§ 8 Die Uppsala-Schule und Theodor Geiger

Literatur: Jes Bjarup, Skandinavischer Realismus, 1978; ders., Legal Realism or Kelsen versus Hägerström, Rechtstheorie Beiheft 9, 1986, 243-257; ders., The Philosophy of Scandinavian Legal Realism, Ratio Juris 18, 2005, 1-15; Antonius G. de Groot, Der skandinavische Realismus und seine Bedeutung für die rechtliche Grundlagenforschung, 1997; Axel Hagerström, Der römische Obligationsbegriff im Lichte der allgemeinen römischen Rechtsanschauung, 1927; ders., Inquiries into the Nature of Law and Morals, 1953, ders., Eine Selbstdarstellung, in: Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 7, Leipzig 1929; 111 ff.; Stig Jörgensen, Scandinavian Legal Philosophy, Rechtstheorie Beiheft 9, 1986, 289-304; Lagerqvist Almé, The »Uppsala School« in Sweden, Rechtstheorie Beiheft 9, 1986, 323 ff.; Lundstedt, Die Unwissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft, 1932; ders., Law and Justice, 1952; ders., Legal Thinking Revised, 1956; Olivecrona, Gesetz und Staat, 1940; Reuss, Lundstedts Rechtstheorie und ihre Beurteilung in Deutschland, 1973; Enrico Pattaro, Il Realismo Giuridico Scandinavo, 1975; Alf Ross, Theorie der Rechtsquellen, 1929; ders., Towards a Realistic Jurisprudence, 1946; ders., On Law and Justice, 1958; Hans Heinrich Vogel, Der skandinavische Rechtsrealismus, 1972.

I.  Die Uppsala-Schule

Es lohnte sich kaum, über die Uppsala-Schule zu berichten, wenn nicht Theodor Geigers »Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts« in der Auseinandersetzung mit dieser skandinavischen Ausprägung positivistischer Philosophie entstanden wären. Obwohl Geiger sich deutlich von der Uppsala-Schule absetzte, hat sie ihn doch zur Rechtssoziologie geführt, ähnlich wie etwas später die Norweger Vilhem Aubert und Torstein Eckhoff.

II.  Theodor Geiger

Schriften von Theodor Geiger: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes, 1932; Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 1949, mit einer Einleitung neu hg. von Paul Trappe, 1964; Aufgaben und Stellung der Intelligenz in der Gesellschaft, 1949 (Nachdruck 1987); Ideologie und Wahrheit. Eine soziologische Kritik des Denkens, 1953 (IuW); Arbeiten zur Soziologie; hg. von Paul Trappe, 1962; Artikel »Ideologie« in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. V, 1956, S. 179-184; Bemerkungen zur Soziologie des Denkens; Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie; Bd. XLV, 1959, 23- 53

Literatur: Hans Albert, Ideologie und Wahrheit. Theodor Geiger und das Problem der sozialen Verankerung des Denkens; in: ders., Konstruktion und Kritik; 1972, 169-192; Siegfried Bachmann (Hg.), Theodor Geiger, Soziologie in einer Zeit »zwischen Pathos und Nüchternheit«. Beiträge zu Leben und Werk, 1994; Thomas Meyer, Die Soziologie Theodor Geigers. Emanzipation von der Ideologie, 2001; ders./Rainer Geißler, Theodor Geiger, in: Dirk Käsler (Hg.), Klassiker der Soziologie, 1999, 278-295; Wolfgang Naucke/Paul Trappe (Hg.), Rechtssoziologie u. Rechtspraxis, 1970.

