§ 71 Komplexität, Eigendynamik und Selbstorganisation

I. Komplexität

Literatur: Frank-Michael Dittes, Komplexität. Warum die Bahn nie pünktlich ist, 2012; Karen Gloy, Komplexität – ein Schlüsselbegriff der Moderne, 2014; John H. Miller/Scott E. Page, Complex Adaptive Systems, An Introduction to Computational Models of Social Life, 2007; Melanie Mitchell, Complexity, A Guided Tour, 2009; Herbert A. Simon, The Architecture of Complexity, Proceedings of the American Philosophical Society 106, 1962, 467-482; Emanuel Vahid Towfigh, Komplexität und Normenklarheit, Staat, 2009, 29-73.

Die allgemeine Systemtheorie hat ein universelles Problem in Angriff genommen, das andere Theorien bis dahin nicht einmal im Blick hatten, das Problem der Komplexität. Komplexität, so Herbert A. Simon (S. 468), ist die übergreifende Eigenschaft von physikalischen, biologischen und sozialen Systemen.

Der Komplexitätsbegriff ist ebenso mehrdeutig wie beliebt, was natürlich miteinander zusammenhängt. Oft steht »komplex« nur für kompliziert, meistens für schwierig und undurchschaubar. Dann spricht man von der Unübersichtlichkeit des Rechts oder vom Normendschungel und fordert Rechtsvereinfachung. Solche Komplexität lässt sich in zwei Dimensionen erfassen und messen: Dichte und Interdependenz (Towfigh). Dichte ist dabei die schiere Menge der zu berücksichtigenden Normen und die Zahl der Tatbestandsvoraussetzungen und der Rechtsfolgen, die im konkreten Fall in Betracht kommen. Komplexität erschöpft sich aber nicht in der Summe der danach zu berücksichtigenden normativen Informationen, sondern wird zusätzlich dadurch bestimmt, dass Normen aufeinander verweisen oder sonst voneinander abhängig sind (Interdependenz). Daraus entsteht eine kognitive Überforderung, die mit technischen Hilfsmitteln und dogmatisch entwickelten Stoppregeln abgearbeitet werden muss. Ein hoher Grad an Komplexität bringt für die Adressaten des Rechts einen Verlust an Normenklarheit, für die Rechtsanwender dagegen Spielräume.

In der Systemtheorie geht es um eine andere Art von Komplexität, die sich nicht in quantitativem Wachstum, in Unübersichtlichkeit oder Kompliziertheit erschöpft.

»Roughly, by a complex system I mean one made up of a large number of parts that interact in a nonsimple way. In such systems, the whole is more than the sum of the parts, not in an ultimate, metaphysical sense, but in the important pragmatic sense that, given the properties of the parts and the laws of their interaction, it is not a trivial matter to infer the properties of the whole. In the face of complexity, an in-principle reductionist may be at the same time a pragmatic holist.« (Simon S. 468)

Simon stellte darauf ab, dass komplexe Systeme intern hierarchisch in Subsysteme geordnet sind. Materie besteht aus Verbindungen, Molekülen, Atomen und Subatomaren Teilchen, die sich jeweils wiederholen. Lebewesen haben Hirn und Magen, Zellen und Enzyme usw. usw. Gesellschaften setzen sich zusammen aus Siedlungen, Unternehmen, Familien usw. usw. Simon analysierte, wie die Stabilität und Reproduzierbarkeit eines Systems von seiner intern hierarchischen Ordnung abhängt. Nicht weniger wichtig war ihm zu zeigen, wie sich aus der internen Hierarchie die Möglichkeit ergibt, komplexe Systeme zu verstehen und zu beschreiben.

