aufl. 1988, 146

Alle Zwecke lassen sich aus Bedürfnissen oder aus Werten ableiten. Wenn Rechtsnormen zur Aufgabe haben, die Verkehrssicherheit zu verbessern oder Arbeitsunfälle zu vermeiden, wenn von Rechtsgütern wie Leben und Gesundheit, Tierschutz oder der Erhaltung der Umwelt die Rede ist, lässt sich der leitende Gesichtspunkt stets auch als Wert formulieren. An die Stelle von Leben und Gesundheit der Bevölkerung treten Leben und Gesundheit als Werte an sich, an die Stelle von Tieren oder der räumlich-gegenständlich gedachten Umwelt tritt der Eigenwert der Natur.

Der Sprachgebrauch kennt keine scharfe Grenze zwischen Zweck und Wert. Vielfach werden die Begriffe austauschbar verwendet. Aber sie tragen doch deutlich unterschiedliche Akzente. Auf einen Unterschied haben wir schon hingewiesen. Zweck einer Handlung ist eine relativ konkret beschriebene künftige Situation. Werte dagegen formulieren die Zielvorstellung abstrakter. Sie geben nur eine Richtung an, in der die Handlungsziele zu suchen sind. Werte lassen sich deshalb nicht definitiv realisieren, und sie sind auch nicht instruktiv für die Auswahl von Mitteln zu ihrer Realisierung. Werte sind abstrakte Gesichtspunkte zur Auswahl von Zwecken.

Jede einzelne Handlung und ebenso jede Norm lässt sich als Mittel zu einem Zweck (der Erfüllung von Bedürfnissen) auffassen, ein Zweck, der wiederum als Mittel zu einem höherstufigen Zweck dient. So führt die Kette von Mittel und Zweck in einen unendlichen Regress. Indem man sich auf einen Wert beruft, wird dieser Regress abgebrochen. Werte lassen sich nicht mehr als Mittel zu einem ferneren Zweck begreifen, sondern sind Selbst- oder Endzweck. Wird ein Zweck zum Wert erklärt, so benötigt er keine Rechtfertigung mehr aus höheren Zwecken. Weitere Fragen werden überflüssig oder verbieten sich gar.

Die Umformulierung von Zwecken zu Werten bringt eine besondere Eigenschaft der Werte zur Geltung, nämlich ihren Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Wer wagt schon zu sagen, er sei gegen Werte, gegen die Freiheit oder auch nur gegen den Schutz der Tiere, der Umwelt oder gegen Demokratie? Werte erheben den Anspruch auf überindividuelle Gültigkeit.

Der besondere Geltungsanspruch von Werten kann der Gesellschaft als Integrationsmittel dienen, denn man kann sich zu gemeinsamen Werten bekennen, ohne dass damit schon im Detail festgelegt wäre, was zu tun oder zu lassen ist. Werte verpflichten zu vollem Einsatz, doch sie verlangen keine bestimmte Tat und stoßen deshalb kaum auf Widerstand. Unter bestimmten Umständen können Werte aber auch eine besondere Sprengkraft entfalten, denn ihr wahrheitsähnlicher Geltungsanspruch kann zur Legitimation rigoroser Forderungen dienen. Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit erscheinen ebenso wie die Wahrheit unteilbar und sind keinen Kompromissen zugänglich. Diese Eigenschaft der Werte hat Nicolai Hartmann und später Carl Schmitt veranlasst, von der Tyrannei der Werte zu sprechen:

»Wertlogisch muß immer gelten: dass für den höchsten Wert der höchste Preis nicht zu hoch ist und gezahlt werden muß. Diese Logik ist viel zu stark und einleuchtend, als dass sie im Kampf der Werte eingeschränkt oder bedingt werden könnte. Man braucht nur das altmodische Verhältnis von Zweck und Mittel mit dem modernen Verhältnis von höherem und niederen Wert oder Graden von Unwert miteinander zu vergleichen, um zu erkennen, wie Hemmungen und Rücksichten infolge der spezifischen Wertlogik entfallen. … Dass der Zweck das Mittel heiligen soll, hielt man für eine verwerfliche Maxime. In der Hierarchie der Werte dagegen gelten andere Relationen, die es rechtfertigen, dass der Wert den Unwert vernichtet und der höhere Wert den niederen als minderwertig behandelt.« (Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 36)

»Logisch« wäre das nur, wenn es wirklich einen Höchstwert gäbe. Tatsächlich besteht eine psychologische Tendenz zur »Tyrannei der Werte«. Es ist ein bewährtes Erfolgsrezept politischer Bewegungen, ihre Werte rigoros und kompromisslos zu vertreten. Voraussetzung solcher Rigorosität ist, dass ein abstrakter Wert sich mit einem konkreten Anknüpfungspunkt verbindet, so dass der Wert einen weiten Objektbereich und große Unterscheidungskraft gewinnt, wie die Verbindung von Umweltschutz mit der Ablehnung von Atomenergie oder der Schutz des (werdenden) Lebens mit der Schwangerschaftsunterbrechung.

Religionen verhalten sich in vielerlei Hinsicht wie Werte.

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[1] Max Horkheimer, The End of Reason. Zeitschrift für Sozialforschung 9, 1941, 366-387.

[2] Stefan Kühl, Zweckrationalität. Wie man aus Zweck, Hierarchie und Mitgliedschaft ein simples Organisationsmodell baut, Working Paper 6/2010.

[3] Niklas Luhmann, Zweck – Herrschaft – System. Grundbegriffe und Prämissen Max Webers, Der Staat 3, 1964, 129-158; ders., Zweckbegriff und Systemrationalität, 1968 (1973 als Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft).

[4] Richard Taylor, Comments on a Mechanistic Conception of Purposefulness, Philosophy of Science 17, 1950, 310-317; Hans Jonas, Kybernetik und Zweck. Eine Kritik, in: ders., Organismus und Freiheit, 1973, 164-197.

[5] Beauty at the Gallery. Operatic Knowledge and Audience as Community, 2005.

[6] Der Begriff wurde von Richard A. Musgrave erfunden: The Theory of Public Finance, New York 1961 (S. 13).

[Stand November 2017]