Theodor Geiger (1891-1952), ein deutscher Soziologie, musste während der Nazizeit emigrieren und fand eine Bleibe im dänischen Aarhus. Geiger hatte auch Jura studiert und schon früher ein Interesse an der Rechtssoziologie gezeigt. Während eines Aufenthalts in Stockholm machte er nähere Bekanntschaft mit den Gedanken der Uppsala-Schule, die zunächst zu einer kritischen Auseinandersetzung führte (Debat med Uppsala om Moral og Ret, Lund 1946, dt. 1970). Obwohl Geiger den empiristischen Ausgangspunkt dieser Schule teilte, hielt er ihr doch vor, sie setzte an die Stelle des zu Recht bekämpften Normfetischismus, der allezeit geneigt sei, dem positiven Recht eine Art objektiver Geltung zuzuschreiben, einen nicht minder verfehlten Sanktions-Monismus. Denn sie lasse sich durch einen missverstandenen Realismus dazu verführen, den Begriff der Norm überhaupt zu leugnen, statt ihn auf seinen Wirklichkeitsgehalt zurückzuführen. Zugleich bemängelte Geiger, dass die Vertreter der Uppsala-Schule ihre eigenen Vorstellungen über die Notwendigkeit der Eliminierung aller Wertungen nicht konsequent genug durchhielten, und kritisierte ihre soziologische Unzulänglichkeit, da sie psychischen Gegebenheiten wie dem Rechtsbewusstsein und einem Sozialinstinkt Raum gäben.

Seine eigene Rechtstheorie entwickelte Geiger in den 1947 zuerst in Kopenhagen – in deutscher Sprache – erschienenen Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, die einem größeren Kreis jedoch erst bekannt geworden sind, nachdem sie 1964 von Trappe neu herausgegeben worden waren.

Geigers Arbeiten aus der Zeit seiner Emigration sind in Deutschland erst durch die Vermittlung von Paul Trappe wahrgenommen worden. Trappe hatte 1959 in Mainz über die Rechtssoziologie Theodor Geigers promoviert. 1962 gab er einen umfangreichen Band heraus, der Arbeiten zur Soziologie von Theodor Geiger enthielt, von denen einige zuvor noch nicht veröffentlicht worden waren. 1964 erschien der von Trappe edierte Neudruck von Geigers Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts. Im gleichen Jahr wurde Trappe nach Kiel berufen, wo er zusammen mit Wolfgang Naucke in Seminaren und Veröffentlichungen Grundlagen für die in den Folgejahren aufblühende Rechtssoziologie legte.

Mit Hagerström und Lundstedt geht es Geiger um eine erfahrungswissenschaftlich begründete Rechtslehre. Diese muss jedoch nach seiner Vorstellung von einem soziologischen Ausgangspunkt her entwickelt werden, sie muss mit der theoretischen Rechtssoziologie zusammenfallen (1970 S. 45). Als Ausgangspunkt dient Geiger die Gesellschaft insgesamt als Ordnungsgefüge, aus dem er mit einer differenzierenden Begriffsanalyse Recht und Staat als eine spezifische Ordnungserscheinung herauspräpariert. Gesellschaft besteht für Geiger in der Tatsache, dass Menschen in ihrem Dasein aufeinander eingestellt und angewiesen sind, in der Tatsache, sozialer Interdependenz (S. 46 ff.). Sie äußert sich in einer Koordination des Gebarens (S. 48 f.):

»Gesellige Ordnung beruht darauf, dass in einem gedachten Integrat … zwischen gewissen typischen Situationen s und entsprechenden typischen Gebarensweisen g ein festes Verhältnis besteht … Jedes Mal, wenn s eintritt, löst die Wahrnehmung davon beim Beobachter die Vorstellung g aus, und zwar in der Weise, dass g als die adäquate ›Antwort‹ der handelnden Person auf s erscheint. S—g wirkt m. a. W. als Modell oder Muster: beim Handelnden als Vorbild für sein Gebaren in s, beim Zuschauer als Erwartung eines bestimmten Gebarens von Seiten des Handelnden«.

