§ 15 Rechtssoziologie als Kulturwissenschaft?

I.   Die geisteswissenschaftliche Tradition

Es gibt, und zwar speziell in Deutschland, eine lange geisteswissenschaftliche Tradition, die es nicht für sinnvoll hält, Soziologie nur mit empirisch-analytischen Mitteln (harte Soziologie) zu betreiben. Die von Windelband[1] begründete Ansicht, nach der am Geist als Gegenstand der Geschichte nicht das Allgemeine, sondern nur das Individuelle von Bedeutung sei, bestreitet, dass historische und damit auch soziologische Erklärungen ebenso wie naturwissenschaftliche auf deterministischen oder statistischen Gesetzen oder Theorien beruhen. In dieser Diskussion wurde das »ideographische« Verfahren der Geisteswissenschaften dem »nomothetischen« Verfahren der Naturwissenschaften gegenübergestellt. Als die den Geisteswissenschaften adäquate Methode wurde die Methode des Verstehens vorgeschlagen. Von Wilhelm Dilthey (1894) stammt der Satz: »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.«[2]

Dieser Satz ist Ausgangspunkt einer langen Methodendebatte geworden. In dieser Debatte haben sich die geisteswissenschaftlichen Methoden mit durchaus unterschiedlichen Akzenten als Hermeneutik, Phänomenologie oder Dialektik dargestellt. Während die ersten beiden Spielarten vor allem auf individuelle Feinheiten Wert legen, die bei empirisch-analytischem Vorgehen zu kurz kommen, fordert die Dialektik die Berücksichtigung des Gesamtzusammenhanges der Gesellschaft, der gesellschaftlichen Totalität. In den Sozialwissenschaften wird die Tradition der Phänomenologie vom symbolischen Interaktionismus (§ 36) fortgesetzt, der in Rollentheorie und Ethnomethodologie unterschiedliche Ausprägungen gefunden hat. Dabei handelt es sich zwar um empirische Beobachtungsverfahren, die aber darauf verzichten, zu messen und zu zählen und ihre Ergebnisse in Theorien und Hypothesen nach dem HO-Schema zu zwängen.

Um Rechtssoziologie zu betreiben, muss man in dieser Methodendebatte nur soweit Stellung beziehen, dass man den empirischen Weg für die Gesellschaftswissenschaften akzeptiert. Man braucht den geisteswissenschaftlichen Methoden ihr Recht nicht zu bestreiten. Das ist auch die Auffassung, die dieser Darstellung zugrunde liegt und die wir Als-ob-Positivismus nennen: Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass es andere, geisteswissenschaftliche Methoden gibt, die zur Erkenntnis der Gesellschaft und ihres Rechts beitragen können. Wir verweisen jedoch die geisteswissenschaftlichen Methoden ganz allgemein in die Rechtswissenschaft, und hier besonders in die Rechtsphilosophie. Rechtssoziologie wird dagegen hier als Versuch verstanden, dem Verhältnis von Recht und Gesellschaft mit empirischen Methoden auf den Grund zu gehen. Das wird freilich nie flächendeckend möglich sein. Es tauchen immer neue Fragen auf, zu denen man gerne Näheres wüsste. Daher bleibt auch die Rechtssoziologie letztlich ein rhetorisches Fach, das die immerhin vorhandene Empirie akkumuliert und in plausible Verallgemeinerungen einbettet.

II.  Zwei oder mehr Kulturen?

Literatur: John Brockman, Die dritte Kultur, 1996 (The Third Culture, 1995); Michael Hagner, Vom Aufstieg und Fall der Kybernetik als Universalwissenschaft, in: ders./Erich Hörl (Hg.), Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, 2008, 38-70; Charles Percy Snow, Die zwei Kulturen, in: Helmut Kreuzer u. a., Hg., Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz, 1987, C. P. Snows These in der Diskussion, S. 19–96 (The Two Cultures and the Scientific Revolution, Cambridge University Press, 1960, als Vortrag 1956 im »Statesman« veröffentlicht); Wolf Lepenies, Die drei Kulturen, 1985; Rudolf Stichweh, Die zwei Kulturen? Eine Korrektur. Über die gegenwärtigen Beziehungen zwischen den Natur-, den Geistes- und den Sozialwissenschaften, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 283 vom 3. 12. 2008 S. N7.

Wie lautet der zweite Hauptsatz der Thermodynamik? Diese und ähnliche Fragen werden manche Soziologen und viele Juristen in Verlegenheit bringen. Beherrschen Geistes- und Sozialwissenschaftler (und die ihnen verbundenen Intellektuellen) nicht einmal das kleine Einmaleins der Naturwissenschaft mit der Folge, dass sie die technische Intelligenz nicht verstehen? Leben sie deshalb in einer anderen Kultur? Das jedenfalls war 1959 die These des Physikers, Romanciers und Direktors der English Electric Company Charles Percy Snow in Cambridge, an die bis heute eine Diskussion über »die zwei Kulturen« anknüpft.

Dürftige technisch-naturwissenschaftliche Kenntnisse nicht nur der Juristen, sondern auch der Sozialwissenschaftler lassen sich wohl nicht abstreiten. Daraus folgt aber nicht, dass die technische und die sozialwissenschaftliche Intelligenz in verschiedenen Kulturen leben, die sich nicht verstehen können, denn die Soziologie verbindet mit Naturwissenschaft und Technik nicht nur die die empirische Orientierung, sondern auch eine wachsende Reihe theoretischer Konzepte zur Interpretation ihrer Beobachtungen.

–  Das älteste ist die Idee der Evolution, deren glänzende Formulierung Darwin vor 150 Jahren (1849) gelungen war. Evolution ereignet sich überall, wo Leben ist (§ 90 unten).

–  Als universelles Konzept dient seit jeher der Systemgedanke. Er ist besonders hilfreich, wenn es um komplexe Phänomene geht. Das sind solche, die aus vielen, oft sehr einfach gebauten Teilchen oder Agenten bestehen, die durch ihr Zusammenspiel das für das System charakteristische Verhalten zustande bringen. Das Verhalten der einzelnen Teilchen ist oft relativ gut erforscht und verstanden. Aber das genügt nicht, um den (emergenten) Gesamteffekt zu erklären. Klassisches Beispiel ist das Gehirn. Es ist aufgebaut aus Milliarden relativ einfacher Synapsen, deren Funktion gut erforscht und verstanden ist. Durch ihre Verschaltung bringt das Gehirn unglaubliche Leistungen wie Lernen, Vergessen, Fühlen und Bewusstsein hervor, die sich noch längst nicht voll erklären lassen. Genauso sind die Handlungen einzelner Akteure in Märkten oder Gesellschaften relativ gut bekannt. Wie aus deren Wechselwirkungen Aufschwung oder Rezession, Spekulationsblasen oder Börsenralleys werden, bleibt dagegen weitgehend unverstanden. Zunächst hat man Systeme notgedrungen als Black Box behandelt, das heißt, man hat sich mit der bloßen Tatsache zufrieden gegeben, dass aus der Verknüpfung einzelner Elemente zu einem System ein neues »emergentes« Gesamtverhalten entsteht. Im Laufe der Zeit ist aber eine Reihe von Konzepten hinzugekommen, die jedenfalls partiell eine Brücke von dem Verhalten der Systemelemente auf das Gesamtsystem schlagen. Norbert Wiener wollte nach 1945 mit der Kybernetik eine Universalwissenschaft zu Erklärung des Innenlebens aller Systeme begründen. Dieser Anspruch ist zwar nicht eingelöst worden. Geblieben ist aber die Idee der Rückkopplung und des Regelkreises.

–  Zusammen mit Claude E. Shannon hat Wiener die Grundlagen der Informationstheorie gelegt. Information ist die Auswahl aus Alternativen. Eine Information ist umso gehaltvoller, je größer das Spektrum der Alternativen ist, aus dem sie gewählt wird. Der Informationsbegriff wird gerne mit dem Sinnbegriff verglichen, den etwa gleichzeitig die phänomenologisch orientierte Philosophie entwickelt hat: Sinn ist eine Auswahl aus Alternativen, freilich mit dem Unterschied, dass die nicht gewählten Alternativen sozusagen am Horizont sichtbar bleiben und wieder abgerufen werden können. Dieser Sinnbegriff hat durch das Werk Luhmanns große Prominenz gewonnen. Luhmann hat auch Kommunikation und Beobachtung zu universalen Konzepten gemacht. Information wird zur Kommunikation, wenn sie absichtsvoll mitgeteilt und diese Mitteilung von anderen beobachtet und als solche verstanden wird.

–  Die Spieltheorie war zunächst eine Entwicklung von Mathematikern. Sie entwarfen formalisierte Modelle für Situationen, in denen die Beteiligten entweder nicht miteinander über ihre wechselseitigen Absichten kommunizieren können oder in denen sie den Informationen über die Pläne der anderen nicht vertrauen. Besonders Wirtschaftswissenschaft und Politikwissenschaft haben darauf zugegriffen. Aber auch für das Verständnis von Evolution bedient man sich inzwischen spieltheoretischer Modelle.

–  Schließlich hat sich die Netzwerktheorie (§ 56 unten) zu einem transdisziplinär wichtigen Instrument entwickelt.

Die Diskussion um die »zwei Kulturen« leidet darunter, dass Geistes- und Sozialwissenschaft in einen Topf geworfen werden. Der Unterschied ist groß, denn die Sozialwissenschaften arbeiten im Prinzip empirisch, die Geisteswissenschaften dagegen historisch-hermeneutisch. Es müsste deshalb eigentlich von drei Kulturen die Rede sein.

Als »dritte Kultur« verstehen sich Naturwissenschaftler, die die Interpretation ihrer eigenen Arbeiten nicht den traditionell aus den Geisteswissenschaften stammenden »Intellektuellen« überlassen wollen, sondern sich selbst an das allgemeine Publikum wenden. Oft fühlen sich dazu Nobelpreisträger berufen. In dem von Brockmann herausgegebenen Band sind über 20 solcher Beiträge von »Intellektuellen der dritten Kultur« versammelt.

