§ 91 Strukturhypothesen

I. Die These von der kulturellen Verspätung des Rechts (cultural lag)
II. Die These von der notwendigen Ineffektivität des Rechts
III. »Law Follows Structure«
IV. Der Siegeszug der Moderne
VI. Die Funktion des Rechts in der Gesellschaft

I. Die These von der kulturellen Verspätung des Rechts (cultural lag)

Literatur: Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913; Lawrence M. Friedman/Jack Ladinsky, Social Change and the Law of Industrial Accidents, Columbia Law Review 67, 1967, 50-82; Ralf Kölbel, »Cultural Lag« und die Normevolution. Systemtheoretische Überlegungen am Beispiel des Wirtschaftsstrafrechts, Kritisches Jahrbuch für Philosophie 12, 2008, 69-86; William F. Ogburn, Social Change: With Respect to Culture and Original Nature, 1922; ders., Die Theorie des »Cultural Lag«, in: Dreitzel, 1972, 328 ff.; ders., Kultur und sozialer Wandel. Ausgewählte Schriften, 1969; Alfred Vierkandt, Die Stetigkeit im Kulturwandel, 1908.

Die Theorie des cultural lag ist 1922 von dem amerikanischen Soziologen William F. Ogburn (1886-1959) formuliert worden:

»Ein cultural lag tritt ein, wenn von zwei miteinander in Wechselbeziehungen stehenden Kulturelementen das eine sich früher oder stärker verändert als das andere und dadurch das zwischen ihnen bisher vorhandene Gleichgewicht stört.« (1972, 328).

Als Beispiel beschrieb Ogburn, wie der Straßenbau erst mit erheblicher Verzögerung auf die Produktion leistungsfähiger Automobile reagierte.

Die Identifizierung eines cultural lag setzt voraus

  • die Identifizierung von verschiedenen Teilen (heute würden wir sagen, von Subsystemen),
  • die Feststellung, dass beide Teile miteinander verbunden sind und zu einem bestimmten Zeitpunkt aufeinander abgestimmt waren,
  • den isolierten Wandel eines dieser Subsysteme, das damit zur unabhängigen Variablen wird,
  • daraus resultierend eine fehlende oder unzulängliche Anpassung.

Obwohl von Ogburn nicht ausdrücklich formuliert, lässt sich ergänzen:

  • Später folgt eine Wiederanpassung des verbundenen Subsystems (das damit als abhängige Variable erscheint).

Der Vorstellung einer Fehlanpassung (maladjustment) liegt ersichtlich eine funktionalistische Gleichgewichtsvorstellung zugrunde. Als Symptom nennt Ogburn »deviation from a social norm«. Natürlich kann nicht jede Normverletzung ausreichen. Da Ogburn diesen Gedanken nicht weiter ausführt, kann und darf man ihn sinnvoll präzisieren: Im Blick auf das Recht können als Symptome eines cultural lag angesehen werden: ein ungewöhnlicher Anstieg von Kriminalität, das gehäufte Aufkommen neuartiger Prozessgegenstände, soziale Bewegungen, insbesondere wenn sie zivilen Ungehorsam propagieren. Aus Ogburns Text lassen sich folgende Hypothesen herausziehen:

  • Es gibt das Phänomen des cultural lag; d. h., wenn ein soziales Subsystem sich fortentwickelt, kann es vorkommen, dass ein anderes, verbundenes, nachhinkt.
  • Die unabhängige Variable muss nicht notwendig technisch oder ökonomisch sein, sondern kann auch ideeller Art haben.
  • Allerdings führen Umfang und Tempo der technischen Entwicklung zu einer Häufung von cultural lags.
  • Krieg und Revolution lassen einen cultural lag regelmäßig schrumpfen.

Aus heutiger Sicht ist das Kausalschema natürlich viel zu einfach. Die simple Vorstellung von einer abhängigen Variablen, die einer unabhängigen mit zeitlichem Abstand nachfolgt, kann leicht in zweierlei Hinsicht ergänzt werden:

  • Die Vorstellung einer einseitigen Abhängigkeit muss durch das Konzept einer Wechselwirkung und Rückwirkung ersetzt werden.
  • Interessant ist eigentlich gar nicht der cultural lag als solcher, sondern es interessieren die Gründe, die eine sofortige Anpassung verhindern und die spätere Anpassung in ihrer konkreten Gestalt erklären.

Auf das Recht angewendet besagt die These vom cultural lag, dass sich die Anpassung des Rechts an die gesellschaftliche Wirklichkeit in einem zeitlichen Abstand vollzieht, dass das Recht notwendig hinter der Wirklichkeit herhinkt. Während Ogburn aber nur ganz allgemein auf das Phänomen aufmerksam machte, dass sich aufeinander bezogene Kulturelemente unterschiedlich schnell entwickeln können, ist über das Recht die speziellere Vorstellung verbreitet, dass es stets das anpassungsbedürftige Element bilde. Der Gedanke stammt schon von Eugen Ehrlich:

»Jede Rechtsentwicklung beruht daher auf der gesellschaftlichen Entwicklung, und alle gesellschaftliche Entwicklung besteht darin, dass sich die Menschen und ihre Verhältnisse im Laufe der Zeit ändern (S. 319) … Es ist klar, dass dieser nie rastenden Entwicklung des gesellschaftlichen Rechts gegenüber das starre und unbewegliche staatliche Recht nur zu oft im Rückstande bleibt. Das Recht, wie es auch sein mag, ist stets eine Form der Herrschaft des Toten über den Lebenden: so hat Herbert Spencer die berühmten Worte Goethes in seine Sprache übersetzt (S. 323) … So sind unsere Gesetzbücher regelmäßig auf eine viel frühere Zeit als ihre eigene eingestellt, und alle juristische Kunst der Welt vermöchte nicht, aus ihnen das wirkliche Recht der Gegenwart herauszuschälen, eben weil sie es nicht enthalten. …Das ganze Recht einer Zeit oder eines Volkes in die Paragraphen eines Gesetzbuches sperren zu wollen, ist überhaupt ungefähr ebenso vernünftig, wie wenn man einen Strom in einen Teich fassen wollte: was davon hineinkommt, ist kein lebender Strom mehr, sondern totes Gewässer, und viel kommt überhaupt nicht hinein.« (S. 394)

Ehrlichs Rechtssoziologie hat in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der Sociological Jurisprudence in den USA genommen. Er wird daher meistens aus zweiter Hand mit den Worten des Justice Oliver W. Holmes zitiert:

»The law, as it depends on learning is indeed, as it has been called, the government of the living by the dead«. (Speeches, Boston 1900, S. 67)

Moderner und sehr viel blasser spricht man heute von einer Phasenverzögerung[1] oder von einer soziologischen Differenz[2].