Aus bloßen Gebarensmodellen, die mit einiger Regelmäßigkeit befolgt werden (Brauch), entstehen Normen, wenn sie von der Gruppe als verbindlich angesehen werden, was wiederum an Sanktionen zu erkennen ist, die im Falle der Nichtbefolgung eintreten. Geiger beschreibt nun, wie sich solche Normen durch Bewusstmachung, verbale Formulierung oder gar künstliche Satzung aus den diffusen gesellschaftlichen Wirklichkeitszusammenhang herausheben können (dazu näher § 25). Versammelt sich schließlich die Zuständigkeit für die Sanktionierung eines Normengefüges für eine bestimmte Gesellschaft bei einer Zentralinstanz, so bildet sich Recht als Sonderart sozialer Ordnung (S. 126 ff., dazu unten § 26). Recht und Staat werden damit von Geiger zusammen gedacht. Der springende Punkt einer empirischen Rechtslehre ist der Umgang mit der juristischen Vorstellung von der Gültigkeit oder Verbindlichkeit von Rechtsnormen. Als Empirist weigert sich Geiger, die Verbindlichkeit einer Norm aus Wertvorstellungen etwa über das Wesen des Staates, des Rechts oder der Gerechtigkeit oder ähnlichen metaphysischen Vorstellungen abzuleiten. Es kann sich nur um einen Tatsachenzusammenhang handeln. Wie niemand zuvor ist es Geiger gelungen, diesen Zusammenhang zu formulieren: Die Verbindlichkeit der Norm besteht in ihrer Wirkungschance. Der von Geiger erzielte Fortschritt liegt in zweierlei. Zunächst bestimmt er die Wirklichkeit oder Wirkung einer Norm alternativ. Eine Norm ist wirksam sowohl dann, wenn sie befolgt wird als auch in den Fällen, in denen auf die Nichtbefolgung eine Sanktionierung folgt (S. 68 ff.) Die Wirksamkeit wird dadurch zu einer messbaren Größe, zur Effektivitätsquote, der eine Ineffektivitätsquote entspricht (dazu näher § 47). Sodann löst er die Verbindlichkeitsfrage dahin, dass die Geltung einer (Rechts-)Norm sich stets nur im Sinne eines Wahrscheinlichkeitsurteils beantworten lässt, dass die bisher beobachtete Wirkung der Norm auf die Zukunft projiziert (S. 207 ff.).

Man braucht den Wertnihilismus Geigers nicht zu teilen, um die Bedeutung dieser Bestimmung zu schätzen. Auch wenn man das Recht nicht nur als Tatsachenzusammenhang verstehen will, so ist es mindestens auch ein solcher. Allein auf das Recht als Tatsachenzusammenhang zielt aber die Rechtssoziologie. Indem Geiger diesen Tatsachenzusammenhang in einer prinzipiell bis heute gültigen Weise herauspräpariert hat, hat er einen Grundstein zur Rechtssoziologie gelegt.

Darin erschöpft sich Geigers Bedeutung bei weitem nicht. Schon bevor er emigrierte, war er in Deutschland durch seine empirischen Untersuchungen zur sozialen Schichtung bekannt geworden. Während der Emigration entstanden nicht zuletzt Arbeiten zur Ideologiekritik (u. III).

Für Juristen mehr noch als für die Soziologen war Geiger, besonders in den 60er Jahren, als sich eigentlich sonst nichts zu bewegen schien, ein großer Anreger. Er war ein eigenständiger Denker, der klare Positionen bezogen hatte. Als Ausgangspunkt sind sie bis heute nützlich, wenn man über Ideologie, Recht und Moral, über den Rechtsbegriff oder über die Wirksamkeit des Rechts diskutieren will. Damit ist Geigers Werk nicht erschöpft. Soziologen schätzen nach wie vor seine empirischen Arbeiten zur sozialen Schichtung und zur Reklame.

III.   Ideologiekritik und Wissenssoziologie bei Mannheim und Geiger

Schriften von Karl Mannheim: Ideologie und Utopie (1929), 8. Aufl., 1995; Artikel »Wissenssoziologie«, in: Alfred Vierkandt (Hg.), Handwörterbuch der Soziologie, 1931, 659-680; Wissenssoziologie, mit einer Einleitung hg. von Kurt H. Wolff, 1964; darin insbesondere: Die Strukturanalyse der Erkenntnistheorie [1922]; Das Problem einer Soziologie des Wissens [1925]; Ideologische und soziologische Interpretation der geistigen Gebilde [1926]; Das konservative Denken. Soziologische Beiträge zum Werden des politisch-historischen Denkens in Deutschland [1927]; Das Problem der Generationen [1928]; Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen [1929].