Die Diskussion um wechselseitige Verständnisprobleme der Disziplinen ist durch die Herausforderungen von Soziobiologie und evolutionärer Psychologie in eine neue Runde gegangen, in der sich neue Möglichkeiten der Kooperation und der Konfrontation zeigen. Im Grund ist es eine Trivialität: Keiner, den wir ernst nehmen, bestreitet, dass menschliches Verhalten auf einer biologischen Basis aufruht. Und kein Biologe ist bisher so weit gegangen, Kultur und Gesellschaft komplett aus dieser Basis zu erklären. Aber die Verhaltensbiologie hat so große Fortschritte gemacht, dass es nun lohnend wird, die konkrete Verknüpfung von Biologie und Kultur näher zu untersuchen. Es ist übertrieben, deshalb eine dritte »Kultur« auszurufen. Aber es wäre Kraftverschwendung, sich länger mit dem Gegensatz von Natur- und Geisteswissenschaften aufzuhalten.

III.  Von der Rechtssoziologie zur Kulturwissenschaft und zurück

Literatur: Clemens Albrecht, Wie Kultur repräsentativ wird: Die Politik der Cultural Studies, in: Udo Göttlich u. a. (Hg.), Populäre Kultur als repräsentative Kultur, Die Herausforderung der Cultural Studies, 2002, S. 16–32; Aleida Assmann, Einführung in die Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 2008; Friedrich Jäger/Burkhard Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, 3 Bde, 2004 (in Band 3 ein Titel »Politik und Recht« mit acht Beiträgen; alle ziemlich überflüssig); Paul W. Kahn, The Cultural Study of Law: Reconstructing Legal Scholarship, 1997; Andreas Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien, 2000, Studienausgabe mit Nachwort 2006; Austin Sarat/Jonathan Simon (Hg.), Cultural Analysis, Cultural Studies, and the Law, Duke University Press, 2003; Friedrich H. Tenbruck, Die Aufgaben der Kultursoziologie [1979 in KZfSS], Annali di Sociologia 1, 1985, 45-70.
Nachtrag:  Das German Law Journal hat im Mai 2023 ein Sonderheft über die durch Paul W. Kahn vertretene kulturwissenschaftliche Perspektive auf das Recht veröffentlicht. Ein eigener Versuch, den ästhetischen Ansatz in den‚ Griff zu bekommen: Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Zur Ästhetik des Rechts (Law and Aesthetics) https://ssrn.com/abstract=3191176, 2018.

Der Begriff der Kultur ist noch unschärfer als derjenige des Rechts (§ 45 unten). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte der Kulturbegriff als normativer Kampfbegriff etwa gegen die französische »Zivilisation« dienen. Ein halbes Jahrhundert später waren »Kulturindustrie« (Horkheimer/Adorno) oder »affirmative Kultur« (Marcuse) Gegenstand kritischer Analyse. Heute ist der Kulturbegriff durch inflationären und vieldeutigen Gebrauch verwässert. Das Spektrum reicht von »Multikulturalität« und »interkultureller Vermittlung« über »Alternativ-, Pop-, Medien-, Alltags-« oder »Unternehmenskultur« bis zur »Netz-« und »Industriekultur«. Der Schriftsteller Eckhard Henscheid hat ironisch 756 Kulturen identifiziert.[3] Doch ähnlich wie beim Recht muss man gar nicht mit einer Definition beginnen. Meistens weiß man auch so, was gemeint ist.

Das Recht ist Teil der Gesellschaft und damit in deren Kultur eingebettet. Das ist eigentlich eine Trivialität, und ebenso selbstverständlich sollte es sein, dass das Recht seinerseits einen Teil dieser Kultur bildet. Aber Trivialitäten sind langweilig, und gelegentlich werden sie vergessen oder verdrängt, so auch, wenn man sich zu intensiv nur mit dem einen oder dem anderen beschäftigt, die wechselseitige Bedingtheit von Kultur und Recht. Dann wird früher oder später eine Wende ausgerufen, nach dem linguistic turn und dem pictorial turn nun auch der cultural turn. Um 1980 war noch alles Struktur und Funktion. Heute ist alles Kultur. Nicht wenige Juristen und Rechtssoziologen sind mit einem geradezu heroischen Willen zur Interdisziplinarität bemüht, die Deutungshoheit über Begriffe ihres Faches an die Kulturwissenschaften abzutreten.

Eine erste kulturalistische Wende in den Human- und Sozialwissenschaften gab es schon am Anfang des 20. Jahrhunderts. Sie ist mit den Namen wie Sigmund Freud oder Aby Warburg verknüpft. Ähnlich wie die Rechtssoziologie gab und gibt es auch eine Kultursoziologie (Tenbruck). Auch sie beruft sich auf große Namen wie Max Weber oder Georg Simmel. In die Ahnenreihe gehört auch der als Rechtssoziologie bekannte Theodor Geiger (§ 8 oben). Von Geiger stammt der in diesem Zusammenhang wichtige Begriff der repräsentativen Kultur. Sie ist das Gegenstück zur anonymen Volkskultur, deren Bestände sich – vergleichbar der Sprache oder dem Gewohnheitsrecht – formlos vererben und sich dabei laufend verändern. Dadurch unterscheidet sie sich von der (von Geiger so genannten) substanziellen Kultur, die sich aus individualisierbaren Werken zusammensetzt und in ihrer Summe die repräsentative Kultur ausmacht.

»Diese substanzielle Fassung des Kulturbegriffs entspricht unserem Kulturstil selbst. Sie ist Ausdruck dafür, dass unsere Zeit im Zeichen einer Repräsentativ-Kultur steht. Damit ist gemeint, dass aufgespeicherte Kulturbestände, deren jegliches Stück einem – bekannten oder unbekannten—Urheber zugeschrieben wird, ›die Kultur der Epoche‹ repräsentieren.« (Geiger Aufgaben und Stellung der Intelligenz in der Gesellschaft, 1949, 2).

An diese Begriffsbildung erinnert die Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Rechtskultur.

Repräsentative Kultur ist Hochkultur. Sie stellt die hegemonialen Muster für die Deutung der sozialen Wirklichkeit bereit.

»Repräsentative Kultur … entwickelt sich in allen arbeitsteiligen Gesellschaften, sobald eine spezifische Gruppe oder Schicht entsteht, die sich auf Erhalt und Tradierung der immateriellen Kultur, der Ursprungssagen, der Mythen, der Religion, der Riten und des kollektiven Gedächtnisses, spezialisiert. Sie entwickelt den Deutungsrahmen des Alltagshandelns fort, baut neue Ereignisse (Naturkatastrophen, Kriege) in den alten Rahmen ein, legitimiert oder delegitimiert politische Herrschaft und kann auf Anerkennung ihrer Sinndeutungen rechnen. Repräsentative Kultur entwickelt also notwendig einen Anspruch auf Geltung, der über die unmittelbare Trägerschicht hinausreicht.« (Albrecht 2002:21)

Protagonisten sind Geisteswissenschaftler, Künstler, Literaten und Journalisten, Intellektuelle und Kulturschaffende, wie man sie anerkennend oder abschätzig nennen mag. Die Trägerschicht dieser Kultur ist aber viel breiter. Man hat sie oft mit dem Bürgertum identifiziert. Bürgerliche Kultur, wie sich sie in Bildung und Habitus äußert, wurde damit – als Kultur der herrschenden Klassen – neben der Stellung der Menschen im Produktionsprozess zu einem Merkmal der sozialen Schichtung.

Die neue Wende zur Kultur ging in den 60er Jahren von amerikanischen und britischen Anthropologen aus. Sie wurde angetrieben von der politischen Forderung, sich nicht länger auf das Studium der Objektivierungen menschlichen »Geistes« in Geschichte, Literatur und Künsten zu kaprizieren, sondern die pluralen Ausdrucksformen von a priori gleichberechtigten Kulturen anzuerkennen. Mit Kritik an der »Hochkultur« verband sich die Hoffnung auf ein subversives Potential der »Subkulturen«. Anthropologie und Ethnologie, die sich bislang auf »fremde« Kulturen beschränkt hatten, beobachteten nun die eigene Gesellschaft und erschlossen sich so mit den cultural studies neue Gegenstandsbereiche. Das geschah mit dem politischen Anspruch, Felder sozialer Ungleichheit zu entdecken, die überkommene Unterscheidung zwischen Hochkultur und Popularkultur aufzubrechen und den Kampf um Bedeutungen zu analysieren.

Auch in Europa wurde den 1990er Jahren »Kultur« zum Leitbegriff für die Geistes- und Sozialwissenschaften. Hier fehlt ihm allerdings der starke kritisch-politische Angriffsgeist. Die Geistes- und Sozialwissenschaften stehen unter einem erheblichen Legitimationsdruck. Mit einer Neuorientierung als Kulturwissenschaften hoffen sie, sich die Überlebensfähigkeit zu sichern. Daraus hat sich eine merkwürdige Eigendynamik ergeben. Während die cultural studies mit einem kritischen Impetus gestartet waren, geht es in Deutschland eher um Studiengangsplanung und Berufsorientierung akademischer Abschlüsse im Sinne der ökonomischen Verwertbarkeit kultureller Kenntnisse oder gar um die Möglichkeiten der Wirtschaftsförderung durch Kultur. Vor allem aber ermöglicht die Hinwendung zu »Kultur« eine beinahe beliebige Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Geistes- und Sozialwissenschaften. Als Kulturwissenschaften fühlen sie sich für alles zuständig, auch für das Recht. Sozusagen als Gegenleistung gibt es ein dreifaches Versprechen:

–  Aus dem Abbau der Disziplingrenzen soll eine Perspektivenerweiterung resultieren.

–  Es sollen neue Themenfelder eröffnet werden.

–  Eine neue Methode soll die »kulturellen Differenzerfahrungen« der Moderne erschließen.

Die Versprechen klingen gut. Aber nach zwanzig Jahren Kulturwissenschaft ist die Bilanz für die Rechtssoziologie gemischt.