Veränderungen in der Gesellschaft pflegen sich tatsächlich mit einer erheblichen Verzögerung im Recht niederzuschlagen. So war z. B. das BGB, das bis heute das Privatrecht beherrscht, schon zur Zeit seiner Entstehung veraltet. Obwohl längst das industrielle Zeitalter angebrochen war, lebt das BGB noch immer aus dem Geist einer vorindustriellen Gesellschaft von Handwerkern, Kaufleuten und Grundeigentümern. Die wirtschaftlich-technische Entwicklung reißt immer neue Lücken auf. Zunächst waren es die Elektrizität, der Automobilverkehr und das Telefon, dann die Datenverarbeitung und die Atomtechnik, die Möglichkeiten der Organtransplantation und der Lebensverlängerung in der Medizin oder im grenzübergreifenden Bereich die Nutzbarkeit des Festlandsockels, der Meere oder des Weltraums. Heute sind es die akkumulierten Folgen der technischen Entwicklung auf die Umwelt, die das Recht herausfordern. Ogburn nannte als Beispiel die Regelung der Entschädigung für Betriebsunfälle, die in den USA erst nach 1910 langsam Gestalt annahm und die nach seiner Meinung der Entwicklung der industriellen Arbeitswelt dreißig bis vierzig Jahre hinterherhinkte. Er wies aber auch darauf hin, dass die unabhängige Größe, also diejenige, die vorauseilt, nicht technologischer Art sein muss, sondern ebenso ideologischer oder rechtlicher Art sein kann. Sein Beispiel waren Änderungen des Primogeniturrechts, die erst mit einer gewissen Verspätung zu Veränderungen im ökonomischen System der Landwirtschaft führten. Die Tatsache, dass viele Beispiele kultureller Verspätung, die uns heute besonders interessieren, solche sind, in denen der technische Wandel vorangeht, ist also eine Zeiterscheinung, die mit der Theorie nicht notwendig verbunden ist. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gingen vielmehr ideelle Entwicklungen voraus und das Recht hinkte hinterher. So war es mit den Vorstellungen über die Stellung der Frau in der Gesellschaft, über geschlechtliche Identitäten oder über soziale Merkmale mit Diskrminierungspotential. Diese ideellen Entwicklungn könnten ihrerseits allerdings wiederum nur ein Reflex auf vorangegangene »materielle« Veränderungen der Gesellschaft sein. Das ist sehr deutlich im Feminismus, der sich weithin als ideeller Überbau der Veränderung des Geschlechterarrangements erklären lässt, wie es sich im Zuge der Modernisierung entwickelt, die körperliche Unterschiede zwischen Mann und Frau für die Arbeitswelt irrelevant macht.

Allerdings ist die Grundstruktur des Rechts als eines beharrenden, konservativen Elements als solche weithin unbestritten. Aber bei dieser Feststellung darf es nicht bewenden, denn sie ist eher trivial. Definitionsgemäß besteht das Recht aus den Teilen der Sozialstruktur, die zu einer besonderen Verfestigung gefunden haben, die gewöhnlich Institutionalisierung genannt wird. Auch bei einer Funktionsbetrachtung wird immer wieder darauf abgestellt, dass eine wichtige Funktion des Rechts darin besteht, Verhaltens- und Erwartungssicherheit zu schaffen. Es ist daher billig, dieses statische Element des Rechts zu betonen, wenn man damit, wie häufig, Rechtskritik üben will. Solche Kritik muss schon spezifischer ausfallen. Sie muß geltend machen, dass das Recht einer bestimmten Gesellschaft oder Teile davon nicht länger funktional sind, sondern aus angebbaren Gründen pathologisch genannt werden können. Allerdings scheint es – darauf hat bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Soziologe Alfred Vierkandt (S. 84, 153) hingewiesen –, dass die Institutionen der Gesellschaft die Bedingungen, unter denen sie entstanden sind und funktional waren, tendenziell überdauern:

»Objekte, die uns einmal nützlich gewesen sind, behalten offenbar den entsprechenden Gefühlston noch lange Zeit, nachdem dieser Nutzen aufgehört hat, ein Umstand, der den Kulturwandel außerordentlich verzögert. … Nur bei starken Nötigungen, bei drastischen Schäden, überhaupt bei gröblicher Dringlichkeit wird auf einen Wandel in Moral, Recht oder Sitte zu rechnen sein, während im andern Fall unzweckmäßig gewordene Normen noch lange andauern werden, vorhandene Lücken noch lange ihrer Ausfüllung harren müssen.«

Rechtliche Institute entstehen aus den politisch-sozialen Bedingungen ihrer Zeit. Sie erstarren nach dem Wegfall dieser Randbedingungen in dogmatischen Figuren. In der rechtspolitischen Diskussion ist daher, ebenso wie im juristischen Schrifttum, immer wieder davon die Rede, dass dieses oder jenes Rechtsinstitut überholt oder eine bestimmte Vorschrift nicht länger zeitgemäß sei.

Wie problematisch es dennoch ist, wertend von einem Hinterherhinken des Rechts zu sprechen, haben Friedman und Ladinsky an Hand der Entstehung der amerikanischen Arbeitsunfallgesetzgebung gezeigt: Wenn in der Gesellschaft neue technische und soziale Entwicklungen nach neuen rechtlichen Lösungen zu rufen scheinen, dann gibt es nicht die eine, wahre Lösung, sondern es ringen verschiedene Interessengruppen um die Durchsetzung ihrer Vorstellungen. Was bei rückschauender Betrachtung als Periode unzureichender Anpassung erscheint, war tatsächlich die Zeit, in der die Streitpunkte fixiert und unterschiedliche Lösungen erörtert wurden und die streitenden Gruppen um die Festschreibung der für sie günstigsten Lösung kämpften. Es war die Zeit tastender Versuche zum Ausgleich verschiedenartiger Meinungen und Interessen, ohne dass sich nach der Art des Problems und dem politischen Kräfteverhältnis eine eindeutige Lösung aufgedrängt hätte. Was später als zeitgerechte Lösung erscheint, war dann vielleicht nur ein Kompromiss, der sich als haltbar erwiesen hat. Friedman/Ladinsky verstehen diese Ausführungen als Widerlegung von Ogburns Theorie des cultural lag. Das ist jedoch nicht zutreffend, denn Ogburn argumentiert strukturalistisch, während Friedman/Ladinsky eine im Sinne Max Webers handlungstheoretische Erklärung anbieten. Es handelt sich sozusagen um Außen- und Innenansicht, die sich durchaus ergänzen.