Literatur: Ulrich Arens, Theodor Geigers Kritik der Wissenssoziologie, in Siegfried Bachmann (Hg.), Theodor Geiger, Soziologie in einer Zeit »zwischen Pathos und Nüchternheit«. Beiträge zu Leben und Werk, 1994, 107-115; Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache: Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, 2006 [Orign. 1936]; Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, 1974; Ronald Hitzler/Jo Reichertz/Norbert Schröer (Hg.), Hermeneutische Wissenssoziologie, 1999; Wilhelm Hofmann, Karl Mannheim zur Einführung, 1996; David Kettler/Volker Meja, Karl Mannheim, in: Dirk Käsler (Hg.), Klassiker der Soziologie, Band 1, 4. Aufl., 2003; Kurt Lenk, Ideologie, Ideologiekritik und Wissenssoziologie, 9. Aufl. 1984; Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie Bd. 1, 1980; Volker Meja/Nico Stehr, Der Streit um die Wissenssoziologie, 2. Band Rezeption und Kritik der Wissenssoziologie; dies., Zum Streit um die Wissenssoziologie, in: dies. (Hg.), Der Streit um die Wissenssoziologie. 1. Band 1982, 11-23; Rober K. Merton, Karl Mannheim and the Sociology of Knowledge [1941], in: ders., Social Theory and Social Structure, 1957; ders., Zur Wissenssoziologie, in: ders., Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen, 1985, 217-257 [1945]; Klaus F. Röhl, Theodor Geiger, Bemerkungen zur Soziologie des Denkens, ARSP XLV, 1959, 23-52, ARSP Beiheft 116, 2009, 149-165; Max Scheler, Probleme einer Soziologie des Wissens, 1926; ders., Die Wissensformen und die Gesellschaft, 1926; Nico Stehr/Volker Meja (Hg.), Wissenssoziologie, KZfSS, Sonderheft 22/1980.

Ideologisch war für Geiger eine theoretisch gemeinte a-theoretische Aussage:

»Als ideologisch sollen jene Aussagen bezeichnet werden, die ihrer sprachlichen Form und dem in ihnen ausgedrückten Sinne nach sich als theoretische Sachaussagen geben, die aber a-theoretische, nicht der objektiven Erkenntniswirklichkeit zugehörende Bestandteile enthalten.« (IuW S. 66)

Dieser Ideologiebegriff ist kritisch, weil er die Aussagen an der Wirklichkeit misst. Zwar ist nicht jede in diesem Sinne falsche Aussage ideologisch: Die ideologische Aussage ist gewissermaßen »falscher als bloß falsch« (IuW S. 34). Geiger sagt von seinem Ideologiebegriff, er sei ohne die Vorstellung jedenfalls der theoretischen Möglichkeit wirklichkeitsadäquater Aussagen nicht sinnvoll (IuW S. 6).

Dieser Ausgangspunkt setzt ein ganz bestimmtes Wissenschaftsverständnis voraus, und zwar ein solches, das wir heute als positivistisch oder, kritisch gewendet, als szientistisch bezeichnen (§ 14). Geiger lässt keinen Zweifel, dass das Ziel einer jeden theoretischen Aussage »die Übereinstimmung mit einer objektiv gegebenen Erkenntniswirklichkeit« zu sein hat (IuW S. 35). Theoretische Aussagen sind für ihn nur solche, die als richtig oder falsch aufgewiesen werden können. Dieser Fall liegt vor, wenn die Aussage nichts anderes ist als die Verarbeitung von Beobachtungen nach den Regeln der Logik (IuW S. 47).

Prototyp einer ideologischen Aussage ist für Geiger das Werturteil (IuW S. 53). Das ist auf den ersten Blick nicht ganz einsichtig, denn Ideologie ist ja nach Geiger etwas theoretisch gemeintes A-Theoretisches. Wie können Werturteile theoretisch gemeint sein? Geiger entwickelt seinen Standpunkt in Auseinandersetzung mit der Uppsala-Schule und hier vor allem mit Hagerström. Dieser hatte Werturteile als bloße Gefühlsäußerungen für theoretisch sinnlos gehalten. Geiger unterscheidet dagegen zwischen Wertbekenntnissen und Werturteilen. Wertbekenntnisse – der Ausdruck ist nicht von Geiger – bezeugen nur die eigene Gefühlsrelation zu einem Gegenstand. Werturteile dagegen verlangen nach Zustimmung und nehmen damit Richtigkeit für sich in Anspruch. Damit erheben sie einen theoretischen Anspruch. Da sie diesen Anspruch nicht einlösen können, sind sie theoretisch gemeint, jedoch tatsächlich a-theoretisch, und damit ideologisch. Das Problem sieht Geiger also nicht in der Wertung als solcher, sondern darin, dass für eine Wertung überindividuelle Geltung beansprucht wird.