Als Disziplin mit institutioneller Basis und Organisation gab es die Rechtssoziologie eigentlich nie. Sie wurde und wird in der Hauptsache von Juristen und in der Nebensache von Soziologen und vielen anderen betrieben. Rechtssoziologie war immer schon in dem Sinne interdisziplinär, dass in ihrem Namen Juristen ihre Disziplingrenzen überschritten haben. Viel zu öffnen gibt es also gar nicht. Immer schon waren zur Rechtssoziologie alle eingeladen, die sich für das Recht interessieren. Als Kulturwissenschaft verkleidet haben nun mehr oder weniger alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen, etwa Literaturwissenschaft, Kunstwissenschaft, Medienwissenschaft und andere mehr das Recht entdeckt. Dagegen ist nichts einzuwenden. Problematisch sind aber Bestrebungen, auf die Selbstbenennung des Faches als Rechtssoziologie zu verzichten und nach dem amerikanischen Vorbild von »Law & Society« nur noch von (Forschungen über) »Recht und Gesellschaft« zu sprechen. Die Öffnung der Rechtssoziologie gegenüber der Kulturwissenschaft führt damit zu ihrer Selbstauflösung. Auch das wäre nicht weiter schlimm, wenn dafür etwas gewonnen würde. Doch im Gegenteil, gewonnen wird wenig, aber es geht viel verloren.

  1. Der kulturwissenschaftliche Ansatz führt zu einer souveränen Geringschätzung all dessen, was die »Disziplinen« immerhin schon geleistet haben.
  2. Keines der genannten Themen ist wirklich neu.
  3. Kulturwissenschaften setzen zu sehr auf den homo symbolicus und damit auf einen neuen homunculus.
  4. Kulturwissenschaften gebärden sich empiriefeindlich.
  5. Zur beherrschenden Methode wird die wissenssoziologische Rekonstruktion.
  6. Kulturwissenschaften verfahren einseitig poststrukturalistisch.

Zu 1. – Geringschätzung der traditionellen Disziplinen: Die Kulturwissenschaften verstehen sich als Neubeginn. Damit können sie, was von den traditionellen Wissenschaften geleistet worden ist, bequem beiseiteschieben: Die in ihren Disziplingrenzen befangenen Juristen, Historiker, Germanisten usw. haben ohnehin nichts verstanden. Kulturwissenschaftler sind anscheinend nicht bereit, sich näher auf den Objektbereich, über den sie reden wollen, einzulassen. Ihre Ergebnisse sind oft trivial. Juristen sind sie schwer zu vermitteln.

Zu 2. Themenangebot: Für eine kulturwissenschaftlich inspirierte Rechtsforschung wird eine lange Reihe von Themen[4] empfohlen:

a) Gedächtnis: Kultur bildet einen Komplex identitätssichernden Wissens, sozusagen das Gedächtnis einer sozialen Gruppe oder gar der Gesellschaft. So verstanden ist Kultur das Arrangement von Symbolen, das die Bilder und Zeichen, Geschichten und Charaktere, Szenarien und Metaphern bereit hält, mit deren Hilfe die Mitglieder einer Gruppe ihrem Leben und der Welt um sie herum einen Sinn geben. Im Anschluss an Aleida und Jan Assmann ist daher das »kulturelle Gedächtnis« zu einem Schlüsselbegriff der Kulturwissenschaften geworden. Das Gedächtnis nimmt in Mythen und Riten, Liedern und Festen, Bildern und Texten Gestalt an. Eine »gedächtnisorientierte« Wissenschaft sucht dann nach den Ursprungsmythen moderner Institutionen. Und sie wäre keine solche, entdeckte sie nicht überall, wonach sie sucht, etwa für das Verfassungsrecht einen revolutionären Ursprungmythos, der es dem Verfassungsrecht gestatten soll, »an die Partikularität und Körperlichkeit von Revolutionen anzuknüpfen«. Oder sie beschwört den demokratischen Gründungsmythos der sogenannten verfassungsgebenden Gewalt des Volkes (Giorgio Agamben, Homo sacer, 2002, 50 ff.). Die entdeckten Symbole sind oft nicht viel besser als der Kadaver des Ziegenbocks, der in der Essener Inszenierung der »Elektra« über dem Kopf Klytaimnestras pendelte. Es handelt sich regelmäßig um paradigmatische Überinterpretationen, die in der Soziologie keinen Platz haben. Das meiste, was die Kulturwissenschaft als kulturelles Gedächtnis behandelt, ist längst Thema der Mediensoziologie und von dort auch in die Rechtssoziologie übernommen worden. In der allgemeinen Soziologie spricht man vom kollektiven Gedächtnis. Es spielt u. a. bei der Erklärung der Evolution (§ 90III unten) des Rechts eine Rolle.

b) Alltagskultur und Popkultur: Die Kulturwissenschaften halten sich weiter zugute, dass sie den Blick auf die Bedeutung des Alltagswissens und der Populärkultur gelenkt habe. Da war die Rechtssoziologie allerdings auch schon ohne ihre Hilfe angekommen (§ 39 unten).

c) Visualität: Auf die Alltags- und Popkultur ist die Rechtssoziologie mittelbar durch Film und Fernsehen aufmerksam geworden, die in ihrem Themenhunger nicht nur Kriminalthemen, sondern viel allgemeiner Recht und Gerichte zum Thema von Unterhaltungsstoffen gemacht haben (näher in § 39). Auf diesem Umweg ist nicht nur die visuelle Kommunikation, sondern viel allgemeiner die Relevanz der Kommunikationsmedien für das Recht Thema der Rechtssoziologie geworden (näher unten in § 72III).

d) Zeitlichkeit des Rechts: Raum und Zeit geben der Welt im Erleben der Menschen Struktur. Diese Struktur ist primär natürlich, beim Raum durch die Gestalt der Erde und ihrer Landschaften, bei der Zeit durch den Wechsel von Jahreszeiten, Tag und Nacht. Aber die natürliche Struktur wird überlagert durch eine soziale. Die Landschaften sind durch Besiedlung und Bauten gestaltet. Die Zeit erhält durch Kalender, Uhren und Gewohnheiten und Pläne ihren Rhythmus. Zeit korrespondiert mit Kausalität, denn Kausalität wird als eine zeitliche Abfolge von Ereignissen gedacht. Die Wahrnehmung der Vergangenheit durch Rechtsgeschichte und historische Soziologie bringt Periodisierungen hervor, die auf das Verständnis des aktuellen Rechts zurückwirken. Für den Alltagsgebrauch sind es die sog. Narrationen, die das Recht zeitlich gliedern (§ 23 II unten). Monoton wird beklagt, dass die Beziehung zwischen Recht und Zeit wissenschaftlich vernachlässigt worden sei.[5] Tatsächlich ist die Literatur zum Thema gar nicht so spärlich.[6]

Überall im Recht ist die Zeit präsent, beim Alter von Personen, in Fristen und Terminen, bei der Verjährung, der Dauer einer Strafe usw. usw. Das ist trivial. Aber die Kulturwissenschaften leben davon, Trivialitäten hochzustilisieren. Positivität des Rechts bedeutet Änderbarkeit und begründet damit auch ein Zeitphänomen. Das ist durch Niklas Luhmann zu einem klassischen Thema der Rechtssoziologie geworden (§ 9 IV oben). Interessanter als die Zeitlichkeit des Rechts ist die Veränderung der Zeitperspektive der Gesellschaft. Zu beobachten sind gegenläufige Entwicklungen. Auf der einen Seite steht die Dehnung der für relevant angesehenen Zeit. Traditionelle Verjährungsvorstellungen sind zu einem erheblichen Teil obsolet geworden. 1949 verjährte die Verfolgung von Mord noch in 20 Jahren. Dann wurde diese Verjährungsfrist im Blick auf die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen auf 30 verlängert, und als 1979 auch diese Spanne ablief, ganz aufgehoben. Aber auch zivilrechtliche Wiedergutmachungsansprüche werden heute ohne Rücksicht auf Fristen zugelassen. Hier sind ganz deutlich die rechtlichen Konsequenzen einer Neubewertung von Kolonialismus und Sklaverei, Naziverbrechen und sozialistischen Diktaturen zu spüren. In der Sprache der Kulturwissenschaften: In den 1960er Jahren hat man von einer Kultur des Vergessens auf eine Kultur der Erinnerung umgestellt und daraus ist die Forderung nach Wiedergutmachung historischen Unrechts erwachsen, mindestens soweit dieses Unrecht politisch organisiert war. Die Konsequenz ist eine »Vermessung der Geschichte durch die Gerichte«[7]. Rückwirkende Moralisierung schlägt auf das Recht durch. Auf der anderen Seite Beschleunigung: Die Beschleunigung von Transport- und Kommunikationsvorgängen durch die moderne Technik und die (dadurch beförderte) Globalisierung der Wirtschaft mit dem daraus folgenden Konkurrenzdruck haben zu einer Art Nonstop-Gesellschaft geführt. Die rechtliche Regelung von Feiertagen und Ladenschluss, Arbeitszeiten und Fristen aller Art muss darauf reagieren.

e) Raum: Recht braucht einen Anwendungsbereich. Der ist, seitdem die Menschen sesshaft geworden sind, in erster Linie räumlich bestimmt. Traditionelle Rechtsvorstellungen sind daher mit Stadt und Staat verbunden. Eine alte Fragestellung der Rechtssoziologie befasst sich dem Phänomen lokaler Rechtskulturen, nämlich damit, dass Recht, das seinem Anspruch nach in einem bestimmten Territorium eigentlich einheitlich gelten sollte, in der Praxis ganz unterschiedliche Ausprägungen annimmt. Das geht bis hin zu den illegalen Siedlungen in Großstädten von Schwellen- und Entwicklungsländer, in denen sich relativ unabhängig vom staatlichen Recht ein Ordnungssystem entwickelt, für das die Bewohner Rechtsqualität in Anspruch nehmen.[8] [9]