Eine neuere Systemtheorie interessiert sich für eine Komplexität, die jenseits von Hierarchien emergente Zustände zur Folge hat. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch dient Komplexität zur Auszeichnung von Systemen, die sich ohne hierarchische Ordnung mit Hilfe nichtlinearer Prozesse an veränderte Umstände anpassen können. Nach dieser Begriffsbestimmung wäre schon ein Heizungsthermostat ein komplexes System. Daher wird zusätzlich verlangt, dass es sich um eine ungeordnete Vielzahl von Teilchen handelt, die lokal miteinander interagieren können. Dabei ist das Verhalten nicht linear. Das heißt, kleine Änderungen (Fehler) können größere Folgen haben, die durch Rückkopplung noch vergrößert werden. Das Verhalten bleibt zwar determiniert, lässt sich aber über Abfolgen nicht vorhersagen. Diese Eigenschaft wird als chaotisch bezeichnet. Chaotisch heißt hier nicht schlechtin unbestimmt, sondrn »für endliches Begreifen unbegreiflich« (Gloy S. 19). Schließlich gehören dazu Rückkopplungsprozesse, die den Systemzustand verändern. Da sich der neue Systemzustand nicht kausal oder linear aus der Bewegung der Teilchen ableiten lässt, ist die Rede von Emergenz. Ein Eingriff von außen hat meistens unvorhersehbare Konsequenzen.

In Systemen, die sich selbst organisieren, lässt sich nicht zwischen organisierenden und organisierten Teilen entscheiden. Alle Teile des Systems stellen potentielle Gestalter dar. Dadurch entfällt eine Hierarchie; an ihre Stelle tritt eine Vernetzung. Sich selbst organisierende Systeme sind in der Regel komplex, weil ihre Teile durch wechselseitige, sich permanent ändernde Beziehungen miteinander vernetzt sind. Die Teile selbst können sich ebenfalls jederzeit verändern. Komplexität erschwert die vollständige Beschreibbarkeit sowie Vorhersagbarkeit des Verhaltens von Systemen.

II. Selbstorganisation als Thema der Rechtssoziologie

Literatur: Ulrich Druwe, Selbstorganisation in den Sozialwissenschaften, KZfSS 40, 1988, 762-775; Werner Ebeling/Andrea Scharnhorst, Modellierungskonzepte der Synergetik und der Theorie der Selbstorganisation, in: Norman Braun/Nicole J. Saam (Hg.), Handbuch Modellbildung und Simulation in den Sozialwissenschaften, 2015, 419-452; Manfred Eigen, Selforganization of Matter and the Evolution of Biological Macromolecules, Die Naturwissenschaften 58, 1971, 465-523; ders./Ruthild Winkler, Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall, 9 Aufl. 2021; Hermann Haken, Erfolgsgeheimnisse der Natur: Synergetik: die Lehre vom Zusammenwirken, 1995; ders., Die Selbstorganisation komplexer Systeme: Ergebnisse aus der Werkstatt der Chaostheorie, 2004; ders., Selbstorganisation in physikalischen Systemen, in: Renate Breuniger (Hg.), Selbstorganisation, 2008, 163-180; ders./Günter Schiepek, Synergetik in der Psychologie: Selbstorganisation verstehen und gestalten, 2006; ders. u. a. (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Synergetik Allgemeine Prinzipien der Selbstorganisation in Natur und Gesellschaft, 2016; Günter Küppers (Hg.), Chaos und Ordnung in Natur und Gesellschaft, 1996; ders., Der Umgang mit Unsicherheit: Zur Selbstorganisation sozialer Systeme, in: Klaus Mainzer (Hg.), Komplexe Systeme und nichtlineare Dynamik in Natur und Gesellschaft, 1999, 348-372; Renate Mayntz/Brigitta Nedelmann, Eigendynamische soziale Prozesse, KZfSS 39, 1987, 649-668.

In der Rechtssoziologie gibt es eine alte Vorliebe für Selbstorganisation. Ehrlich hat sie als das »gesellschaftliche Recht« entdeckt und dem staatlichen Recht vorgezogen. Etwas moderner das Plädoyer von von Hayek: Die Variations- und Selektionsprozesse der kulturellen Evolution ließen spontane Ordnungen entstehen, die als Rechtsregeln angemessener seien als staatliche Normen, die durch politische Entscheidungen willkürlich ausgewählt und dem sozialen Prozess oktroyiert würden.

Für die autopoietisch gewendete Systemtheorie folgt Selbstorganisation notwendig aus der operativen Geschlossenheit der Systeme. Sie hat »zur Konsequenz, daß das System auf Selbstorganisation angewiesen ist« (Luhmann GdG 93). Die Autopoiese umgibt die Systeme mit einer Haut oder mit einem Panzer, der externe Einwirkungen abschirmt. Umso mehr ist das System auf interne Regulierung angewiesen. Für die systemtheoretische Rechtssoziologie tritt an die Stelle des Gegensatzes von staatlichen und spontan gesellschaftlichen Regeln der Unterschied von systeminternen und systemexternen Regeln.