Mit seinem Ideologiebegriff bezog Geiger (in den »Bemerkungen«) auch Stellung in dem Streit um die Wissenssoziologie Karl Mannheims. Mannheims Buch »Ideologie und Utopie« von 1929 hatte alsbald über 30 Stellungnahmen ausgelöst. Der Streit um die Wissenssoziologie wurde nach dem Werturteilsstreit zur zweiten großen Wissenschaftskontroverse. Vermutlich kann man diesen Streit seinerseits unter ideologiekritischen Gesichtspunkten sehen, denn mindestens diejenigen, die sich als Soziologen beteiligten, mussten um die Zukunft des noch längst nicht etablierten Faches und erst recht um die eigene Position im akademischen Betrieb besorgt sein. Aus der Sicht Geigers ging es vielleicht darum, ob die Soziologie der Nachkriegszeit die geisteswissenschaftliche Richtung Mannheims einschlagen oder der von ihm selbst bevorzugten empirischen Soziologie amerikanischen Musters folgen würde. Doch wichtiger war noch ein anderer Antrieb, den er selbst ideologisch genannt haben würde. Er meinte nämlich, die Nationalsozialisten hätten sich alsbald auf Mannheims Lehre gestürzt.

Was die Wirkungsgeschichte betrifft, so hat Mannheim weitaus tiefere Spuren hinterlassen hat als Geiger. Die Konjunktur von Ideologiekritik als wissenschaftlichem Thema ist seit der Wende von 1989 verebbt ist. Dafür reden heute mehr oder weniger alle von Wissenssoziologie. Mannheim ist überall präsent, obwohl er ebenso wenig wie Geiger eine Schule gebildet hat. Ein Grund dafür ist, dass der Mainstream der Soziologie sich heute mehr oder weniger auf Wissenssoziologie umgestellt hat. Zwar hat die neue Wissenssoziologie, wie sie mit dem Werk von Mead, Berger und Luckmann verbunden ist, mit der alten wenig mehr als den Namen gemeinsam. Aber allein das genügt schon, um das Werk Mannheims mindestens als Teil der Dogmengeschichte in Erinnerung zu behalten. Sie ist eben heute die klassische Wissenssoziologie. Darüber hinaus war Mannheim mit dem in seiner Theorie angelegten Antifundamentalismus ein Vorläufer postmoderner Erkenntnistheorie und eines gesellschaftstheoretischen Pluralismus.

IV.  Ideologiekritik als rechtsoziologisches Konzept

Literatur: J. M. Balkin, Cultural Software, A Theory of Ideology, New Haven, Conn. 1998; Patricia Ewick (Hg.), Consciousness and Ideology, 2006 (Reader); Carol J. Greenhouse, Courting Difference: Issues of Interpretation and Comparison in the Study of Legal Ideologies, Law and Society Review 22, 1988, 687-707; Alan Hunt, The Ideology of Law: Advances and Problems in Recent Applications of the Concept of Ideology to the Analysis of Law, Law and Society Review, 19, 1985, 11-37

In der Rechtssoziologie hat man zunächst ein Ideologiekonzept übernommen, das auf die Deutsche Ideologie von Karl Marx und Friedrich Engels zurückgeht. Danach ist eine Ideologie ein philosophisches, religiöses oder sonstiges Gedankengebäude, das die realen Verhältnisse in der Gesellschaft verhüllt und die Menschen mit einem falschen Bewusstsein ausstattet, dass sie an der Wahrnehmung von Macht und Ausbeutung hindert. In Zeiten der Wissensoziologie hat der Ideologiebegriff seine Konturen verloren.