Mit der Beförderungs- und der Kommunikationstechnik sind die Menschen mobiler geworden. Politischer Druck und wirtschaftlicher Sog bringen sie in Bewegung. Grenzen sind durchlässiger geworden. Raum und Mobilität haben dadurch als Rechtstatsachen Bedeutung gewonnen. Das ist offensichtlich, wenn es um die Globalisierung des Rechts oder um Immigration und Integration geht. Durch die neue Mobilität haben sich die Raumerfahrung auch das Selbstverständnis der Menschen und damit ihre Beziehung zum Recht verändert. Die über den Raum vermittelte Loyalität zu Stadt, Staat und Recht hat sich abgeschwächt. Das alles ist nicht neu und reicht sicher nicht aus, um, etwa analog zur Wirtschaftsgeographie, wie sie der Nobelpreisträger Paul Krugman, angeregt von Ansätzen deutscher Raumwirtschaftstheoretiker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wiederentdeckt und fortentwickelt hat, einer Rechtsgeographie das Wort zu reden. Was dazu angeboten wird[10], lässt sich einfacher in den konventionellen Kategorien der Rechtssoziologie unterbringen. In der modernen Soziologie ist zwar viel von Räumen (space) die Rede. Meistens wird der Begriff aber nicht geographisch, sondern im übertragenen Sinne verwendet wie von Bourdieu, wenn er von juristischen Feldern[11] spricht. Als Metapher trägt er wenig zur Sache, aber viel zur Komplikation der Darstellung bei. Von den Herausgebern des Legal Geographies Reader (S. XII f.) erfahren wir:

»First, by reading the legal in terms of the spatial and the spatial in terms of the legal, our understandings of both, ›space‹ and ›law‹ may be changed. Old stabilities begin to reveal gaps and tensions. … Second … the spaces of experience and imagination are profoundly molded by inherited legal notions such as ›rights‹, ›ownership‹ and ›sovereignty‹ … Social space is saturated with legal meanings, but these meanings are always multiple and usually open to a range of divergent interpretations. … Third … the legal and the spatial are, in significant ways, aspects of each other and as such, they are fundamental and irreducible aspects of a more holistically conceived social-material reality.«

Es ist sicher richtig, dass man bei Untersuchungen über die Wirklichkeit des Rechts auch über Immigration und Globalisierung hinaus vielfach an räumlichen Grenzen anknüpfen kann, etwa bei der Verteilung von Grundeigentum oder bei der Durchsetzung von Ordnung in öffentlichen Plätzen. Dass räumliche Grenzen, etwa die zwischen Slums und guten Wohnvierteln oder gar fenced communities auch Grenzen zwischen Arm und Reich, Stark und Schwach darstellen, ist bekannt. Für all das braucht man weder eine Rechtsgeographie noch die Kulturwissenschaften.[12]

f) Technik: Das Verhältnis von Recht und Technik wird seit jeher unter der Überschrift »Recht und sozialer Wandel« thematisiert (§ 92).

g) Gewalt fasziniert die Kulturwissenschaften im Zusammenhang mit dem Recht wegen ihrer Doppelrolle. Das Recht versteht sich als Friedensordnung. Historisch ist es aber nicht selten durch einen gewaltsamen Akt, durch Krieg oder Revolution, entstanden. Einerseits bekämpft das Recht die Gewalt, wenn sie als Selbsthilfe, gewöhnliche Kriminalität oder gar Terrorismus auftritt. Andererseits droht das Recht seinerseits mit Gewalt und wendet sie bei Bedarf auch an. Der Beitrag der Kulturwissenschaften besteht darin, dass sie diese Doppelrolle zur Paradoxie hochstilisiert.

h) Körperlichkeit: Wenn Kulturwissenschaftler der Rechtsforschung den Körper als Thema nahelegen, so meinen sie verschiedene Dinge. Erstens geht es um die physische Gewalt. Die ist immer schon ein Thema von Psychologie und Soziologie gewesen. Zweitens geht es um die materielle (körperliche) Basis der Rechtskommunikation: »Das Recht wird als Zeichenkörper konstituiert.«[13] Solche aufgeblasenen Formulierungen sind für die Kulturwissenschaften typisch. Wir behandeln diesen Aspekt als Zusammenhang von Recht und Medien (§ 92 V unten). Manchmal geht es aber auch nur um metaphorischen Sprachgebrauch, so wenn wir erfahren, in Hobbes’ Leviathan erscheine der Staat als Verkörperung des Rechts. Immer wieder fasziniert die Geschichte der Leibes- und Lebensstrafen. Aber es ist wohl richtig, dass heute über der Technik und den sozialen Strukturen die Leiblichkeit vernachlässigt oder gar vergessen wird. Es scheint, als ob das moderne Recht direkte Zugriffe auf den menschlichen Körper möglichst ausspart. Folter und Todesstrafe sind indiskutabel, körperliche Züchtigung jeder Art verboten. Gegenüber dem Zugriff von Medizin und Neurowissenschaft auf den Körper ist das Recht weitgehend ratlos. Drittens: Ein interessanter Aspekt von Körperlichkeit wird in der Soziologie als »tacit knowledge« (M. Polanyi) oder (von Bourdieu) als Habitus thematisiert. Es geht darum, dass es zur Erklärung von Handlungen nicht genügt, bloß das Bewusstsein der Handelnden zu analysieren, weil es von einer unbewussten Handlungsbereitschaft getragen wird, die zu situationsadäquaten Improvisationen befähigt. So können Jazzmusiker zusammen spielen, ohne bewusst bestimmten Regeln zu folgen, weil sie die Fähigkeit entwickelt haben, auf das zu hören, was die anderen spielen, und darauf passend zu reagieren. Autofahrer entwickeln einen »sens pratique«, der sie Gas geben, lenken und bremsen lässt, ohne dass sie überlegen oder sich auch nur bewusst machen, was sie tun. Wenn ich an der Tastatur sitze und schreibe, geben meine Finger nicht ganz selten Zeichenketten ein, die dem gemeinten Wort ähnlich sind.

h) Textbegriff: Für Recht und Rechtssoziologie nicht ganz unwichtig ist eine Erweiterung des Textbegriffs, manche sprechen sogar von einem textual turn: Zunächst muss ein neuer Ausdruck her: Textualität (§ 38II unten). Textualität ist eine Eigenschaft der Kultur, die nicht von Texten im technischen Sinne des gesprochenen oder geschriebenen Wortes abhängt. Damit ist der Text nicht mehr selbstgenügsam und verliert seine Funktion als Bedeutungsträger. Danach geht es an die Dekonstruktion. Dabei hilft der Begriff der Kontingenz: Kultur ist alles, was anders hätte ausfallen können, also ein Konstrukt. Jedes Konstrukt kann auf alternative Konstruktionsmöglichkeiten befragt werden; es kann dekonstruiert werden. Das gilt sowohl für den vorgefundenen Text wie für dessen Lektüre. Der Beobachter zweiten Grades findet auf beiden Seiten, auf der des Textes und der der Lektüre, eine Wahl, die so oder anders hätte getroffen werden können. Der Text müsste nicht so da stehen, wie er steht, und der Leser hätte ihn anders verstehen können als er tat. Einige Varianten mögen manifest erscheinen. Andere werden nur als Negationshorizont mitgeführt und könnten bei Anlass oder Bedarf belebt werden. Text und Lektüre demontieren sich auf diese Weise selbst. Doch es ist nicht nur der Leser, der so bei der Lektüre beobachtet wird. Textualität der Kultur soll vielmehr besagen, dass jeder Text in vielfältiger Weise mit anderen verflochten ist und darüber hinaus einem sich ständig verändernden Kontext angehört.

i) Politisierung von Kultur: Die politische Instrumentalisierung von Kultur beginnt nicht erst mit dem Paukenschlag der Kulturrevolution Mao Tse Tungs. Heute redet man lieber kritisch über die Forderung nach einer deutschen Leitkultur, nach kultureller Integration von ausländischen Zuwanderern oder über das Konzept des Verfassungspatriotismus.

Zu 3. – Homo symbolicus: Nachdem homo sociologicus und homo oeconomicus mühsam zu Grabe getragen wurden, zieht mit dem homo symbolicus der Kulturwissenschaften ein neuer Homunculus ein. Methodisch führen die Begriffe kulturelles Wissen und kulturelles Gedächtnis zur (neuen) Wissenssoziologie (§ 8V oben). Methoden der Wahl sind »dichte Beschreibung« und Rekonstruktion. Es geht dabei um die qualitativen Methoden der Sozialforschung, die im Anschluss an die »interpretative Wende« der Soziologie auch von der Rechtssoziologie rezipiert worden sind (§ 23 unten).

In den Kulturwissenschaften beanspruchen die qualitativen Methoden ein Übergewicht oder gar eine Monopolstellung. Es mag wohl zutreffen, »dass die Gestalt der Dinge in letztlich historisch und sozial kontingenten Sinnzusammenhängen und Praktiken kulturell produziert wird« (Reckwitz, S. 39). Die sinnhafte Konstitution der Wirklichkeit steht außer Frage. Nur darf man darüber die Reifizierung des Sinnhaften nicht vergessen. Geäußerter Sinn wird zu etwas Dinglichem, an dem man sich stoßen kann. Es ist nicht ganz einfach, Menschen, die hinter Gittern sitzen, bei denen die Gerichtsvollzieherin vor der Tür steht, den Opfern von Vergewaltigung oder Betrug oder auch nur dem Steuerzahler zu sagen, die soziale Welt existiere nur als symbolische; was sie erlebten, beziehe seine Bedeutung aus kollektiven Wissensordnungen, sei sozial konstruiert und deshalb kontingent. Rechtssoziologie muss daher nach wie vor bei Handlungen und Konflikten, Normen und Institutionen ansetzen.