Schließlich gibt es auch so etwas wie einen normativen Rückschaufehler. Als Rückschaufehler ist die Verzerrung geläufig, die bei der retrospektiven Beurteilung komplexer Kausalverläufe einritt.[3] Analoge Verzerrungen entstehen, wenn jüngere Sichtweisen auf ältere Gesellschaftszustände treffen. Nachdem sich das Recht geändert hat, erscheint die Änderung als so »natürlich«, zwingend oder selbstverständlich, dass man ihr eine Verspätung bescheinigt.

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[1] Fritz Werner, Über Tendenzen der Entwicklung von Recht und Gericht in unserer Zeit, 1965, S. 6.

[2] Werner Maihofer, Ideologie und Recht, 1969, S. XIV.

[3] Grundlegend Baruch Fischoff, Hindsight Is Not Equal to Foresight: The Effect of Outcome Knowledge on Judgment Under Uncertainty, Journal of Experimental Psychology 1, 1975, 288-299.

II. Die These von der notwendigen Ineffektivität des Rechts

Literatur: James R. Beniger, The Control Revolution, 1986 Dror, Law and Social Change, in: Aubert, Sociology of Law, 1969, 90 ff.; Lawrence M. Friedman, Impact, 2016; ders./Jack Ladinsky, Social Change and the Law of Industrial Accidents, Columbia Law Review 67, 1967, 50-82; Wolfgang Friedmann, Recht und sozialer Wandel, 1969 [Law in a Changing Society, 1959]; Joel Handler, Social Movements and the Legal System, 1978; Andreas Heldrich, Höchstrichterliche Rechtsprechung als Triebfeder sozialen Wandels, JbRSoz 3, 1972, 305-343; Gerald N. Rosenberg, The Hollow Hope. Can Courts Bring About Social Change?, 1991; Helmut Schelsky, Das Ihering-Modell sozialen Wandels durch Recht, JbRSoz 3, 1972, 47-86; William Seagle, Law, the Science of Inefficacy, 1952; William Graham Sumner, Folkways, 1906; Gerd Winter, Sozialer Wandel durch Rechtsnormen, 1969; ders., Das Vollzugsdefizit im Wasserrecht, 1975.

Das Credo der klassischen Rechtssoziologie von Sumner bis Ehrlich lautete, das (staatliche) Recht sei nur ein Häutchen auf der Oberfläche der Gesellschaft. Die Vorstellung, dass das Recht sozialen Wandel bewirken könne, wird allerdings mit der These von der notwendigen Ineffektivität (oder von der Marginalität) des Rechts bestritten. Diese These geht zurück auf den amerikanischen Soziologen William Graham Sumner (1840-1910). Er stellte in einer bahnbrechenden Untersuchung über soziale Normen die Behauptung auf, die Gesetzgebung habe nur wenig oder gar keinen Einfluss auf das Verhalten. Er bestritt zwar nicht, dass Gesetze eingehalten werden; sei dies der Fall, dann geschehe es aber deshalb, weil sie mit der bereits herrschenden Sitte übereinstimmten, möglicherweise sogar ihren Ursprung in ihr hätten oder zumindest von ihr getragen würden. Jedoch maß Sumner den Gesetzen wenig neugestaltende Kraft zu.

»Man hat vergeblich versucht, die neue Ordnung durch Gesetzgebungsakte zu kontrollieren. Das einzige Ergebnis war der Beweis, dass die Gesetzgebung keine neuen Sitten schaffen kann« (S. 53 ff., 87 ff.). Gewöhnlich zitiert man englisch: »Stateways cannot change folkways.«

Differenzierter war die Stellungnahme von Eugen Ehrlich (S. 302 ff.). Er meinte, man werde sich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass gewisse Dinge durch ein Gesetz überhaupt nicht bewirkt werden könnten, ferner, dass für die Folgen eines Gesetzes die Absicht seines Schöpfers ganz gleichgültig sei, und schließlich auch daran, dass für die Folgen eines Rechtssatzes nicht die Auslegung maßgebend sei, die die Juristen ihm gäben. Staatliche Befehle seien am wirksamsten, wenn sie bloß negativ seien, wenn sie die Menschen nicht zu einem Tun, sondern zu einem Unterlassen zwängen, wenn sie verbieten, bekämpfen, zerstören, ausrotten wollten. Das zeige sich besonders am Straf- und Polizeirecht. Dagegen müsse der Staat viel zaghafter vorgehen, wo er die Menschen zu einem positiven Tun veranlassen möchte.

In den seltenen Fällen, in denen der Staat große positive Leistungen durchgesetzt habe, so vor allem in der Heeres- und Steuerverwaltung, da sei auf Grund vielhundertjähriger Erfahrung eine ganz besonders geschulte und geschickte Technik dafür entstanden. Wo staatliches Recht sonst noch positiv wirke, handele es sich wohl ausnahmslos um unmittelbaren Warenverkehr der Behörden mit der Bevölkerung oder um Fälle, in denen diese wenigstens einigermaßen einsehe, dass sie sich aus eigenem Interesse staatlichem Recht fügen müsse. Darauf beruhe zum größten Teil das Prozessrecht. Der bedeutendste neuere Erfolg des Staates sei die Sozialversicherung. Sein Unglück sei es, dass ihm alles, was er einrichte, zur Behörde werde. Selbst Anstalten für den Unterricht, Kunst, Wissenschaft und Wohlfahrt, selbst Schulen, Museen, Ausstellungen, Eisenbahnen, Tabakregie und Spitäler: Sie verlören dadurch nicht bloß die Fähigkeit, sich den wechselnden Bedürfnissen des Lebens anzupassen, sondern auch den Anhang in der Bevölkerung, der sie zum Werkzeug gesellschaftlichen Fortschritts machen könne.