»Selbstorganisation bezeichnet die Fähigkeit eines Systems, eigene Strukturen »spontan« aufzubauen. Es wird eine innere Ordnung nicht von außen aufgegeben, sondern intern durch das Zusammenspiel der Systemkomponenten hergestellt. Ein Rechtssystem kann dann als selbstorganisiert bezeichnet werden, wenn es über »sekundäre Normen« im Sinne von H. L. A. Hart verfügt, die die Herstellung von »primären« Verhaltensnormen über rechtseigene Identifizierung und Verfahren erreichen.« (Gunther Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989, 29)

In den Untersuchungen über pluralistisches Recht fungiert »Selbstorganisation« als Sammelbegriff für den intermediären Bereich, der staatlicher Regulierung und Einflussnahme eher entzogen ist. In anderen Zusammenhängen verweist »Selbstorganisation« auf die Gegenüberstellung von Staat und (Zivil-)Gesellschaft und dient dabei zur Auszeichnung der genuin gesellschaftlichen Tätigkeit.

Immer wieder stößt man darauf, dass Theoriebildung normativ vorstrukturiert ist. Die rechtssoziologische Theorie des Rechtspluralismus war durchtränkt von der Wertung, dass das »gesellschaftliche« Recht dem staatlichen vorzuziehen sei. Diese Wertung hat sich auf abstraktere Begriffe verschoben: Selbstorganisation ist besser als Fremdorganisation. Fremdorganisation wird mit Hierarchie gleichgesetzt, und Hierarchie ist immer schon negativ besetzt. Im Hinterkopf hat man natürlich die Vorstellung von Autonomie und Heteronomie. Wenn hier im Folgenden von Selbstorganisation die Rede ist, dann ist damit keine Selbstverwaltung im Sinne einer bewussten und geplanten Gestaltung gemeint, sondern eine unter bestimmten Bedingungen quasi mechanisch sich herausbildende Ordnung. Eigentlich ist es auch nicht angemessen, von Ordnung oder Organisation zu sprechen, denn beide Ausdrücke führen immer noch die Konnotation von angestrebten Funktionen mit sich. Bei der Selbstorganisation im engeren technischen Sinne entstehen durch quasi-mechanische Rückkopplungen zwischen vielen Einzelhandlungen unbeabsichtigte Muster. Da ist es sinnlos, von Autonomie oder Heteronomie zu reden, und die mit diesen Begriffen verbundenen Wertungen gehen ins Leere. Mehrdeutig ist auch der Ausdruck Selbstregulierung. In der Zusammensetzung »regulierte Selbstregulierung« ist er im Sinne von Selbstverwaltung gemeint.

Vielleicht kann man aber doch auch für eine intendierte Selbstordnung nicht auf den Begriff der Selbstorganisation verzichten. Selbstverwaltung und regulierte Selbstregulierung sind noch kein Selbstregierung, weil sie in einem übergordneten Rahmen stattfinden. Erst wo dieser Rahmen fehlt, findet autonome Selbstorganisation statt. Ein Beispiel sind verfassungsgebende Versammlungen in einer revolutionären Situation. Ein anderes die Kaufmannsgilden, die lex mercatoria oder die von Ostrom thematisierte Commons. Dabei ist der Übergang von Verhandeln und Argumentieren einerseits und Gewohnheit und Funktionalität andererseits, zwischen bewusst und unbewusster von den Beteiligten selbst hergestellter Ordnung fließend.

Hayek sprach von spontaner Ordnung und setzte sie in Gegensatz zur intendierten Organisation.

»In any group of men of more than the smallest size, collaboration will always rest both on spontaneous order as well as on deliberate organization. There is no doubt that for many limited tasks organization is the most .powerful method of effective co-ordination because it enables us to adapt the resulting order much more fully to our wishes, while where, because of the complexity of the circumstances to be taken into account, we must rely on the forces making for a spontaneous order, our power over the particular contents of this order is necessarily restricted.« (Law, Legislation and Liberty, I, S. 46)

Von Hayek war allerdings der Ansicht, das Wissen aller einzelnen Menschen lasse sich von einer planenden Instanz nicht zusammenfassen, sondern komme, wenn überhaupt, am besten in einer spontanen Ordnung zum Tragen.