Zu 4. – Empiriefeindlichkeit: Im Zentrum der Kulturwissenschaft geht es noch um anderes und mehr als um eine Eroberung des Gegenstandsfeldes der Geistes- und Sozialwissenschaften. Es geht um die Auswechslung von Basis und Überbau. Die geistig-ideelle Sphäre, die dem Marxismus als bloßer Überbau des Materiellen galt, wird zur Basis aller sozialen Phänomene. Menschliches Handeln und menschliche Beziehungen sind nunmehr nur noch Epiphänomene einer symbolisch sinnhaft konstituierten Welt. Dagegen wäre eigentlich nichts einzuwenden. Juristen haben das Recht nie anders als ein kollektives Sinnsystem behandelt. Aber jetzt wird der Spieß umgedreht. Eine postempirische oder postpositive Epoche wird ausgerufen. Methoden, die zählen und messen, werden als empiristisch denunziert. Psychologische und biologische Beobachtungen passen schon gar nicht mehr ins Bild. Stattdessen sind Interpretation und Rekonstruktion angesagt. Für beide gilt ein radikaler Kontextualismus. Er geht davon aus, dass kulturelle Produkt kulturelle Praktiken außerhalb des Kontextes nicht fassbar sind. Generalisierungen, die doch eigentlich das Ziel von Wissenschaft sind, werden damit ausgeschlossen.

Zu 5. – Wissenssoziologische Rekonstruktion: Methodisch führt Kulturwissenschaft zu einer wissenssoziologischen »Rekonstruktion« dessen was bisher in der Rechtssoziologie als Rechtsbewusstsein geläufig war. Immerhin gibt es hier durch einen entschiedenen Blick auf die Alltagskultur (im Sinne von Lebenswelt) neue Akzente. Es wird betont, dass »Recht« weitaus ubiquitärer ist, als es die klassische Frage nach »knowledge and opinion about law« aufdecken kann. Recht beeinflusst die Menschen nicht von außen, sondern ist Teil ihres Selbstverständnisses. Sie sehen sich selbst, wie das Recht sie sieht, und daraus bezieht wiederum das Recht seine Bedeutung. So wird  von den Kulturwissenschaften mit immer neuen Formulierungen und Beispielen die Zirkularität des Denkens beschworen. Als Beispiel hier eine Formulierung von Ulrich Haltern (2005, 18):

»Das Recht konstituiert die Erfahrung des Selbst und des Anderen. Es ist Teil des kulturellen Bedeutungs- und Symbolgewebes, in das der Mensch verstrickt ist. Damit ist nicht nur gesagt, dass das Recht weitaus ubiquitärer ist, als instrumentalistische Theorien meinen, sondern vor allem, dass es bereits integraler Bestandteil dessen ist, was es regelt. Recht beeinflusst uns nicht von außen, sondern ist Teil unseres Selbstverständnisses. Wir beginnen uns zu sehen, wie das Recht uns sieht, indem wir an der Konstruktion von Bedeutungen teilnehmen, die das Recht vornimmt. Wir internalisieren die Repräsentationen, die das Recht von uns formt, und können unsere Ziele und Einsichten nicht länger von ihnen trennen.«

Das ist der gute alte hermeneutische Zirkel kulturtheoretisch gewendet.

Das Ergebnis solcher Anstrengungen ist ein mehr oder weniger radikaler Konstruktivismus. Es lohnt nicht, daran zu zweifeln, dass alle Beobachtungen und Interpretationen letztlich ein Produkt menschlicher Sinne und Denkwerkzeuge sind. Es ist längst eine Trivialität, dass jede Beobachtung durch den Standpunkt des Beobachters bestimmt ist. Es mag ja zutreffen, dass wissenschaftliche Theorien durch Fakten oder Daten irreduzibel unterbestimmt bleiben. Es ist ja richtig, dass sich zwischen Theoriesprache und Beobachtungssprache letztlich nicht differenzieren lässt. Aber was sich auf dem Feld der Kulturtheorien ereignet, ist ein Kurzschluss zwischen philosophischer Wissenschaftstheorie und dem operativen Geschäft der Normalwissenschaft. Der radikale (epistemologische) Konstruktivismus als wissenschaftstheoretische Position wird nicht hinreichend vom kognitiven und sozialen Konstruktivismus unterschieden. Hier wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.

Zu 6. – Poststrukturalismus: Die Kulturwissenschaften verstehen sich als poststrukturalistisch. Die klassischen Analyseraster wie Subjekt und Objekt, Sein und Sollen, Struktur und Prozess werden als falsche Dualismen zurückgewiesen. Eine Folge ist der weitgehende Verzicht theoretischen Verallgemeinerungen und die Konzentration auf das Prozesshafte des sozialen Geschehens in mikrosoziologischen Konversationsanalysen. Die Unterscheidung von Struktur und Prozess wird unten in § 35 näher behandelt.

Kulturwissenschaften im Verbund mit der neuen Wissenssoziologie (§ 8 V) treten mit einem imperialen Anspruch auf. Sie reklamieren mehr oder weniger alle Themen für sich, die bislang spezialisierten Sozial- und Geisteswissenschaften zugerechnet wurden. Als Preis für die Aufnahme in das Reich der Kulturwissenschaften sollen Rechtswissenschaft, Rechtssoziologie und andere mehr ihre Individualität hergeben und zu einer sozialen Einheitswissenschaft verschmelzen. Der Preis wäre die Vielfalt der ganz unterschiedliche Erkenntnismöglichkeiten bergenden geistes- und sozialwissenschaftlichen Ansätze. Die Rechtssoziologie muss daher den imperialistischen Anspruch der Kulturwissenschaften zurückweisen.

Auch manche Rechtssoziologen (und Juristen) berufen sich heute auf den kulturwissenschaftlichen Ansatz. Ihr Flirt mit den Kulturwissenschaften ist zunächst wohl opportunistisch begründet. Es will einfach nicht (mehr?) gelingen, mit dem alten Label »Rechtssoziologie« institutionelle Unterstützung zu finden und eine größere Truppe hinter sich zu versammeln. Aber der Flirt bleibt nicht ohne Folgen. Kulturwissenschaftliche Rechtsforschung ist in ihrer Vielfalt kaum koordiniert und wenig vernetzt. Vieles steht unverbunden nebeneinander und verliert dadurch an Wirkung. Da es den einschlägigen Arbeiten an der Selbstwahrnehmung als rechtssoziologisch fehlt, verzichten sie darauf, von dem vorhandenen und bewährten Angebot der Rechtssoziologie Gebrauch zu machen. Die Folge ist Zersplitterung und der Verlust von möglichem Kooperationsgewinn. Vielfach wird längst Bekanntes reproduziert. Andererseits werden verdienstvolle Arbeiten nicht gebührend zur Kenntnis genommen oder bald wieder vergessen, weil sie nicht in einen größeren Zusammenhang eingebettet sind. Hier breitet sich eine neue Unübersichtlichkeit aus. Vor allem aber verliert die Rechtssoziologie ihren Biss. Ein Interview mit dem Kriminologen Nigel Fielding für den Nuffield-Report (S. 33) bringt die Sache auf den Punkt:

»Younger social scientists seem to lack the interest in the critical matters of social structure, power and social class that lead one very quickly to the law a major element in constituting society as it is. Sociology has turned from matters of production to matters of consumption. For example, a great deal of research attention is now given to how people use mobile telephones. If a previous generation had had those devices, the issue would have been how they were socially distributed. Now the issue is, how they are decorated.«

Zu erkennen ist Rechtssoziologie letztlich nur an Thema und Methode. Ihre Methode ist keine andere als die der allgemeinen Soziologie. Das bedeutet vor allem, dass immer in irgendeiner Weise kontrollierte Empirie dazugehört. Ihr Thema ist das Recht als integraler Bestandteil der Gesellschaft. Ganz gleich, wer auch immer in diesem Sinne arbeitet und in welchem institutionellen Zusammenhang das geschieht: Es handelt sich um Rechtssoziologie. Und als solche sollte man sie benennen. In diesem Sinne gibt es eine ganze Menge Rechtssoziologie, nicht nur bei Juristen und Soziologen, sondern auch bei Politikwissenschaftlern, Ökonomen, Historikern, Anthropologen und auch bei denen, die sich als Kulturwissenschaftler verstehen.

IV.  Rechtskultur als Begriff der Rechtssoziologie

Literatur: Erhard Blankenburg, Rechtskultur, in: Festschrift Rehbinder, 2002, 425-431; ders., Indikatorenvergleich der Rechtskulturen in der Bundesrepublik und in den Niederlanden, ZfRSoz 6, 1985, 255-273; Fred Bruinsma/David Nelken (Hg.), Explorations in Legal Cultures, 2007; Roger Cotterrell, Law, Culture and Society, 2006 (Kapitel 5: The Concept auf Legal Culture, S. 81-96); Lawrence M. Friedman, Legal Culture and Social Development, in: Law and Society Review 4, 1969, 29-44; ders., Transformations in American Legal Culture 1800-1985, ZfRSoz 6, 1985, 191-205; Knud Krakau/Franz Streng (Hg.), Konflikt der Rechtskulturen? Die USA und Deutschland im Vergleich; 2003; Peter Mankowski, Rechtskultur. Eine rechtsvergleichend-anekdotische Annäherung an einen schwierigen und vielschichtigen Begriff, Juristenzeitung 2009, 321-331; David Nelken, Comparing Legal Cultures, in: The Blackwell Companion to Law and Society, 2004, 113-128; Hubert Rottleuthner, Aspekte der Rechtsentwicklung in Deutschland. Ein soziologischer Vergleich deutscher Rechtskulturen, ZfRSoz 6, 1985, 206-254; Reinhard Zimmermann (Hg.), Amerikanische Rechtskultur und europäisches Privatrecht, 1995; darin S. 87-131: Zimmermann, Law Reviews – Ein Streifzug durch eine fremde Welt.

Schon vor dem Zugriff der Kulturwissenschaften war und ist der Begriff der Rechtskultur in der Rechtssoziologie geläufig. Er wird verwendet, um die ganzheitliche Betrachtung eines Rechtssystems oder bestimmter Teile anzusprechen. Bevorzugte Untersuchungseinheiten sind nationale Rechtssysteme. Nicht selten ist aber auch von lokalen Rechtskulturen die Rede (local legal culture). Dann geht es meistens darum, dass der Anspruch des offiziellen Rechtsystems, in seinem ganzen Geltungsbereich einheitlich gehandhabt zu werden, von der lokalen Praxis unterlaufen wird. In der Gegenrichtung stellt man heute die Frage nach einer im Entstehen begriffenen Weltrechtskultur.