Diese pessimistischen Äußerungen stammen noch aus der Zeit um die Wende zum 20. Jahrhundert. Sie atmen den Geist der historischen Rechtschule von Savigny und Puchta, von der Ehrlich deutlich beeinflusst war. Inzwischen hat nicht nur ein atemberaubender technischer und wirtschaftlicher Wandel stattgefunden. Auch das Recht hat sich in vieler Beziehung gewandelt. Das gilt zunächst für die allgemeine Einstellung gegenüber dem Recht, die zu einer instrumentalen geworden ist. Der Gedanke ist selbstverständlich, dass das Recht als Mittel zum Zweck sozialer Veränderungen dienen kann.

Geändert hat sich auch die Rechtstechnik. In Parlamenten und vor allem in Ministerien ist eine gewaltige Gesetzgebungsbürokratie entstanden und mit ihr ein nicht weniger imposanter Unterbau von Behörden, die die Durchführung neuer Gesetze einleiten, überwachen und sanktionieren können. Auch der Einfluß der Gerichte ist durch eine straffe Zentralisierung der Rechtsprechung, die in einer allgemein akzeptierten Verfassungsgerichtsbarkeit gipfelt, sowie durch eine perfektionierte Publikationstechnik gewachsen. Dadurch, dass gesellschaftliche Gruppen die Gerichte als Forum der Interessendurchsetzung entdeckten (Handler 1978), blieb die Implementation richterlicher Entscheidungen nicht länger Privatsache, sondern steht unter gesellschaftlicher Überwachung.

Die Rechtssoziologie beobachtete schon vor Jahrzehnten, wie in den USA soziale Bewegungen, die keinen Zugang zum etablierten politischen Kräftespiel von Parteien und Bürokratie gefunden hatten, den sozialen Wandel mit Hilfe der für sie leichter zugänglichen Gerichte vorantrieben. Prominentes Beispiel war die Rechtsprechung zur Rassenfrage. Die Entscheidung des Supreme Court von 1954 in Sachen Brown vs. Board of Education, die die Segregation in der Schule untersagte, und die zunächst mit dem Einsatz der Nationalgarde durchgesetzt werden musste, erlangte geradezu revolutionäre Bedeutung für die Beseitigung der rassischen Diskriminierung in den USA. Hier wurde nicht nur der cultural lag einer nicht mehr zeitgemäßen Rassendiskriminierung geschlossen, sondern das Recht ging weit darüber hinaus und ist bis heute fortschrittlicher als das soziale Bewusstsein mindestens in den Südstaaten der USA (Heldrich). Der Einsatz zivilgesellschaftlicher Kräfte wurde Vorbild für den Kampf um die Frauengleichberechtigung und für die Anerkennung multipler geschlechtlicher Identitäten. Es hatte daher einiges für sich, wenn z. B. etwa Wolfgang Friedmann (S. 10) geradezu das Gegenteil der alten Ineffektivitätshypothese behauptete:

»Die schöpferische und gestaltende Kraft des Rechts war nie stärker als in unserer hochindustrialisierten Gesellschaft.«

Doch in den 1970er Jahren wuchs die Skepsis gegenüber der Leistungsfähigkeit des Rechts erneut.

Mit der Ära Adenauer 1963 waren die ärgsten Kriegsfolgen beseitigt. Die Vertriebenen waren integriert, die Wohnungsnot hatte ihren Schrecken verloren. Das Wirtschaftswunder und Reformen des Arbeits- und Sozialrechts führten zu einer historisch beispiellosen Verbesserung der Situation der arbeitenden Bevölkerung. Aber zehn Jahre später redete man vom Staatsversagen. Die traditionellen demokratischen Formen schienen durch neue Formen des Protests und Widerstand aus der Zivilgesellschaft unterlaufen zu werden. Krisentheorien behaupteten die »Unregierbarkeit« westlicher Demokratien (Armin Schäfer, Krisentheorien der Demokratie: Unregierbarkeit, Spätkapitalismus und Post-demokratie, Der Moderne Staat 2, 2009, 159-183). Damit drängte sich die Frage auf, ob und wie der moderne Staat überhaupt planen und steuern könne. Die Themenentwicklung beschreibt Renate Mayntz, Politische Steuerung und gesellschaftliche Steuerungsprobleme (1987), abgedruckt in dies., Soziale Dynamik und politische Steuerung, 1997,186-208.

Die DFG startete 1976 einen Projektverbund »Implementation politischer Programme«, der bis 1982 lief und von Renate Mayntz koordiniert wurde (Mayntz, Die Implementation politischer Programme: Theoretische Überlegungen zu einem neuen Forschungsgebiet, Die Verwaltung, 1977, 51-66).

Der Blick der Forschung richtete sich zunächst auf den Umweltschutz. Wenige Untersuchungen genügten, um den Eindruck der prinzipiellen Unwirksamkeit des Rechts zu verfestigen, obwohl die Forschungen durchaus auch gewisse Erfolge regulativer Politik verzeichnen konnten. Negative Ergebnisse erregen größere Aufmerksamkeit als positive. Das Vollzugsdefizit – nach dem Titel von Gerd Winter – wurde sprichwörtlich, und die Systemtheorie bot dazu eine anscheinend schlüssige Begründung an. Aus der so genannten Scharpf-Luhmann-Kontroverse von 1988 ist dann allerdings Luhmann als Verlierer hervorgegangen. Der akteurzentrierte Institutionalismus, eine vorsichtig optimistische Steuerungstheorie, die Fritz Scharpf zusammen mit Renate Mayntz entwickelt hatte, setzte sich durch.

Um die Jahrtausendwende gab es eine größere Anstrengung zur Wiederaufnahme der Implementationsforschung, nunmehr unter dem Schirm der Volkswagen Stiftung und der Überschrift »Wirkungsforschung« zum Recht.[1] Für die Politik wurde die prospektive Gesetzesfolgenabschätzung und die nachträgliche Gesetzesbeobachtung und Evaluation[2] sogar weitgehend zur Rechtspflicht. Und eine ansehnliche Fraktion der Öffentlich-Rechtler erklärte eine neue Verwaltungsrechtswissenschaft zur Steuerungswissenschaft.[3] In der Rechtssoziologie dominierte jedoch weiterhin die Vorstellung vom unvermeidlichen Vollzugsdefizit regulativen Rechts. Als Schuldiger wurde jetzt die Globalisierung ausgemacht. Es scheint jedoch, dass für Pessimismus insoweit weniger Grund besteht als je zuvor.

Die empirische Basis für die Einschätzung politischer Handlungsmöglichkeiten hat sich erneut gewandelt. Das Industriezeitalter ist durch das Zeitalter der der Informations- und Datenverarbeitung abgelöst worden. Die control revolution (Beniger) ist immer noch in vollem Gange. In der Rechtswirkungsforschung ist sie noch nicht ganz angekommen. Bisher wird die Entwicklung vorwiegend kritisch unter Überschriften wie Big Data und Selbstdisziplinierung erörtert.

