II. Klassische Theorien der Rechtsentwicklung

Die klassischen Theorien der Rechtsentwicklung verbinden sich jeweils mit dem Namen eines der Gründerväter der Rechtssoziologie. Daher ist über sie bereits bei der Darstellung der Geschichte der Rechtssoziologie berichtet worden. Hier brauchen sie nur noch einmal aufgezählt zu werden.

1)                          Die marxistische Rechtstheorie

Die wohl bekannteste große Hypothese der Rechtssoziologie folgt aus dem Entwicklungsgesetz des dialektisch-historischen Materialismus, das bekanntlich in sieben Entwicklungsstufen von der vorstaatlichen Gesellschaft ohne Klassengegensätze bis zur kommunistischen, klassenlosen Gesellschaft fortschreitet und dabei das Recht als Widerspiegelung der jeweiligen Produktionsverhältnisse ansieht, das am Ende mit dem Staat zum Absterben verurteilt ist (vgl. § 2, 4). Diese Theorie wird auch heute noch von manchen bemüht. Sie hat aber mindestens für die Gegenwart ihre Erklärungskraft verloren.

2)                          Vom Statusrecht zum Kontraktrecht

1861, zwei Jahre nachdem Charles Darwin »On the Origin of Species« veröffentlicht hatte, formulierte der englische Rechtshistoriker Maine seine These, nach der sich das Recht von einem Statusrecht zum (Zweck-)Vertragsrecht entwickelt hat (§ 2, 5). In neuerer Zeit hat Rehbinder es unternommen, diese These dahin fortzuentwickeln, dass an die Stelle des Einzelvertrags heute die Rolle getreten sei.

Tatsächlich ist eine Bewegung im Gange, die vom individuellen Zweckkontrakt fortzuführen scheint. Schon im Frühkapitalismus hat sich gezeigt, dass Vertragsfreiheit, wenn sie wirklich die Freiheit jedes einzelnen und seine Selbstverwirklichung gewährleisten soll, nur funktionieren kann, wenn die vorausgesetzte Gleichheit der Menschen nicht bloß Ideologie ist, sondern Realität. Das war und ist nicht der Fall. Die Menschen sind nicht nur nach ihren physischen und psychischen Fähigkeiten, sondern vor allem nach ihrer sozialen Ausgangsposition, nach Kenntnissen, Beziehungen und Besitz, durchaus ungleich. Freiheit ist nicht allein eine Frage der Rechtsstruktur, sondern ebenso sehr abhängig von Handlungskompetenz und Güterverteilung. Nur der Besitzende und (Aus-) Gebildete ist in der Lage, seine Verhältnisse wirklich privat-autonom zu gestalten. Der neue Rechtszustand erwies sich daher im Ergebnis nicht automatisch als fortschrittlicher als das alte Statusrecht. Vielmehr führte er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Situation, die als die soziale Frage bekannt ist. Sie konnte nicht privater Wohltätigkeit überlassen bleiben, sondern verlangte nach massiven staatlichen Eingriffen. Soziale Schutzgesetze, Gesetze zur Regelung des Marktes und zur Zähmung der Technik, Gesundheitsfürsorge, Bildungszwang und umfassende Daseinsvorsorge bestimmen seither das Bild des Rechts im Wohlfahrtsstaat.

Wegen des manchmal dirigistischen Charakters des modernen Rechts spricht man teilweise sogar von einer Rückkehr zum Statusrecht. Aber auch die Qualität der immer noch vorhandenen Vertragsfreiheit hat sich verändert. Ähnlich wie in der Produktion Massenartikel die Einzelanfertigung verdrängt haben, tritt an die Stelle des individuell ausgehandelten Vertrages der Typenvertrag, der durch allgemeine Geschäftsbedingungen genormt wird. Vor allem aber, so die Diagnose Rehbinders, sei die Zweckvereinbarung heute wieder auf dem Rückzug. Eine neue Form von En-bloc-Vereinbarungen gewinne dagegen an Boden. Das Recht hält eine große Anzahl sehr verschiedener Positionen bereit, die dem Einzelnen teils aufgezwungen werden oder die er mit einem mehr oder weniger deutlichen Willensakt auf sich nimmt. Man wird Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, Kaufmann, Schüler oder Ehemann, Konsument, Student, Mieter, Bauherr, Kraftfahrer oder Rückfallverbrecher. Mit jeder dieser Positionen verbindet sich ein ganzes Bündel von Rollenerwartungen. Damit ist das Stichwort gegeben, mit dem Rehbinder die Evolutionshypothese von Maine fortsetzen will: Vom Status über den Kontrakt zur Rolle. Der Rollenbegriff, so meint Rehbinder, werde zum Schlüsselbegriff für die Analyse des modernen Rechts.