Obwohl die Betrachtung von Rechtskultur nicht notwendig ganze Rechtssysteme in den Blick nimmt, scheint der Begriff doch auf einen Vergleich unterschiedlicher Rechtsordnungen angelegt zu sein und führt damit zu einer Überschneidung von Rechtssoziologie und Rechtsvergleichung. Die wissenschaftliche Rechtsvergleichung beschränkt sich nicht auf konkrete Rechtsprobleme etwa nach dem Muster: Wie ist die gewillkürte Erbfolge in Deutschland und wie in Spanien geregelt, wie werden Ehen in Marokko und wie in England geschlossen oder geschieden, welche Formen für Unternehmensgründungen stehen in den USA und auf den Keyman-Inseln zur Verfügung, wie geht das Recht in Deutschland und in Saudi-Arabien mit Homosexualität um? Rechtsvergleichung, auch wo sie nur konkrete Regelungsfragen beantworten will, muss doch immer einen größeren Kontext in den Blick nehmen, denn konkrete Regelungen ergeben sich erst aus dem Ineinandergreifen von materiellem Recht, Verfahrensrecht und institutionellen Traditionen, die unabhängig voneinander variieren können (Blankenburg 2002)

Aus Europa blicken Politiker und Wissenschaftler, Medien und Publikum immer wieder in die USA. Auch die deutsche Rechtssoziologie lebt zu einem erheblichen Teil von amerikanischen Importen. Wichtig ist deshalb eine vergleichende Beschreibung der (US-) amerikanischen Rechtskultur. Zwar wird viel über die Rechtskultur der USA berichtet. Doch es geht immer nur um Teilaspekte. Diese Lücke kann hier nicht gefüllt werden. Ich will aber jedenfalls eine (immer noch unvollständige) Aufzählung der Phänomene versuchen, welche die amerikanische Rechtskultur prägen. Sie bestätigen, jedenfalls für die Rechtskultur, bis zu einem gewissen Grade die Theorie des American exceptionalism, die Auffassung nämlich, dass die USA im Vergleich zu anderen Ländern eine einzigartige Stellung einnehmen.
An den Anfang gehören die Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die Verfassung von 1787 und das daraus folgende Freiheitsverständnis mit seinem skeptischen Blick auf die Staatlichkeit. Der große Bürgerkrieg von 1861-1865 mit seinen 620 000 Gefallenen wirkt in der Rechtskultur bis in die Gegenwart nach. Ausgetragen wurden zentrale ideologische, sozioökonomische und moralische Fragen, im Vordergrund die Befreiung der etwa vier Millionen Sklaven. Die Entscheidung Brown gegen Board of Education of Topeka von 1954 (§ 19 V unten) löste eine Emanzipationsbewegung für rassische und ethnische Minoritäten aus, die bis heute dem amerikanischen Recht eine besondere Färbung gibt. Man kann darüber streiten, ob der Rechtsfeminismus Vorläufer, Mitläufer oder Nachläufer der Antirassismusbewegung ist. Jedenfalls hat sich beides wechselseitig verstärkt, und in ihrem Windschatten haben sich auch die Minderheiten, insbesondere solche mit abweichender sexueller Orientierung, Rechtsschutz gegen Diskriminierung erkämpft. Zentrales Element der amerikanischen Rechtskultur ist die Juristenprofession. Dazu gehören Hunderte von Law Schools, noch mehr Law Reviews, und eine Anwaltschaft, die nicht nur vergleichsweise zahlreich ist (über 600.000), sondern, ähnlich wie die Law Schools, von höchst unterschiedlichem Status. Die unterschiedlichen Stile von Common Law und Civil Law sind heute nicht mehr so prägend wie früher einmal. Wichtiger sind Unterschiede in der Gerichtsverfassung (Jury, Direktwahl von Richtern und Staatsanwälten) und im Verfahren (adversarisches Verfahren, discovery), die erst die berüchtigten punitive damages und Sammelklagen erklären. Der föderale Aufbau der amerikanischen Justiz hat zur Folge, dass amerikanische Juristen mit dem, was sie conflict of laws nennen, aufwachsen. In den USA gibt es 52 Einzelstaaten mit eigenem Gerichtssystem. Fast jeder Fall hat »Auslandsbezug«. Kollisionsrecht ist jedenfalls für Amerikaner daher keine terra incognita.
Was schließlich das Strafrecht betrifft, so bekommt es natürlich durch die immer noch verhängte und vollstreckte Todesstrafe seinen Hautgout. Für die Strafpraxis ist aber wohl die inflationäre Verhängung von Freiheitsstrafen – in keinem Land der Welt gibt es so viele Strafgefangene wie in den USA – wichtiger.[14] Außerdem wird auch das Strafrecht von Gerichtverfassung und Verfahren geprägt. Zur Rechtsgeschichte, die in der einen oder anderen Weise nachwirkt, gehören schließlich größere Reformvorhaben des 20. Jahrhunderts, angefangen mit den Prohibitionsgesetzen von 1920, über den New Deal des Präsidenten Roosevelt (1933-36), die Great Society von Präsident Johnson (1964) bis zum Equal Opportunity Act (1995). Ihre Bedeutung liegt vor allem darin, dass sie das Verhältnis von Staat und Gesellschaft neu austariert haben.

Rechtssoziologie hat den Ehrgeiz, tiefer einzudringen als die Rechtsvergleichung. Sie will sich nicht mit einem Funktionsvergleich – z. B.: in Deutschland werden Routinestrafsachen mit einem Strafbefehl erledigt, in den USA durch Plea Bargaining – zufrieden geben, sondern möchte erklären, wie rechtliche Phänomene mit einer spezifischen Sozialstruktur und vielleicht auch der allgemeinen Kultur verbunden sind. Ob das immer gelingt, steht auf einem anderen Blatt.

Vor allen anderen hat Lawrence M. Friedman den Begriff der Rechtskultur verwendet und populär gemacht. Auf der Suche nach Variablen, die Effektivität des Rechts erklären könnten, hat er auf legal culture verwiesen und dabei vor allem auf das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung, seine Meinungen über das Recht und seine Erwartungen an das Recht. Damit hat er dem Begriff von Anfang an (1969) eine subjektive Wendung gegeben.

»What is mostly missing, even for Western Countries, is information on what we have called the legal culture. What are the attitudes of different populations toward law and the legal system? …

Opinion research that touches on Law is rare. And legal culture is not ›public opinion‹; in the crude sense of a public opinion poll. There is no such thing as the public; to understand legal culture, one must carefully define a relevant public; for various issues this will be a different group of people.

Clearly, however, the effectiveness of any law, actual or proposed, depends on the response of some public whose interests are at issue. But public response is a cultural factor.« (Friedman 1969 S. 40)

Rechtskultur zeigt sich danach in dem, was Menschen über das Recht wissen, denken, fühlen und was sie von ihm erwarten, in bewusster Rechtsbefolgung oder Übertretung (§ 40). Auf dieser Ebene ist auch die von Friedman eingeführte Unterscheidung von interner und externer Rechtskultur angesiedelt. Interne Rechtskultur bezieht sich auf Vorstellungen und Verhalten von rechtlichen Akteuren, von Juristen und ihren professionellen Helfern, externe Rechtskultur auf Vorstellungen über und Erwartungen an das Recht, die von einflussreichen oder gewöhnlichen Personen von außerhalb an das Recht herantragen werden.

Die amerikanische Rechtssoziologie, insbesondere die Amherst-Schule um Austin Sarat, sind Friedman weitgehend darin gefolgt, auf das, was wir gewöhnlich Rechtsbewusstsein nennen, einzuengen. So ist zunächst eine Fülle von Meinungsumfragen über die Einstellung des Publikums zu Polizei, Gerichten und Rechtsanwälten, Kriminalität und Strafen und zu den Vorstellungen über Menschen- und Bürgerrechte entstanden.[15] In diesem Falle bildet sogar die rechtssoziologische Forschung einen Ausdruck der spezifischen amerikanischen Rechtskultur, nämlich ihrer an der Basis orientierten Demokratietradition (Blankenburg 2002). In den 1990er Jahren hat man sich dann mit qualitativen Untersuchungen dem Recht im Alltag und schließlich in der Popularkultur zugewandt. Diese Fragestellungen haben gemeinsam, dass sie sich als wissenssoziologisch einordnen und auch ohne den Begriff der Rechtskultur behandeln lassen. Sie werden daher hier in Kapitel 6 in § 39 und § 40 erörtert.

Ein viel behandelter Aspekt der Rechtskultur ist die Bereitschaft, sich im Konflikt auf Recht zu berufen und in letzter Konsequenz vor Gericht zu ziehen. Der litigiousness der Amerikaner und der Streitsüchtigkeit der Deutschen wird die chinesische und japanische Konsenskultur gegenübergestellt. Diesen Aspekt greife ich besonders bei der Behandlung der »Prozessflut« (§ 67III.3) und im Zusammenhang mit alternativen Konfliktregelungsverfahren (§ 88) auf.[16]

Ein interessanter Aspekt der Rechtskultur ist die Rigidität bzw. Toleranz, mit der das Leben in einer Gesellschaft normativ gelenkt ist. Anthropologen war aufgefallen, dass in einfachen Stammesgesellschaften zum Teil sehr dichte und strenge Sitten und Bräuche gelten. Sozialpsychologen haben in einer Vergleichsuntersuchung 33 moderne Länder auf die Normstrenge bzw. Toleranz der Gesellschaft untersucht und herausgefunden, dass sich die Normstrenge innerhalb einer Nation ziemlich einheitlich darstellt, während es zwischen den Nationen große Unterschiede gibt. Am strengsten geht es in Pakistan (12,3) zu, gefolgt von Malysia (11,8), Indien (11,0), Singapur (10,4) und Südkorea 10,0). Besonders locker ist es in ehemaligen Ostblockländern, so in der Ukraine (1,6), Estland (2,5) und Ungarn (2,9). Mit einer Drei vor dem Komma sind Israel, Brasilien, Griechenland, die Niederlande, Neuseeland und Venezuela dabei. Die alten Industrieländer liegen in der Mitte. (Michele J. Gelfandt u. a., Differences between Tight and Loose Cultures: A 33-Nation Study, Science 332, 2011, 1000-1004).