Aber Tatsache ist: Behörden und Private bedienen sich verstärkt neuer Kontroll- und Überwachungstechniken. Die Technologie hat einen großen Sprung gemacht. Neuen Identifikations- und Analysetechniken – RIF-Technologie, biometrische Verfahren, Gentechnik und Nanochemie – entgehen keine Spuren mehr. Rechtliche Verhaltensanforderungen werden in technische Systeme eingebettet. Rüttelstreifen auf der Fahrbahn und Abstandswarner im Auto sind nur Vorboten technischer Compliance-Systeme.

Parallel zur technischen ist eine zivilgesellschaftliche Infrastruktur entstanden, die nach Rechtsbrüchen Ausschau hält, an ihrer Spitze Transparency International. Viele andere heißen mit Nachnamen Watch (Human Rights Watch, Food Watch, Finance Watch, Energy Watch, Tourism Watch usw.). Die Massenmedien sind ständig auf der Suche nach Skandalen und Skandälchen und annoncieren freudig jeden Rechtsbruch, dessen sie habhaft werden können. Das Internet stellt eine Plattform bereit, auf der auch Individuen Rechtsbrüche anprangern können. Es muss nicht immer gleich Wikileaks sein. IGOs und INGOs üben durch Rating und Ranking starken Druck aus.

Das Recht selbst hat erheblich zur gesellschaftlichen Mobilisierung des Rechts (civil law enforcement) beigetragen. Es hat die Informationsrechte der Bürger und der Medien erweitert und neuartige Individual- und Verbandsklagerechte geschaffen. Whistleblowern gewährt es zunehmend Schutz. Auch der Selbstvollzug staatlicher Regulierung – früher sprach man von Bürokratieüberwälzung – ist weiter vorangeschritten. Die Wirtschaft hat ein Compliance-Regime akzeptieren müssen. Die Verwaltung nimmt auf breiter Front Privatorganisationen als Implementationshelfer in Anspruch. Beauftragte sind überall. Berichtspflichten sind ein probates Mittel, um Organisationen zur Selbstkontrolle zu veranlassen und Fremdkontrolle zu erleichtern. Selbst das altmodische Sanktionsrecht ist stärker geworden: so hat das Kartellrecht durch die Kombination von Kronzeugenregelung und exorbitanten Bußgeldern Zähne bekommen.

Deshalb lässt sich nicht ernsthaft bestreiten, dass das Recht Wirkung zeigt und dass es insbesondere auch als Instrument sozialen Wandels dienen kann. Die Diskussion hat sich daher den Detailfragen zugewandt, den Fragen etwa, wo die Grenzen solcher Sozialgestaltung durch Recht liegen, welche Sektoren der Gesellschaft einer Steuerung durch Recht in besonderer Weise zugänglich sind und welche eher Widerstand leisten, welche Steuerungsmittel im Einzelnen geeignet sind und wo typische Schwierigkeiten bei der Durchsetzung von Rechtsnormen auftreten. Dabei hat man sich von dem einfachen Modell von Norm und Sanktion, die durch einen Rechtsstab, etwa durch Staatsanwalt, Polizei und Gerichte verwaltet werden, entfernt und versucht nunmehr, die Durchsetzung von Recht als komplexen Implementationsvorgang zu beschreiben und zu analysieren (§ 36).

Nach alledem darf man die alte These von der notwendigen Ineffektivität des Rechts verabschieden. An ihre Stelle tritt heute ein Abstandstheorem. Grundsätzlich bleibt es dabei: Das Recht hinkt der sozialen Entwicklung hinterher. Der prinzipielle Abstand des Rechts von der aktuellen Entwicklung der Gesellschaft schließt nicht aus, dass das Recht seinerseits zum Instrument sozialen Wandels wird. Es muss daher unterschieden werden zwischen bloßer Anpassung des Rechts an die Verhältnisse in seiner Umwelt und dem Recht als Vorreiter sozialen Wandels. Man kann nicht alles zugleich ändern. Damit einzelne Rechtsnormen zum Hebel des Soziallebens werden können, bedarf es einer festen Grundlage, auf der sie sich abstützen können. Daher ist es gerade das konservative oder statische Element, das das Recht in bestimmten, eng abgegrenzten Bereichen in Stand setzt, den sozialen Wandel punktuell voranzutreiben.

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[1] Hagen Hof/Gertrude Lübbe-Wolff (Hg.), Wirkungsforschung zum Recht I: Wirkungen und Erfolgsbedingungen von Gesetzen, 1999; Hermann Hill/Hagen Hof (Hg.), Wirkungsforschung zum Recht II: Verwaltung als Adressat und Akteur, 2000; Hermann Hill/Hagen Hof (Hg.), Wirkungsforschung zum Recht III: Folgen von Gerichtsentscheidungen, 2001; Ulrich Karpen/Hagen Hof (Hg.), Möglichkeiten einer Institutionalisierung der Wirkungskontrolle von Gesetzen, 2003; Michelle Cottier/Josef Estermann/Michael Wrase (Hg.), Wie wirkt Recht?, 2010.

[2] An der Hochschule Speyer existiert ein Institut für Gesetzesfolgenabschätzung und Evaluation. Dort ist 2012 im Auftrag des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit ein »Leitfaden zur Durchführung von ex-post-Gesetzesevaluationen unter besonderer Berücksichtigung der datenschutzrechtlichen Folgen« herausgegeben worden. Besonders aktiv wird die Gesetzesevaluation in der Schweiz betrieben; vgl. Thomas Widmer/Wolfgang Beywl/Carlo Fabian (Hg.), Evaluation, Ein systematisches Handbuch, 2009; Thomas Widmer/Thomas DeRocchi, Evaluation, Grundlagen, Ansätze und Anwendungen, 2012. In der Schweiz gibt es mit LeGes (Gesetzgebung & Evaluation) dafür auch eine spezialisierte Zeitschrift. Daraus etwa Werner Bussmann, Die Methodik der prospektiven Gesetzesevaluation, 1997, 9-136.

[3] Repräsentativ die Beiträge in Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, 2006ff, 3 Bände. Zur Kritik vgl. Hubert Treiber, Verwaltungswissenschaft als Steuerungswissenschaft – eine »Revolution auf dem Papier«?, Teil 1: Kritische Justiz, 2007, 328-346, Teil 2: Kritische Justiz, 2008, 48-70.