Eine zentrale Frage der Politik an die Rechtssoziologie lautet: Mit welchen Instrumenten lässst sich die Gesellschaft in Richtung auf Gemeinwohlziele lenken. Die Antworten kreisen um die Alternative zwischen imperativem Recht und Selbstregulierung und werden unter den Stichworten wie reflexives Recht, responsive Regulierung oder regulierte Selbstregulierung abgehandelt. Zwar geht es letztlich gar nicht um eine Alternative, sondern um ein Mehr oder Weniger, um den Stil der Regulierung (regulatory style ). Alle Konzepte setzen jedenfalls im Prinzip auf die Subsidiarität imperativen Rechts. Keines verzichtet auf eine imperative Normschicht. Sie unterscheiden sich insbesondere in dem Vertrauen auf die Kapazität gesellschaftliche Selbstregulierung.

Mit der Weltwirtschaftskrise von 2008 ist die Euphorie etwas abgeflaut. Selbstregulierung sei keine Regulierung, so konnte man hören. Das gilt nicht zuletzt auch für die Hoffnung, dass die Global Players unter den Unternehmen, Anwaltskanzleien und Nichtregierungsorganisationen aus sich heraus ein transnationales Wirtschaftsrecht schaffen könnten. 2009 hat der Nobelpreis für Elinor Ostrom der Selbstregulierungsidee wieder Auftrieb gegeben. Ostrom hatte beschrieben, wie das Allmendeproblem vielerorts durch lokale Selbstorganisation gelöst wird. Doch wenn man genauer hinsieht, so zeigt sich, dass solche Selbstregulierung nur relativ kleinräumig in übersichtlichen Verhältnissen funktioniert. Das Verhalten der Beteiligten muss ohne großen Aufwand für alle anderen grundsätzlich beobachtbar bleiben. Und man kann aus Ostroms Untersuchungen auch nicht den Umkehrschluss ziehen, dass offizielle rechtliche Regulierungen zur Lösung der Probleme ungeeignet sind.

Der Markt als solcher ist keine Selbstregulierung. Beispiele für Selbstregulierung wären Kartelle, Zunftordnungen oder closed shops. Selbstregulierungsregimes funktionieren in der Regel auf Kosten Dritter. Es gibt nur wenige Ausnahmen gemeinwohlverträglicher Selbstregulierung wie z. B. Handelsbräuche oder die von Ostrom beschriebenen Commons.

III. Selbstorganisation in Natur- und Sozialwissenschaften

Literatur: Ulrich Druwe, Selbstorganisation in den Sozialwissenschaften, KZfSS 40, 1988, 762-775; Werner Ebeling/Andrea Scharnhorst, Modellierungskonzepte der Synergetik und der Theorie der Selbstorganisation, in: Norman Braun/Nicole J. Saam (Hg.), Handbuch Modellbildung und Simulation in den Sozialwissenschaften, 2015, 419-452;  Hermann Haken, Erfolgsgeheimnisse der Natur: Synergetik: die Lehre vom Zusammenwirken, 1995; ders., Die Selbstorganisation komplexer Systeme: Ergebnisse aus der Werkstatt der Chaostheorie, 2004; ders., Selbstorganisation in physikalischen Systemen, in: Renate Breuniger (Hg.), Selbstorganisation, 2008, 163-180; ders./Günter Schiepek, Synergetik in der Psychologie: Selbstorganisation verstehen und gestalten, 2006; Günter Küppers (Hg.), Chaos und Ordnung in Natur und Gesellschaft, 1996; ders., Der Umgang mit Unsicherheit: Zur Selbstorganisation sozialer Systeme, in: Klaus Mainzer (Hg.), Komplexe Systeme und nichtlineare Dynamik in Natur und Gesellschaft, 1999, 348-372; Renate Mayntz/Brigitta Nedelmann, Eigendynamische soziale Prozesse, KZfSS 39, 1987, 649-668.