Dagegen läßt sich einwenden, dass es ein Kontraktrecht in dem von Rehbinder vorausgesetzten Sinn eigentlich nie gegeben hat. Der Mieter, der Arbeiter, der Beamte, Schüler, Soldat, Ehemann usw. waren unter der Doktrin der schrankenlosen Vertragsfreiheit nicht weniger in Rollen gefangen als heute. Der Individualvertrag im eigentlichen Sinne des Wortes war und ist die Ausnahme.

Die Organisation der Gesellschaft in sozialen Rollen dagegen ist nicht neu. Auch der alte Status im Sinne Maines lässt sich als eine soziale Position verstehen, auf die bestimmte Rollenerwartungen gerichtet sind. Um diesen Einwand auszuräumen, greift Rehbinder zurück auf die Unterscheidung zwischen zugeschriebenen und erworbenen Rollen. Man spricht von einer zugeschriebenen Rolle bei einer solchen, die dem Individuum ohne sein Zutun zuwächst wie die Alters- oder Geschlechtsrolle, die Rolle als Angehöriger einer bestimmten Rasse oder Nation und regelmäßig auch eines bestimmten Glaubens. Dagegen hängt die erworbene Rolle von der persönlichen Aneignung individueller Merkmale oder Eigenschaften ab (vgl. § 37, 1b). Mit dieser Unterscheidung verbindet sich die Vorstellung, dass in offenen und demokratischen Gesellschaften die verfügbaren Rollen durch individuelle Leistung erworben werden können.

Es mag dahinstehen, ob diese Vorstellung von der Verfügbarkeit sozialer Rollen nicht ebenso unrealistisch ist, wie zuvor diejenige von der Vertragsfreiheit. Jedenfalls kann man Rehbinders Hypothese von der Rollenhaftigkeit des modernen Rechts eine gewisse Plausibilität nicht absprechen. Rollen als Bündel von Verhaltenserwartungen bilden Handlungsmodelle. Sie geben an, was die Rollenspieler jeweils voneinander verlangen und erwarten können, z. B. der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber, der Mieter vom Vermieter, der Beamte von seinem Vorgesetzten usw. Versteht man die Rolle derart als Interaktionsmodell, so erklärt sich, warum im Zeitalter gesteigerter Interaktion die auf dem Prinzip der Privatautonomie aufbauende Willenstheorie in der Rechtsgeschäftslehre mehr und mehr zugunsten des Vertrauensschutzes abgebaut wird. So erklären sich etwa die Lehren vom faktischen Vertragsverhältnis oder vom sozialtypischen Verhalten, die rollenhaftes Verhalten mit Rechtsfolgen verbinden wollen[STREECK, W. (1987), Status und Kontrakt als Grundkategorien einer Theorie der industriellen. Beziehungen, WZB-discussion paper, Berlin, nicht zu finden]