 

III. »Law Follows Structure«

Der strukturalistische Theorieansatz erklärt bestimmte Rechtsformen und Inhalte als notwendige Konsequenz aus sozialen Strukturen. Er geht letztlich auf den Funktionalismus Emile Durkheims zurück, der die normative Verfassung der modernen Gesellschaft aus der fortschreitenden Teilung der sozialen Arbeit erklärt.[1] Längst hat diese Arbeitsteilung neue, weltweite Dimensionen angenommen und eine Vielzahl globaler Strukturen entstehen lassen: Weltweite Kommunikationsnetze, weltweiter Handelsverkehr, übernationale Unternehmen und Organisationen. Es liegt nahe, als Voraussetzung und/oder Konsequenz dieses Strukturwandels übernationale Rechtsformen zu postulieren. Die These lautet: Das Recht folgt der Struktur; globale Strukturen bringen globales Recht hervor.

Die strukturalistische Erklärung setzt zunächst voraus, dass sich zwischen Recht und Struktur überhaupt unterscheiden lässt, dass also Recht nicht selbst als Bestandteil von Struktur angesehen werden muss. Diesem Problem können wir noch relativ einfach dadurch ausweichen, dass wir für unseren Zusammenhang den Strukturbegriff auf nichtrechtliche Strukturen beschränken. Dann lautet die These, dass die großen Tendenzen der wirtschaftlichen Entwicklung stärker sind als die rechtlichen Institutionen. Schwieriger ist die mit der These implizierte Annahme, dass Struktur die unabhängige und Recht immer nur die abhängige Variable bilde, denn um diese Annahme geht eine zentrale Kontroverse der Rechtssoziologie. Während manche in der Tat annehmen, »that legal forms and ideas are secondary and ultimately derivative«[2], wollen andere dem Recht eine mehr oder weniger große Autonomie gegenüber den gesellschaftlichen Strukturen zubilligen. Es wäre misslich, wenn diese Grundsatzdebatte erst entschieden werden müsste, um die Untersuchung der Globalisierung rechtlicher Phänomene mit Hilfe des strukturalistischen Ansatzes in Angriff zu nehmen. Auch insoweit ist daher zumindest vorläufig eine Ausweichstrategie angebracht. Sie kann darin bestehen, dass zunächst nicht nach der Richtung der Ursachenkette gefragt wird, sondern lediglich beschrieben wird, ob überhaupt und bis zu welchem Ausmaß eine parallele Entwicklung globaler Strukturen und globaler Rechtsphänomene zu beobachten ist.

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[1] Die Teilung der sozialen Arbeit, 1977 (Original: De la division du travail social, 1893).

[2] Francis G. Snyder, Law and Development in the Light of Dependency Theory, Law and Society Review 14 , 1980, 723-804, S. 780.

IV. Der Siegeszug der Moderne

Literatur: Douglass C. North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge 1990; Nathan Rosenberg/L. E. Birdzell, How the West Grew Rich. The Economic Transformation of the Industrial World, New York 1986; dies., Industrielle Revolution und Prosperität, Spektrum der Wissenschaft, Januar 1991, 108-120; Keníchi Tominaga, Max Weber and the Modernization of China and Japan, in: Melvin L. Kohn (Hg.), Cross-National Research in Sociology, Newbury Park 1989, S. 125-146; Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, 1920.

Die moderne Gesellschaft erhielt ihre Prägung durch die sogenannte industrielle Revolution, die alle Strukturen verändert und nicht zuletzt jene Arbeitsteilung oder funktionale Differenzierung hervorgebracht hat, von der bei Durkheim die Rede ist. Vor allem aber hat die Industrialisierung den Reichtum der westlichen Industrienationen begründet und damit das wirtschaftliche Ungleichgewicht verursacht, das sich zwischen den Nationen, zwischen Ost und West, Nord und Süd, seit etwa 250 Jahren entwickelt hat. Die Frage, warum die moderne Industriegesellschaft sich zunächst nur in einem Teil der westlichen Welt entwickelt hat, gibt noch immer Rätsel auf. Fraglos waren naturwissenschaftlich-technische Kenntnisse eine wesentliche Voraussetzung. Aber sie können nicht allein entscheidend gewesen sein. Solche Kenntnisse verbreiten sich schnell und können daher nur zu einem zeitlich begrenzten Vorsprung verholfen haben.

Natürliche Ressourcen, insbesondere Bodenschätze, sind kaum als Ursache oder auch nur als Voraussetzung der Modernisierung anzusehen. Japan besitzt weit weniger Bodenschätze als etwa Indonesien, Mexiko oder Russland. Dennoch ist seine Wirtschaft viel stärker gewachsen. Erst recht spricht die Entwicklung der Stadtstaaten Hongkong und Singapur – oder früher Venedigs – dagegen, natürlichen Reichtum als Ursache der wirtschaftlichen Prosperität anzusehen. Auch die verbreitete Vorstellung, der Reichtum der westlichen Welt habe seine Ursache in ausbeuterischer Kolonisation, ist so nicht haltbar. Portugal und Spanien, einst die größten Kolonialmächte, sind in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung erheblich hinter anderen westlichen Nationen zurückgeblieben. Deutschland, Frankreich und Italien erreichten wirtschaftliche Prosperität, bevor sie zu Kolonialmächten wurden. Andere prosperierende Länder wie Norwegen und die Schweiz haben sich nie als Kolonialmächte betätigt. Allenfalls die These, dass der Imperialismus westlicher Industrienationen die Entwicklung anderer Länder behindert habe, lässt sich vertreten. Ebenso wenig kann das allgemeine kulturelle Niveau – wenn es so etwas denn gibt – entscheidend gewesen sein. Man kann dem Europa des 18. Jahrhunderts kaum eine elaboriertere Kultur zuschreiben als etwa dem China der gleichen Zeit. Auch die arabische Kultur war sicherlich in keiner Weise rückständig.