 

V.  Kultur als Umwelt des Rechts

Literatur: Fred Bruinsma/Matthijs de Blois, Pluralism in the Netherlands and Laïcité in France: the Islamic Challenge at a Symbolic Level, in: Fred Bruinsma/David Nelken (Hg.), Explorations in Legal Cultures. Themenband der Zeitschrift Recht der Werkelijkheid 2007, 113–131; Sigurd D’hondt, The Cultural Defense as a Courtroom Drama: The Enactment of Identity, Sameness, and difference in Criminal Trial Discourse, Law and Social Inquiry 35, 2010, 67-98; Marie-Claire Foblets/Alison Dundes Renteln (Hg.), Multicultural Jurisprudence. Comparative Perspectives on the Cultural Defense, Oxford 2009[17]; André J. Hoekema, Multicultural Conflicts and National Judges: A General Approach, Law, Social Justice & Global Development Journal (LGD) 2, 2008; Heelen Keep/Rob Midgley, The Emerging Role of ubuntu-botho in Developing a Consensual South African Legal Culture, ebenda S. 29–56; Wilo van Rossum, Durch Judges Deciding Multicultural Legal Cases, ebenda S. 57-74.

Jenseits soziologisierender Rechtsvergleichung bleibt der Begriff der Rechtskultur undeutlich. Klar ist nur, dass es nicht um das Verhältnis von Recht einerseits und Kultur andererseits geht wie bei »Recht und Literatur«, »Recht und Film« usw. (§ 39 I unten), sondern um die Qualitäten des Rechts selbst, also um den Vergleich verschiedener Rechtssysteme. Dabei kann es allerdings gar nicht ausbleiben, dass man außerhalb des Rechts nach Erklärungen für Unterschiede zwischen verschiedenen Rechtssystemen sucht. Dazu eignet sich der allgemeine Kulturbegriff jedoch kaum, weil er viel zu unspezifisch ist. Es werden deshalb auch Zweifel geäußert, ob sich mit dem Begriff der Rechtskultur überhaupt ein brauchbares Konzept verbindet (Cotterrell 2006).

Der Begriff (oder das Konzept) der Rechtskultur bleibt aber doch nützlich, wenn es darum geht, ob und wieweit sich Aussagen über die Struktur und die Funktion des Rechts generalisieren lassen. Mehr oder weniger stillschweigend gehen wir davon aus, dass es überall auf der Welt Phänomene gibt, die wir als Recht bezeichnen. Gesetze und Verträge, Gerichte und Anwälte, Polizei und Gefängnisse sind in allen modernen Staaten anzutreffen. (Diesen Aspekt werden wir später unter dem Gesichtspunkt der »Isomorphie der Institutionen« behandeln; unten § 98 V). Aber jeder Staat hat seine besondere Geschichte, und Gesellschaften unterscheiden sich in ihren Werten und Traditionen kurz, in ihrer Kultur (Das ist der Gesichtspunkt der Pfadabhängigkeit; unten § 98 III 3.) Deshalb lassen sich empirische Aussagen über das Recht nicht ohne weiteres verallgemeinern. Jedes rechtliche Phänomen ist in historische und kulturelle Phänomene eingebettet, und insofern kann man, und sei es auch nur der sprachlichen Variation halber, von Rechtskultur reden.

»Kultur« als Umwelt des Rechts kann zur Erklärung bestimmter Eigenschaften des Rechts dienen. Während der Begriff der Rechtskultur auf Systemeigenschaften des Rechts abzielt, wird »Kultur« in vielen Erörterungen als Gegenstück zum Recht verstanden, etwa wenn man sagt, das liberal-demokratische Rechtskonzept der westlichen Industrienationen vertrage sich nicht mit der islamischen Kultur. Allerdings ist der allgemeine Kulturbegriff noch unspezifischer als der Begriff der Rechtskultur. Es ist kennzeichnend, dass Kultur als solche in der Systemtheorie nicht als eigenes System behandelt wird. Es gibt wohl das Wissenschaftssystem, das Erziehungssystem, die Systeme der Religion oder der Kunst, und niemand würde bestreiten, dass diese Systeme zur Kultur gehören. Aber Kultur als solche hat selbst keine Systemgrenzen. Alle symbolischen Phänomene sind letztlich »Kultur«.

Ein Standardthema der Rechtssoziologie ist der Transfer von Recht, die freiwillige oder erzwungene Übernahme einer ganzen Rechtsordnung oder einzelner Teile in andere Länder mit einer anderen kulturellen Umgebung. Es wird bevorzugt im Zusammenhang mit der Globalisierung behandelt wird. So halte ich es auch hier (§ 99VIII unten).

Man könnte auch die Wechselwirkungen zwischen dem Recht und dem allgemeinen sozialen Wandel unter der Überschrift »Recht und Kultur(-wandel)« abhandeln. Zu denken wäre etwa an die Reaktion des Rechts auf den Wandel der Vorstellungen über das Geschlechterverhältnis und über sexuelle Identitäten. Doch in diesem Beispiel und bei anderen geht es um längst etablierte rechtssoziologische Themen, denen der Kulturbegriff nicht weiter hilft.

Immer wieder taucht die Frage auf, wie ein Rechtssystem, das ursprünglich von einer relativ einheitlichen Kultur umgeben war, auf eine durch Wanderungsbewegungen entstandenen multikulturellen Zumutungen reagiert. Die Frage stellt sich auf verschiedenen Ebenen. Die Rechtspolitik kann darauf gar nicht oder durch neue oder veränderte Gesetze reagieren. Beispiele geben Gesetze über ein Kopftuch- und neuerdings ein Burkha-Verbot. Unterhalb der Gesetzgebung können Lebens- und Verwaltungspraxis und Gerichte das Recht fortbilden. Schließlich können Behörden und Gerichte ganz konkret im Einzelfall, etwa durch besondere Rücksichtnahme im Verfahren oder durch die Handhabung von Generalklauseln (Kindeswohl, wichtiger Grund für eine Kündigung) kulturelle Diversität berücksichtigen (D’hondt; Hoekema; van Rossum). Das englische Stichwort ist cultural defense. Es zeigt, dass das Problem zunächst für das Strafrecht wahrgenommen wurde.

2007 wies eine Richterin des Amtsgerichts Frankfurt a. M. den Antrag einer misshandelten Frau auf vorzeitige Scheidung von ihrem Ehemann mit der Begründung zurück, beide Ehepartner seien aus dem marokkanischen Kulturkreis. Dort sei es nicht unüblich, dass der Mann gegenüber der Frau ein Züchtigungsrecht ausübe. Hiermit habe die in Deutschland geborene Frau rechnen müssen, als sie den in Marokko aufgewachsenen Antragsgegner heiratete. Die 26-Jährige, selbst aus Marokko stammende Deutsche war von ihrem Mann geschlagen und mit dem Tode bedroht worden. Dieses Urteil stieß bei Politikern und Medien auf scharfe Kritik und die Richterin wurde schließlich auf Antrag für befangen erklärt und so aus dem Verfahren zurückgezogen.

In der Rechtssoziologie ist die Auffassung vorherrschend, dass bei der Rechtsanwendung Informationen über den kulturellen Hintergrund größere Beachtung geschenkt werden sollte. In der Regel geht es dabei nur um kulturelle Eigenheiten, mit denen der eigene Rechtskreis nicht vertraut ist.

Traditionelle kulturelle Vorstellungen der Zulu, die als ubuntu-botho bekannt geworden sind, haben die juristische Aufarbeitung der Apartheid in den sog. Versöhnungskommissionen geleitet und sind darüber hinaus zu einem Element der Rechtskultur des neuen Südafrika geworden (Keep/Midgley). Was sich hinter Ubuntu verbirgt, hat der Bischof und Nobelpreisträger Desmond Tutu so formuliert:
» Ubuntu is very difficult to render into a Western language. It speaks to the very essence of being human. When you want to give high praise to someone we say, ›Yu, u Nobuntu‹; he or she has Ubuntu. This means that they are generous, hospitable, friendly, caring and compassionate. They share what they have. It also means that my humanity is caught up, is inextricably bound up, in theirs. We belong in a bundle of life. We say, ›a person is a person through other people‹ (in Xhosa Ubuntu ungamntu ngabanye abantu and in Zulu Umuntu ngumuntu ngabanye). I am human because I belong, I participate, and I share. A person with Ubuntu is open and available to others, affirming of others, does not feel threatened that others are able and good; for he or she has a proper self-assurance that comes with knowing that he or she belongs in a greater whole and is diminished when others are humiliated or diminished, when others are tortured or oppressed, or treated as if they were less than who they are.« (No Future without Forgiveness, 1999, S. 34 f.)
Das südafrikanische Beispiel hat in über 50 Ländern Schule gemacht. Nach einem politischen Umbruch hat man dort nicht die nationalen oder internationalen Strafgerichte bemüht, um die Staatsverbrechen der Vergangenheit aufzuarbeiten, sondern Wahrheits- und Versöhnungskommissionen eingesetzt. Dieses Thema wird noch einmal im Zusammenhang mit der Globalisierung unter dem Stichwort »Transitional Justice« aufgenommen (§ 100VI unten).

Die Frage nach einem besonderen kulturellen Hintergrund wird heute aber auch auf die eigene Gesellschaft zurückgespiegelt. Kulturelle Eigenheiten zeigen sich immer erst vor einem Hintergrund von Normalität. Die Frage nach einer davon abweichenden Kultur wird gewöhnlich nur bei den sozial Schwachen gestellt. So fällt gar nicht auf, dass vieles, was in Politik- oder Wirtschaftszirkeln geschieht, nicht immer »normal« sondern gleichfalls Ausdruck kultureller Eigenarten ist.