3)                          Vom repressiven zum restitutiven Recht

Durkheims These der Entwicklung vom repressiven zum restitutiven Recht ist bereits in § 4 dargestellt worden. Sie wird bis in die Gegenwart immer wieder diskutiert, auch wenn längst feststeht, dass sie nur mit vielen Vorbehalten und Einschränkungen geeignet ist, die Entwicklung des Rechts zu beschreiben. Die insbesondere von Ethnologen geübte Kritik legt es nahe, die von Durkheim beschriebene Entwicklungsreihe nach rückwärts um einen weiteren vor-repressiven Rechtstyp zu erweitern, der archaisches Recht genannt werden kann. Im Unterschied zu repressivem Recht verkörpert archaisches Recht das Organisationsprinzip segmentierter Gesellschaften, die durch das Vorherrschen von Familien- und Stammeskulturen gekennzeichnet sind. Vergeltung und Reziprozität sind die wesentlichen Prinzipien des archaischen Rechts. Ein solches »primitives« Recht nimmt erst langsam repressive Züge an, wenn in der Gesellschaft Konflikte auftauchen, die die Kontrollkapazität des Verwandtschaftsprinzips übersteigen und einen Druck in Richtung auf die Organisation der Gesellschaft über Herrschaftsrollen ausüben.

In den modernen Demokratien westlicher Prägung wiederum, die ein selbst von Durkheim allenfalls erahntes Maß von Differenzierung erreicht haben, ist Repression noch keineswegs verschwunden. Im Zuge einer sich verstärkenden Arbeitsteilung wächst die Abhängigkeit von Leistungen anderer und damit auch die Möglichkeit, neue Formen der Repression zu erfinden. Daher stellen sich die verschiedenen Rechtssysteme als eine Mischung von Restitution und Repression dar.

4)                          Rationalisierung und Bürokratisierung als Kennzeichen modernen Rechts

Max Webers These von der Rationalisierung und Bürokratisierung des Rechts (vgl. § 6) ist heute aktueller als die große Hypothese Durkheims. Sie wird insbesondere im Zusammenhang mit dem Problem der Gesetzesflut und der zunehmenden Verrechtlichung weiter Lebensbereiche erörtert (näher § 60, 5). Ein Symptom dieser erstaunlichen Weber-Renaissance ist die Neubewertung, die Weber in dem Werk von Habermas erfahren hat. Während Weber für Habermas und seine Anhänger lange als die Verkörperung eines »halbierten Rationalismus« galt, ist er nunmehr zum Kritiker der Bürokratie anvanciert, der den »eisernen Käfig« des Systems entdeckt hat.

Es ist nicht weiter umstritten, dass Weber mit seiner Rationalisierungthese eine epochale Entwicklung zutreffend gekennzeichnet hat. Die Diskussion geht allein um die Frage, ob diese Tendenz nicht längst gebrochen ist. Die schon von Weber selbst hervorgehobenen Bestrebungen zu einer Rematerialisierung des Rechts haben sich inzwischen erheblich verstärkt, ja sie sind zu einem hervorragenden Merkmal der aktuellen Rechtsentwicklung geworden. Ein Beispiel wäre die Rückkehr vom formalen Konsensprinzip des Vertragsrechts zum materiellen Äquivalenzprinzip, wie sie nach dem ersten Weltkrieg in der Aufwertungsrechtsprechung des Reichsgerichts und heute in der Rechtsprechung zur Nichtigkeit von Ratenkreditverträgen wegen eines wucherähnlichen Tatbestandes nach § 138 Abs. 1 BGB zum Ausdruck kommt. Die vorherrschende Einstellung der Juristen ist nicht länger das positivistische Subsumtionsideal, sondern eine von der Interessenjurisprudenz geprägte Zweckorientierung. Juristische Tätigkeit wird nicht mehr als bloße Ausführung von Konditionalprogrammen (§ 47, 2d) verstanden, sondern als Ausfüllung (Implementation) von Zweckprogrammen, die in Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen Raum für die Folgenberücksichtigung lassen. Das Recht folgt nicht länger der kantischen Maxime, Freiheitssphären für autonomes Handeln zu garantieren, sondern tendiert dazu, soziales Handeln direkt und ergebnisorientiert zu steuern. Die Befürchtung, dass das Recht darüber zum bloßen Instrument der Politik werden müsse, hat sich bisher nicht realisiert. Anscheinend verhilft die Mediatisierung (§ 61) dem Recht zu der gleichen Autonomie, die es bisher aus seiner formalen Rationalität bezog. Bis heute ist es jedoch die von Weber vorgegebene Hypothese und sind es die von ihm geprägten Begriffe, mit denen diese Entwicklung beschrieben und analysiert wird.