Die Moderne verdankt ihre Entstehung wohl einer spezifischen Konstellation von wissenschaftlich-technischen Neuerungen und gesellschaftlichen Rahmen­bedingungen (Rosenberg/Birdzell 1986/1991). Dafür bietet Max Webers Soziologie immer noch die beste Erklärung. Seine Religions-, Wirtschafts- und Rechtssoziologie berücksichtigt Ost und West, oder, wie Weber es ausdrückt, Orient und Okzident, insbesondere im Vergleich des modernen Europa mit dem traditionellen China. Für sein Werk ist die evolutionäre These zentral, dass sich die westlichen Gesellschaften in Richtung auf rationale soziale Strukturen entwickelt haben, und dass die rationalisierteste Wirtschaftsform der Kapitalismus ist, welcher wiederum untrennbar mit der modernen bürokratischen Organisation als rationalisiertester Herrschaftsform verbunden ist. Für Weber ist Modernität eine einzigartige Entwicklung in der westlichen Geschichte. Seine zentrale Frage war:

»Welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, dass gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wir uns wenigstens gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?« (Weber 1920:1).

Weber antwortet mit einer langen Aufzählung von Merkmalen, die er in modernen westlichen Gesellschaften fand, aber im traditionellen China vermisste. Tominaga (1989) hat die Liste auf vier Hauptkategorien gekürzt:

  • der Geist der Wissenschaftlichkeit als Motiv wissenschaftlich-technischer Modernisierung,
  • der Geist des Kapitalismus als Motiv wirtschaftlicher Modernisierung,
  • der Geist der Demokratie als Motiv politischer Modernisierung,
  • der Geist der Rationalität als Motiv der sozio-kulturellen Modernisierung.

Es war diese spezifische Kombination von Umständen, die zusammen die »Modernisierung« westlicher Gesellschaften zur Folge hatten. Der Geist des Protestantismus, den Weber als Triebfeder der kapitalistischen Entwicklung in England und in den USA entdeckte, genügte dazu allein nicht. Er erklärt nur den internen Aspekt des Unternehmertums. Ein Aspekt, den Weber nicht hinreichend ausgearbeitet hat, ist aus heutiger Sicht die phonetische oder buchstabenschrift, die sich etwa seit dem 8. vorchristlichen Jahrhundert in Griechenland entwickelte. Sie ist vermutlich die Mutter jener rationalistischen Weltsicht, die den Angelpunkt der Rechtssoziologie Max Webers bildet.[1]

Dass der Geist des Protestantismus in unternehmerisch wirtschaftlicher Betätigung – und nicht etwa in Wissenschaft oder Kunst – seinen Ausdruck gefunden hat, bedarf einer zusätzlichen Erklärung: Die Entstehung eines freien Marktes hatte bereits den Weg für die industrielle Revolution geöffnet. Seit dem 12. Jahrhundert hatte in Westeuropa ganz allmählich der Übergang zu freien Märkten begonnen. Mehr und mehr wurde der wirtschaftliche Austausch, der bis dahin normativ nach mehr oder weniger festen Regeln gelenkt worden war, freien Vertragsbeziehungen überlassen. Nicht zuletzt die wissenschaftliche Aufklärung und ihre politische Schwester, der revolutionäre Ruf nach Freiheit und Gleichheit, drängten die ständischen Strukturen zugunsten des Marktes zurück, der dann im Verein mit Wissenschaft und Technik seine bis dahin ungeahnten Kräfte entfalten konnte.

Der Markt ist aber nur die Kehrseite des Rechts. So ist es kein Zufall, dass die Entstehung des Marktes genau mit jenen Entwicklungsschritten verbunden ist, die für Weber an der Rechtstradition des Westens einzigartig waren. Dies sind die streng begriffliche Denkweise des römischen Rechts und des auf ihm aufbauenden westlichen Rechts, die Herausbildung eines autonomen Rechtsstaats, der moderne Staat als ein politischer Zusammenschluss mit einer rational konzipierten Verfassung, die schrittweise Ersetzung partikularen Rechts (bestimmter Gruppen oder Regionen) durch einheitliche nationale Regeln, eine an rational erlassenen Gesetzesregeln orientierte Verwaltung, vollzogen von ausgebildeten Beamten, und der Aufstieg des Zweckvertrags als Mittel, den freien Austausch von Waren und Arbeit zu gestalten.

Mit Webers Theorie für den Aufstieg des Westens, der um 1400 noch weit hinter der Entwicklung in China zurücklag, konkurriert die Erklärung des Wirtschaftshistorikers Douglass North (der dafür den Nobelpreis erhalten hat). Er vermutete, ein wesentlicher Grund für den Aufstieg der westlichen Welt sei im politisch-militärischen und im wirtschaftlichen Wettbewerb der Staaten in Europa zu suchen. In diesem Wettbewerb hätten diejenigen einen Vorsprung gewonnen, die durch die Entwicklung oder Nachahmung geeigneter Institutionen die wirtschaftliche Entwicklung am besten förderten. Im Gegensatz dazu tendierten große Einheitsreiche wie das chinesische, das persische oder das römische nach anfänglicher Konsolidierung zur Stagnation.

Wenn wir Max Weber folgen und annehmen, dass die Entwicklung des modernen westlichen Rechts mit der Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise einhergeht, so müssten wir heute, nachdem Industrialisierung und freier Markt sich beinahe überall durchgesetzt haben, die globale Dominanz westlichen Rechts beobachten können. Natürlich ist dies eine sehr weite und allgemeine Hypothese. Es scheint fast ausgeschlossen, sie in dieser Form empirisch zu testen. Deswegen dürfte es ertragreicher sein, auf solche Entwicklungen zu achten, die nicht ins Bild passen. Max Weber hatte sein England-Problem, weil England die Wiege des Kapitalismus war, obwohl englisches common law nicht den Standards »rationalen« Rechts entsprach. Die formale Rationalität als solche ist jedoch in erster Linie eine interne Qualität des juristischen Denkens. Die Entstehung des Kapitalismus setzte dagegen als Kalkulationsgrundlage Rechtssicherheit voraus. Diese kann aber, wie Weber selbst hervorhob, durch ein Präjudizienrecht gleichermaßen, wenn nicht sogar besser gewährleistet werden. Heute gilt unter Juristen England als der wirtschaftsfreundlichere Standort, weil »rationale« Überregulierung auf dem Kontinent zu Rechtsunsicherheit geführt hat. In der japanischen Erfolgsstory stellt sich das England-Problem von heute.

Der Markt ist sozusagen gegen das Recht entstanden. Heute kann er nur noch durch das Recht aufrechterhalten, oder, wo er noch nicht oder nicht mehr existiert, durch das Recht installiert werden. Das moderne Recht ist freilich von anderer Art. Im Gegensatz zu dem traditionellen, pluralistischen Recht, das der Markt verdrängt hat, ist das moderne Recht, das den Markt pflegt oder gar erst einrichtet, ein regulatives, monistisch-staatliches Recht.