Große Hoffnungen setzte man nach 1945 auf die Kybernetik. Ausgangspunkte waren Überlegungen zur Steuerung von Automaten und der neu aufkommenden Computer. Ein Grundgedanke der Kybernetik besteht darin, die Kausalitätsvorstellung für Vorgänge innerhalb eines Systems zu relativieren. Naturvorgänge lassen sich in der Regel nicht linear durch eine Ursachenkette erklären. Einzelne Ereignisse sind vielmehr in Funktionskreise eingebettet und lösen dort Rückkopplungen aus. Dadurch entstehen Regelkreise und, wenn man das Objekt der Regelung hinzunimmt, Systeme. Kybernetik als Theorie hat die Aufgabe, bei der Interpretation der Beobachtung einzelner Gegenstände oder Ereignisse die Vernetzungen in einem Gesamtsystem zu berücksichtigen. Lange bevor die Rede von der Vernetzung Mode wurde, hatte Hans-Wolfgang Deutsch (1912-1992), angeregt durch Norbert Wiener, die Kybernetik auf politische Prozesse übertragen und damit einen neuen Forschungsansatz geschaffen (The Nerves of Government, 1953). So sollte die Kybernetik zur Wissenschaft der Informationsübertragung und Regelung in Maschinen und Lebewesen werden. Die Versprechungen blieben jedoch weitgehend uneingelöst, weil es nicht annähernd gelang, ähnlich erfolgreiche Steuerungstechniken wie für Automaten und Computer auch für den sozialen Bereich zu entwickeln. Regelung oder Steuerung scheitert hier meistens schon, weil Kommunikation zwischen Menschen keine hinreichend präzise Nachrichtenübertragung gewährleistet. Heute ist die Kybernetik daher zum Erinnerungsposten geworden.[1]

Davon zunächst ganz unabhängig haben Physiker und Chemiker das Phänomen der Selbstorganisation beschrieben. Bahnbrechend waren Arbeiten der Chemiker Manfred Eigen (Nobelpreis 1967) mit der Theorie des Hyperzyklus zu Erklärung der präbiotischen Entstehung replikativer chemischer Systeme, Ilya Prigogine (Nobelpreis 1977) über offene Systeme, die sich nicht in einem dynamischen Gleichgewicht befinden, und des Physikers Hermann Haken, weltberühmt für seine Lasertheorie, über sog. Phasenübergänge. Anscheinend gibt es universelle Strukturbildungsgesetze, nach denen sich Vielteilchensysteme selbst organisieren. Diese Gesetze zeigen, wie sich Schneeflocken oder Kristalle bilden, wie Wellen oder Wasserwirbel entstehen, wie sich Wolkenmuster oder Wanderdünen ausbreiten. Systeme, in denen sich solche Phänomene ereignen, verletzen scheinbar den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, der besagt, dass die Welt insgesamt von einem Zustand höherer in einen Zustand niedriger Ordnung übergeht. Fahren wir mit dem Auto, so verbrennt im Motor das Benzin mit Sauerstoff aus der Luft. Niemand hat je beobachtet, dass die Abgase sich von allein wieder in die Ausgangsstoffe zurückverwandeln. Natürliche Vorgänge laufen grundsätzlich nur in einer Richtung ab, indem organisierte Materie sich in minderwertige Wärmeenergie, d. h. in ungeordnete Bewegung kleinster Teilchen, verwandelt, bis schließlich der thermodynamische Gleichgewichtszustand erreicht ist. Dieses Gesetz der Entropie gilt jedoch nur in einem geschlossenen System, d. h. einem solchen, das mit seiner Umwelt weder Energie noch Materie austauscht. In offenen Systemen lässt sich dagegen immer wieder auch der Aufbau neuer Ordnung beobachten. Der Aufbau und die Erhaltung von Ordnung in einem System haben drei notwendige Bedingungen:

  1. Das System muss sich in einem Zustand des thermodynamischen Ungleichgewichts befinden, d. h. es darf nicht den Endzustand der Entropie erreicht haben.
  2. Erforderlich ist die Zufuhr von Energie oder Materie, die im Verlaufe des Prozesses als minderwertige Wärme an die Umwelt abgeführt werden. Die Selbstorganisation innerhalb eines Systems ist also immer nur auf Kosten des Anstiegs der Unordnung (Entropie) in seiner Umwelt möglich.
  3. Innerhalb des Systems muss eine Rückkopplung existieren, d. h., die Geschwindigkeit, mit der sich ein Element bildet oder verändert, ist von seiner eigenen Stärke oder Ausformung abhängig. In der Chemie ist insoweit von Autokatalyse die Rede.