VI.  Eine kulturelle Wende in der Rechtswissenschaft?

Literatur: Peter Häberle, Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987; ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl., 1998; ders., Europäische Rechtskultur, 1994; ders., Nationalflaggen, Bürgerdemokratische Identitätselemente und internationale Erkennungssymbole, 2008; ders., Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 2007;Ulrich Haltern, Europarecht und das Politische, 2005; ders., Notwendigkeit und Umrisse einer Kulturtheorie des Rechts, in: Horst Dreier/Eric Hilgendorf (Hg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, ARSP, Beiheft 113, 2008, 193-221; ders., Recht und soziale Imagination, in: Werner Gephart (Hg.), Rechtsanalyse als Kulturforschung, 2012, 89-102; Julian Krüper, Kulturwissenschaftliche Analyse des Rechts, in: Julian Krüper (Hg.), Grundlagen des Rechts, 2011, 260-275; Marcel Senn/Dániel Puskás, Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft?, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Beiheft 115, 2007 (unergiebig).

Eine kulturelle Wende der Rechtswissenschaft empfiehlt Ulrich Haltern. Er verspricht sich davon eine Öffnung der Jurisprudenz für Interdisziplinarität, ohne dass das Recht seine Autonomie verliert und ohne dass die Rechtswissenschaft in den Nachbarschaften aufgeht. Dazu soll das Recht als eine spezifische »Imagination« der Welt und vor allem des Politischen verstanden werden. »Statt nur danach zu fragen, wie man das Recht verbessern könne, kann man Raum schaffen für den akademischen Versuch, den Platz des Rechts in der Kultur zu verstehen und die Macht zu beschreiben, die das Recht über die Imagination der Bürger besitzt.« (2005, 12). Für diesen Ansatz nutzt Haltern die Bezeichnung »Recht im Kontext«. Der Kontext des Rechts gerät allerdings wieder etwas aus dem Blick, wenn wir (S. 18) erfahren, der kulturtheoretische Ansatz habe sich »auf das Bedeutungssystem des Rechts zu konzentrieren, das sich in Symbolen materialisiert.« Und weiter:

»Der zentrale Auftrag der kulturtheoretischen Perspektive im Recht besteht darin, diesen symbolischen Formen nachzugehen und die Beobachtungen sichtbar zu machen, die Menschen einerseits an das Recht herantragen und die sie andererseits aus dem Umgang mit ihm gewinnen. Symbolische Formen wie Recht verweisen nicht nur auf etwas oder sind der Ausdruck von etwas, sondern üben selbst strukturierende und konstituierende Kraft in alltäglichen, politischen und anderen Bereichen aus, indem sie die in subtiler und oft diffuser Weise durchdringen.«

Zur Rechtssoziologie kommt man von dort zurück, wenn man den Symbolbegriff präzisiert, so dass Symbole einer empirischen Untersuchung zugänglich werden. Das geschieht hier in § 38 unten.

Mit Nationalsymbolen – Feiertagsgarantien, Flagge und Hymne – hat sich der Verfassungsrechtler Peter Häberle befasst. Vor allem aber hat er das Verfassungsrecht unter dem Aspekt des Kulturvergleichs betrieben. Häberle (1998: 2ff) rezipiert dazu anthropologische und soziologische Literatur zum Kulturbegriff, und er verspricht explizit die Verwendung eines weiten Kulturbegriffs (S. 6). Aber implizit, das heißt, wenn man die tatsächlich behandelten Sachthemen ansieht, so behandelt es doch in erster Linie die von Geiger so genannte repräsentative Kultur und die ihr zugeordneten Institutionen. Den cultural turn der Sozialwissenschaften hat er nicht nachvollzogen. Stattdessen bietet er einen kultursensiblen Verfassungsvergleich.

In der Staatsrechtslehre haben Häberles Vorstellungen sich ausgebreitet, er wird jedoch nicht zitiert. So will Vesting »die Frage nach der ›Einheit‹ der Verfassung neu stellen und diese Frage stärker auf die Ebene der symbolischen Dimension der Verfassung, der Einbettung der Verfassung in einen ›kulturellen Text‹, verschieben«.[18] Rainer Wahl hat, – ohne Häberle überhaupt zu erwähnen den Gehalt von dessen Verfassungslehre auf den Punkt gebracht:
»Die Verfassung erschöpft sich nicht in ihrem Rechtsgehalt und ihren Rechtswirkungen, sie ist mehr als Verfassungsrecht, sie ist ein kulturell-politisch-rechtliches Gesamtphänomen.«[19].

 


[1] Wilhelm Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft, 1894, abgedr. in ders., Präludien, 3. Aufl. Tübingen 1907, S. 359.

[2] Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften Bd. I, Stuttgart 1957 (1921), S. 4, und Bd. V S 144.

[3] Eckhard Henscheid, Alle 756 Kulturen: eine Bilanz, 2001. Als soziologischer Klassiker gilt A. L. Kroeber/Clyde Kluckhohn, Culture, A Critical Review of Concepts and Definitions, Cambridge Mass. 1952. Kroeber und Kluckhohn kamen auf 164 unterscheidbare Verwendungen des Kulturbegriffs.

[4] Die Aufzählung – nicht dagegen die Bewertung – folgt weitgehend dem unveröffentlichten Förderungsantrag von Ulrich Haltern und Christoph Möllers für eine Tagung »Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft«, die 2003 im ZIF in Bielefeld stattgefunden hat. Das Themenangebot lässt sich auch an den vielen »turns« ablesen, die als Epigonen des Cultural Turn ausgerufen wurden; zu diesen Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29. 3.2010 [https://docupedia.de/zg/Cultural_Turns?oldid=75507].

[5] Z. B. von Rebecca R. French, Time in the Law, University of Colorado Law Review 72, 2001, 663-748/663: »Time is always necessary in the law, yet it is rarely examined.«.

[6] David M. Engel, Law, Time, and Community, Law and Society Review 1987, 605-638; Carol J. Greenhouse, Just in Time: Temporality and the Cultural Legitimation of Law, Yale Law Journal 98, 1631-1651; Ali Khan, Temporality of Law, McGeorge Law Review 40, 2008; Bruce C. Peabody, Reversing Time’s Arrow: Law’s Reordering of Chronology, Causality, and History, Akron Law Review 40, 2007, 587-622; Charles F. Wilkinson, American Indians, Time and the Law, Yale University Press 1987.

[7] Angelika Nußberger, Die Vermessung der Geschichte durch die Gerichte, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. 7. 2010; ferner Lukas H. Meyer (Hg.), Justice in Time, Responding to Historical Injustice, 2004.

[8] Boaventura de Sousa Santos, The Law of the Oppressed: The Construction and Reproduction of Legality in Pasargada, Law and Society Review 12, 1977, 5-126.

[9] Als Einstieg in den spatial turn der Soziologie vgl. Rudolf Stichweh, Raum, Paper 06/2011 [http://www.unilu.ch/files/STW_Raum.pdf].

[10] Nicholas K. Blomley/David Delaney, Richard T. Ford, (Hg.), The Legal Geographies Reader, Law, Power, and Space, Oxford 2001; Kim Economides/Mark Blacksell/Charles Watkins, The Spatial Analysis of Legal Systems: Towards a Geography of Law? , Journal of Law and Society 13, 1986, 161-181.

[11] Pierre Bourdieus, La force du droit. Éléments pour une sociologie du champ juridique, Actes de la recherche en sciences sociales, 64, 1986, 3-19.

[12] Als juristische Verbeugung vor dem Raumkonzept der Kulturwissenschaften vgl. Horst Dreier/Fabian Wittreck, Rechtswissenschaft, in: Stefan Günzel (Hg.), Raumwissenschaften, 2008, 338-353; Ulrich Haltern, Raum – Recht – Integration. Ein Beitrag zum Verständnis von Souveränität, in: Petra Deger/Robert Hettlage (Hg.), Der europäische Raum, 2007, 209-227.

[13] Ludger Schwarte/Christoph Wulf (Hg.), Körper und Recht. Anthropologische Dimensionen der Rechtsphilosophie, 2003, Einleitung, S. 7.

[14] Marie Gottschalk, The Prison and the Gallows: The Politics of Mass Incarceration in America, Cambridge University Press 2006 (Rez. von Joseph F. Spillane, Law & Society Review 41, 2007, 936-937; Mary Bosworth, »Explaining U. S. Imprisonment, Sage Publications, 2010, ISBN 9781412924863; Jonathan Simon, Governing Through Crime: How the War on Crime Transformed American Democracy and Created a Culture of Fear, 2009.

[15] Austin Sarat, Studying American Legal Culture: An Assessment of Survey Evidence, Law and Society Review 11 (1977), 427–505.

[16] Dazuz sei an dieser Stelle nur verwiesen auf Eric Bennett Rasmusen/J. Mark Ramseyer, Are Americans More Litigious? Some Quantitative Evidence, 2010, verfügbar bei SSRN.

[17] Rezension von Jamie Rowen in Law and Society Review 44, 2010, 411-413.

[18] Thomas Vesting, Ende der Verfassung? Zur Notwendigkeit der Neubewertung der symbolischen Dimension des Verfassungsrechts, in: ders./Stefan Korioth (Hg.), Der Eigenwert des Verfassungsrechts, 2011, 71-93, S. 78. S. 85 benutzt Vesting sogar, und zwar in Anführungszeichen, den von Häberle geprägten Ausdruck von der »offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten«, ohne jedoch die Quelle anzugeben.

[19] Rainer Wahl, Die Rolle staatlicher Verfassungen angesichts der Europäisierung und der Internationalisierung, in: Thomas Vesting/Stefan Korioth (Hg.), Der Eigenwert des Verfassungsrechts, 2011, 355-378, S. 355 f.

[Stand der Bearbeitung: Februar 2013]