V.  Exkurs: Neue Wissenssoziologie

Literatur: Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 1977; Georg Kneer, Jenseits von Realismus und Antirealismus. Eine Verteidigung des Sozialkonstruktivismus gegenüber seinen postkonstruktivistischen Kritikern, in: Zeitschrift für Soziologie 38 (2009), 5–25; Hubert Knoblauch, Wissenssoziologie, 2005; Rainer Schützeichel (Hg.), Handbuch der Wissenssoziologie und Wissensforschung, 2007; Hans-Georg Soeffner/Ehrhardt Cremers, Interaktionstyp »Recht-Sprechen«. Kurseinheit 1 und 2, Fernuniversität Hagen, 1988

Die neue konstruktivistische Wissenssoziologie (nWS) der Konstanzer Schule erhebt inzwischen den Anspruch einer soziologischen Universaltheorie. Der Ansatz ist einfach: Gesellschaft spielt sich als Wissen in den Köpfen der Menschen ab. Alle Soziologie ist Wissenssoziologie. Nicht zufällig trägt Luhmanns Buch »Gesellschaftsstruktur und Semantik« (1995) den Untertitel »Studien zu einer Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft.« Dieses Wissen ist nicht Information, die unabhängig von konkreten Menschen vorhanden ist und auf diese einwirkt, sondern es wird als lebendiges Wissen in sozialen Handlungsvollzügen jeweils neu zusammengesetzt. Die nWS wendet sich deshalb gegen die Trennung von Wissen und Sozialem und will beides »wie zwei Seiten derselben Medaille« (Knoblauch S. 136) integrieren. Das ist und bleibt eine schöne Illusion.

Zu dem Wissen in den Köpfen der Menschen gibt es keinen direkten Zugang. Es lässt sich immer nur aus Äußerlichkeiten, Handlungen oder Zeichen erschließen. Als Methode dient die »Rekonstruktion«. Sie ist verwandt, ja mehr oder weniger identisch mit den verstehenden Methoden der Geisteswissenschaften. Rekonstruiert werden soll, wie ganz konkret die soziale Handlung zustande kommt. Alles, was auf den Handelnden einwirkt, soll noch im Moment der Unentschiedenheit festgehalten werden. Dagegen wäre prinzipiell nichts einzuwenden; im Gegenteil, spätestens seit Max Weber ist klar, dass Soziologie darauf angewiesen ist, den Sinn sozialen Handelns verstehend zu erschließen. Problematisch ist jedoch die Betonung der Kontingenz und damit die Vernachlässigung, ja Verdrängung der fait sociaux, der verfestigten sozialen Strukturen, in den die Menschen fremdem Wissen begegnen, und als Folge der Verzicht auf eine quantitativ orientierte Empirie. Methode der Wahl ist eine mikrosoziologische Ethnomethodologie.

Die fait sociaux, verdinglichte Sozialstrukturen, sind nicht aus Stein und Beton, man kann sie nicht sehen und anfassen, sondern nur als Zeichen wahrnehmen, aber sie sind deshalb nicht weniger massiv. Werte, Moralen oder Rechtsordnungen sind natürlich keine Naturgewalten, sondern wirken nur, wenn sie als relevant wahrgenommen werden. Aber sie lassen sich nicht ohne Kosten ignorieren oder weginterpretieren. Die Grundfrage der »alten« Wissenssoziologie lautet nach Berger und Luckmann (S. 20): »Wie ist es möglich, dass subjektiv gemeinter Sinn zu objektiver Faktizität wird?« Aber von dieser Frage hat sich die nWS verabschiedet. »Objektive Faktizität« scheint es gar nicht mehr zu geben. Alles wird verflüssigt und resubjektiviert. Die Aufmerksamkeit gilt nicht irgendwelchen Strukturen, sondern dem kontinuierlichen Prozess, in dem sich die Gesellschaft selbst immer wieder erneuert. Handlungen, Kommunikationen, die laufende Aneignung, Reformulierung und Veränderung von Wissensbeständen, kurz, das Fließen und nicht der Fluss ist das Thema.