Sind diese Bedingungen gegeben, dann entstehen oberhalb der Molekülebene, wie Prigogine sie genannt hat, dissipative Strukturen, zum Beispiel oszillierende Enzyme. Das Ergebnis der Selbstorganisation ist eine neue Eigenschaft, die sich aus dem Anfangszustand und dem Verhalten der einzelnen Elemente nicht vorhersagen lässt. Solche Eigenschaften werden als emergent bezeichnet.

Emergenz in diesem technischen Sinne bezeichnet dasAuftauchen von neuartigen und kohärenten Strukturen, Mustern oder und Eigenschaften im Prozess der Selbstorganisation in komplexenSystemen. In der Soziologie wird der Emergenzbegriff oft untechnisch verwendet. So bezeichnet man theorien als emergentisch, wenn sie, wie Durkheim, sozialen Tatbeständen eine besondere Qualität attestieren, die sich nicht handlungstheoretisch erklären lassen soll (Simon Lohse, Zur Emergenz des Sozialen bei Niklas Luhmann, Zf Soziologie 40, 2011, 190-207). Wenn Rechtstheoretiker oder Rechtssoziologen von Emergenz reden, wollen sie damit meistens normative Umschlagpunkte postulieren (wie Gunther Teubner, Globale Bukowina: Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, Rechtshistorisches Journal 15, 1996, 255-290). ZurEmergenz im technischen Sinne Klaus-Dieter Sedlacek, Emergenz. Strukturen der Selbstorganisation in Natur und Technik, 2010; zur Emergenz in der soziologischen Theorie Jens Greve/Annette Schnabel (Hg.), Emergenz: Zur Analyse und Erklärung komplexer Strukturen, 2011.

Manche Systeme zeigen eine Eigenschaft, die als selbstorganisierte Kritikalität (self-organizing criticality) bezeichnet wird. Sie etablieren in der Nähe eines Phasenübergangs eine kritische Balance zwischen Ordnung und Unordnung. Ohne dass sich das von irgendwelchen Ausgangsparametern vorhersagen ließe, kippen sie bei erreichen kritischer Werte von einem zu einem anderen Zustand um. Es entstehen Kettenreaktionen, die Potenzgesetzen folgen. Schnee an einem Hang wird zur Lawine. Ein Sandhaufen beginnt zu rieseln. Aktienkurse stürzen ab.

Auch die Gesellschaft ist ein »Vielteilchensystem«, bestehend aus Einzelmenschen und Gruppierungen von Menschen. Daher ist es durchaus wahrscheinlich, dass sich auch in der Gesellschaft Selbstorganisationsprozesse ereignen. Die Frage ist allerdings, ob und ggfs. wieweit zu ihrer Beschreibung die in Physik und Chemie gewonnenen Modelle brauchbar sind. Hermann Haken scheint diese Frage uneingeschränkt zu bejahen. Mit missionarischem Eifer hat er seit vierzig Jahren die von ihm so genannte »Synergetik«, zu einer Universalwissenschaft von der Selbstorganisation ausgebaut und dafür vor allem in der Psychologie Anklang gefunden. Zu den Kernbegriffen dieser Theorie gehören neben System, Komplexität, Instabilität und Emergenz die Unterscheidung von Ordnungsparameter und Kontrollparameter sowie das Versklavungsprinzip. Für das Verständnis von Strukturbildung und -wandlung auf einer bestimmten Systemebene – z. B. auf der Ebene von psychischen Prozessen – sind die anderen Systemebenen jeweils als »Umgebungsbedingungen« dieses Prozesses zu verstehen (in der Sprache der Synergetik: die Unterscheidung zwischen Ordnungsparametern und Kontrollparametern). Strukturbildung und Strukturveränderung (Emergenz und Phasenübergang) setzen jeweils eine Phase von Instabilität voraus, in der schwächste ordnende Kräfte (Zufallseinflüsse oder intentional gesetzte) eine enorme Wirksamkeit entfalten. Dafür wird folgendes Beispiel gegeben: In der Instabilität nach dem Schlusston in einem Konzert und dem einsetzenden Applaus reichen meist Spontanfluktuationen oder der gezielte Rhythmus Einzelner aus, damit der ganze Saal in einen Klatschmarsch einstimmt.