[1] Vgl. dazu Jack Goody/Jan Watt, Konsequenzen der Literalität, in: Goody/Watt/Kathleen Gough (Hg.) Entstehung und Folgen der Schriftkultur, 1986, 63-122, S. 118.

 

V. Die Funktion des Rechts in der Gesellschaft

Literatur: Harry C. Bredemeier, Law as an Integrative Mechanism, in: William M. Evan (Hg.), Law and Sociology, 1962, wieder abgedruckt in: Vilhelm Aubert (Hg.), Sociology of Law, 1969, 52-67; Vincenzo Ferrari, Funzioni del diritto, 1987; Axel Görlitz, Politische Funktionen des Rechts, 1976; Erhard Kausch, Die gesellschaftlichen Funktionen des Rechts, in: Dieter Grimm (Hg): Einführung in das Recht, 2. Aufl. 1991, 1-39; Karl N. Llewellyn, The Normative, the Legal, and the Law-Jobs, Yale Law Journal 49, 1940, 1355-83; Manfred Rehbinder, Die gesellschaftlichen Funktionen des Rechts, FS René König, 1973, 354-368; Lawrence B. Solum, Legal Theory Lexicon: Functionalist Explanation in Legal Theory, 2013.

Sammelbände: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie (JbRSoz ) I, 1970: Die Funktion des Rechts in der modernen Gesellschaft, darin: Erich Fechner, Funktionen des Rechts in der menschlichen Gesellschaft, S. 91-105, Niklas Luhmann, Zur Funktion der »subjektiven Rechte«, S. 321-330, Werner Maihofer, Die gesellschaftliche Funktion des Rechts, S. 11-36, Rüdiger Schott, Die Funktionen des Rechts in primitiven Gesellschaften, S. 107-174; Jens-Michael Priester, Rationalität und funktionale Analyse, S. 457-489; ARSP-Beiheft 8, hg. von Luís Legaz y Lacambra, 1974: Die Funktionen des Rechts. Vorträge des Weltkongresses für Rechts- und Sozialphilosophie, Madrid, 7. IX. – 12. IX .1973, darin: Niklas Luhmann, Die Funktion des Rechts: Erwartungssicherung oder Verhaltenssteuerung?, 31–45 [wiederabgedruckt in ders., Ausdiffenerenzierung des Rechts, 1981, 73-91].

Auch auf die Frage nach der Funktion oder den Funktionen des Rechts in der Gesellschaft werden Strukturhypothesen des Rechts angeboten. Problematisch ist hier schon die Fragestellung, denn der Funktionsbegriff ist unscharf und entsprechend unklar fallen die Antworten aus. Eine funktionale Analyse ist nur sinnvoll, wenn sie in einem präzisen theoretischen Rahmen erfolgt, wie ihn die Systemtheorie (§ 69) liefert. Wichtig ist die Angabe des Systembezugs. Die Funktion ist eine zweistellige Relation. Es ist also zu fragen nach der Funktion eines Systems S1 für ein bestimmtes System S2. Als System S1 kommen entweder das Rechtssystem insgesamt oder einzelne seiner Subsysteme (Justiz, Prozess, Strafvollstreckung, juristisches Publikationswesen usw.) in Betracht. Das System S2 kann wiederum die Gesamtgesellschaft sein oder eines ihrer Teilsysteme (Wirtschaft, Politik, Religion usw.) oder ein noch weiter ausdifferenziertes Subsystem, also z. B. die Universität, die Weinwirtschaft oder die Müllabfuhr. Eine große Hypothese der Rechtssoziologie ist nur von der Frage nach der Funktion des Rechts für die Gesamtgesellschaft und ihre primären Teilsysteme zu erwarten.

Als Ausgangspunkt einer Erörterung der Rechtsfunktionen dient gewöhnlich ein Aufsatz von Karl N. Llewellyn (vgl. § 9), in dem er fünf »law-jobs« unterscheidet. Er nennt an erster Stelle die Konfliktbereinigung, ferner Verhaltenssteuerung und die Legitimierung und Organisation sozialer Herrschaft. Diese drei Aufgaben gehören zu jedem Funktionskatalog. Weiter bezeichnet Llewellyn eine Funktion des Rechts, die stimulierend und integrierend zugleich sein soll (integrative, incentive, direction, net). Damit ist teils die aktive Beförderung sozialen Wandels gemeint, teils die Chance für die Bürger, sich innerhalb der vom Recht geschützten Freiräume zu entfalten. Als fünften »law-job« nennt Llewellyn die Rechtspflege (juristic method). Gemeint ist anscheinend die autonom fachmännische Verwaltung und Fortentwicklung des Rechts durch die Juristen, eigentlich gar keine Funktion des Rechts, sondern Struktur, also Voraussetzung dafür, dass und wie das Recht bestimmte Funktionen ausfüllt.

Für die Gesellschaft insgesamt bringt das Rechtssystem Erwartungssicherung und Konfliktregelung. Beides zusammen macht den wesentlichen Gehalt der sozialen Kontrolle aus (vgl. § 26, 5). Für das politische System beschafft das Recht Legitimation, und es ermöglicht ihm Verhaltenssteuerung. Für die übrigen Teilsysteme leistet das Recht vor allem eine Abschirmung von der Politik. Die Politik kann nicht unvermittelt auf Wirtschaft, Religion, Kunst oder Familie zugreifen, ohne sich rechtlicher Formen zu bedienen und dabei rechtlich definierte Grenzen zu wahren.

Diese und andere Antworten sind sehr allgemein. Will man sie näher ausführen, so gelangt man sehr schnell (wie Ferrari) zu Fragestellungen, die aus anderem Zusammenhang bekannt sind, z. B. zu der Frage nach sozialer Kontrolle abweichenden Verhaltens durch Norm und Sanktion oder andere Prozesse. Die Legitimationsfunktion des Rechts kann man mit der Fragestellung Max Webers (§ 31), mit derjenigen von Luhmann (§ 32) oder auch mit der marxistischen nach dem Verhältnis von Basis und Überbau behandeln. Die Frage nach der Steuerungsfunktion kehrt wieder als Frage nach der Effektivität des Rechts (§§ 47ff). Bei der Frage nach der Funktion des Rechts lassen sich also die verschiedensten theoretischen Ansätze einbringen, die hier nicht wiederholt zu werden brauchen.