Wissensbestände sind immer von Menschen geschaffen. Sie gewinnen jedoch ihre eigene, objektive Existenz. Sie werden in Verbreitungsmedien gespeichert und können noch nach Jahrtausenden wiedergewonnen werden. Auch die Menschen sind während ihrer Lebzeit für andere Speicher- und Verbreitungsmedium. Menschen sind allerdings keine programmierten Roboter. Aber ihre Individualität sieht man nur, wenn man sehr nahe herangeht. Aus der Distanz benehmen sie sich eher wie eine Herde. Jeder Mensch ist als Individuum etwas Besonderes. Soziologisch ist der Zusammenhang zwischen Denken und Handeln aber nur interessant, soweit die Menschen als Mitglieder von Gruppen und Institutionen handeln.

Man kann die nWS als eine Anstrengung würdigen, das Soziale in seiner Dynamik zu erfassen. Es ist ja richtig: »Das Soziale« ist ein Prozess; es ist ständig in Bewegung. Normen, Werte und selbst Kognitionen werden immer nur in konkreten Handlungssituationen relevant, und jede noch so unbedeutende Handlung trägt, wie minimal auch immer, zu ihrer Vermittlung, Bestätigung oder Veränderung bei. Aber wenn man das Wasser im Fluss genau ansehen will, dann muss man es anhalten und dann fließt es nicht mehr. Oder man muss den Fluss aus der Distanz betrachten.

Soeffner und Cremers zeigen anschaulich am Beispiel von Gerichtsverhandlungen, wie man mit den wissenssoziologischen Instrumenten arbeitet. Die Interaktion bei Gericht läuft anders ab als im Alltag, weil hier die auf Gerichtsseite Beteiligten in bestimmten Rollen handeln, die durch Rechtsregeln und professionelle Standards geprägt sind. Die Professionellen sind persönlich nicht betroffen, und das Verfahren ist für sie Routine, so dass sie relativ distanziert und ohne große Gefühlsbeteiligung agieren können. Für Angeklagte, Parteien und auch für viele Zeugen handelt es sich dagegen um eine außerordentliche Situation, in der für sie meist viel auf dem Spiel steht. In der Rechtssoziologie spricht man deshalb von einer verzerrten Kommunikation und manchmal sogar von Zwangskommunikation. Soeffner und Cremers warnen jedoch vor »zwangskommunikativen Determinismus«, denn die Beobachtung und Analyse von Gerichtsverfahren zeige immer wieder die »relative Offenheit« der Situation selbst vor Gericht. In der Tat, das Gerichtsverfahren ist kein Automatismus, die Beteiligten sind keineswegs sprachlos, der Ablauf ist oft höchst lebendig, und das Ergebnis des einzelnen Verfahrens nur schwer vorhersehbar. Aber diese Offenheit zeigt sich nur aus der Nähe. Aus der Distanz betrachtet sind Verlauf und Ergebnis weitgehend fixiert.

Wenn es sich nur um eine Rezeption und Praktizierung der von Mead, Berger und Luckmann begründeten Mikrosoziologie handelte, wäre gegen die nWS nichts einzuwenden. Im Gegenteil, sie wäre eine wertvolle Bereicherung im Strauß der soziologischen Methoden. Tatsächlich tritt die nWS aber, ähnlich wie die Kulturwissenschaften, mit einem imperialen Anspruch auf, der sich nicht einlösen lässt. Die mikrosoziologische Annäherung ist fraglos spannend und relevant. Aber sie darf nicht beim Einzelfall stehen bleiben. Darauf kommen ich in § 35 unter der Überschrift »Struktur und Prozess« zurück.

Von der Wissenssoziologie ist die Wissenschaftsforschung zu unterscheiden. Sie untersucht mit empirischen und theoretischen Mitteln das gesellschaftliche Teilsystem Wissenschaft und seine Wechselwirkung mit anderen Teilsystemen. Allerdings bedient sich die Wissenschaftsforschung gegenwärtig mit Vorliebe wissenssoziologischer Methoden (sog. Laborforschung).

[Stand der Bearbeitung: Dezember 2009]