Der Klatschmarsch ist das Ergebnis einer positiven Rückkopplung, wie sie allgemein Voraussetzung für so genanntes Schwarmverhalten ist. Für den Ruhrgebietsbürger ist der Klatschmarsch aber ein schlechtes Beispiel, denn hier gibt es eine Übung und die entsprechende Erwartung, dass man jede Gelegenheit zu Beifallsbekundungen wahrnimmt, um in einen Klatschmarsch zu verfallen. Literatur zum Schwarmverhalten: Eva Horn/Lucas Marco Gisi, Schwärme – Kollektive ohne Zentrum, 2009; Stefan Münker, Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die sozialen Medien im Web 2.0, 2009.

Diese Strukturbildung ist als eine radikale Reduktion von Freiheitsgraden zu verstehen (im Beispiel: die Vielzahl unterschiedlicher individueller Klatsch-Rhythmen wird nun zu einem Rhythmus). Ist zunächst nur ein Teil eines Systems geordnet, kann im weiteren Verlauf auch der Rest von dieser Dynamik erfasst werden. Insoweit spricht Haken von Versklavung. Daraus folgt ein von Haken für die Synergetik formulierter wesentlicher Zusammenhang: Strukturbildung und Strukturerkennung sind zwei Seiten desselben Prozesses: Durch Fluktuationen »probiert« ein System immer wieder aus, ob sich die Umgebungsbedingungen für die Etablierung einer neuen Struktur geändert haben – es »erkennt« somit quasi vorhandene Teilstrukturen, um diese dann zu komplettieren. Im Klatsch-Beispiel »erkennen« die individuellen Klatscher (meist unbewusst) den Rhythmus, und je mehr Klatscher sich (ebenfalls meist unbewusst) diesem anschließen, desto deutlicher wird dieser, desto stärker wird aber auch die Kraft, sich dem anzuschließen.

»Ein System aus mehreren Teilen erzeugt unter Einwirkung eines Kontrollparameters ein kohärentes Verhalten. Zwischen den Teilen bestehen nichtlineare Wechselwirkungen, welche bei zunehmender Ausprägung des Kontrollparameters in verstärkter Weise ins Spiel kommen … Vor der konkreten Realisierung eines Ordners bzw. einer Mode tritt ein Wettbewerb zwischen möglichen Realisationsformen auf, welcher von einem oder mehreren koexistierenden oder abweichend auftretenden Ordner gewonnen wird. In Phasen der Symmetrie (d.h. der Gleichwahrscheinlichkeit mehrerer Ordner) können kritische Fluktuationen über die Realisierung eines Ordners entscheiden. Der Ordner bindet dann die Teile in seine Bewegung ein (Versklavung), ihre Freiheitsgrade reduzieren sich drastisch. Es liegt somit nicht nur eine kreiskausale Wirkung zwischen den Teilen des Systems, sondern auch zwischen der Mikroebene und der Makroebene vor. Der Ordner ist eine Funktion der Teile, und die Teile werden in ihrem Verhalten eine Funktion des Ordners«. Entscheidend dabei ist, dass jedes System seinen spezifischen Kontrollparameter [braucht]; das System wählt – um das anthropomorph auszudrücken – gewissermaßen aus, mit welcher Art von Anregung es etwas anfangen kann.« (Haken 2006, 134)

Druwe hat kritisiert, dass es in den Sozialwissenschaften an Problembewusstsein für die Übertragbarkeit naturwissenschaftlicher Theorien fehle. Als Folge, so meint er, würden die genau definierten Begriffe der naturwissenschaftlichen Theorien in loser Analogie als bloße »Begriffshülsen« verwendet. Dies führe zu ungenauen und bisweilen mit der Systemtheorie nicht kompatiblen Aussagen. Die mathematische Formalisierung, die eines der zentralen Merkmale der dynamischen Systemtheorie darstelle, sei für soziale Phänomene wegen fehlenden Wissens über die relevanten Einflussgrößen gegenwärtig nicht möglich:

»Bevor also das Problem der Übertragung systemtheoretischer Selbstorganisationsmodelle überhaupt angegangen werden kann, muss das empirisch-sozialwissenschaftliche Wissen um entscheidende gesellschaftliche Größen, Einflussfaktoren und relationale Beziehungen vergrößert werden. Von einer mathematischen Beschreibung und entsprechenden Berechenbarkeit sind die Sozialwissenschaften noch so weit entfernt, dass die Vermutung von strukturellen Analogien rein spekulativ ist.« (S. 773)

Zu bedenken sind zwei weitere Einwände grundsätzlicher Art:

    • Kontrollparameter und Ordner oder wie auch immer man die interessierenden Elemente nennen mag, wirken in der Gesellschaft nicht mechanisch, sondern durch einen Informationsinput, d. h. durch Kommunikation. Bei der Informationsübertragung zwischen sozialen Akteuren gibt es jedoch stets irgendwelche Verluste.
    • Die Vielteilchensysteme der Physik, Chemie und auch der Biologie bestehen aus Elementen, die automatisch auf den Kontrollparameter und Ordner antworten. Wenn dagegen Menschen beteiligt sind, so mögen sie tatsächlich vielfach unbewusst oder jedenfalls unüberlegt reagieren. Nicht selten reflektieren sie aber, wie sie auf einen »Ordner« reagieren sollen. Dadurch sind in soziale Systeme Puffer eingebaut, die es bis heute aussichtslos erscheinen lassen, die naturwissenschaftlichen Modelle der Selbstorganisation auf die Gesellschaft zu übertragen.
    • Menschen als Elemente eines Vielteilchensystems sortieren Handlungsalternativen im Rahmen ihrer beschränkten Rationalität unter Kostenuten-Gesichtspunkten.

Trotz solcher Bedenken bleibt es wohl zulässig, auch gesellschaftliche Phänomene als Selbstorganisation zu erklären. Sie sind als eigendynamische soziale Prozesse geläufig (Mayntz/Nedelmann). Beispiele wären Dominoeffekte, Schneeballsysteme, Kettenreaktionen oder Netzeffekte, Aufmerksamkeitszyklen oder Schweigespiralen[2].

 

IV.  Zur Komplexität des Rechts

Literatur: Karen Gloy, Komplexität – ein Schlüsselbegriff der Moderne, 2014; Wolfgang Hoffmann-Riem, Innovationen im Recht, 2016¸John H. Miller/Scott E. Page, Complex Adaptive Systems, 2007; Melanie Mitchell, Complexity, A Guided Tour, 2009; Monica Palmirani (Hg.), AI Approaches to the Complexity of Legal Systems, 2012; Günter Rittmann, Der Umgang mit Komplexität, Soziologische, politische, ökonomische und ingenieurwissenschaftliche Vorgehensweisen in vergleichender systemtheoretischer Analyse, 2014; J. B. Ruhl, Complexity Theory As a Paradigm for the Dynamical Law-and-Society System, Duke Law Journal 45, 1996, 849-928; ders., Law’s Complexity: A Primer, Georgia State University Law Review 24, 2007, 885-911; Volker Schneider/Johannes M. Bauer, Von der Governance zur Komplexitätstheorie, in: Johannes Weyer/Ingo Schulz-Schaeffer (Hg.), Management komplexer Systeme. 2009, 31-35; Michael Zollner, Komplexität und Recht, 2014.

Alle sind sich einig. Das Recht ist komplex. Dazu entwickelt sich aktuell eine neue Forschungslandschaft, in der das Recht aber noch keinen festen Ort[3] gefunden hat. Einen Anfang hat immerhin Zollner gemacht, indem er einen »Paradigmenwechsel« hin zu »nichtlinearen Erklärungsmodellen« beobachtet, der die Jurisprudenz an die neue Grenzen führe.

Komplexität erschöpft sich nicht in quantitativem Wachstum, in Unübersichtlichkeit oder Kompliziertheit. Komplexität ergibt sich erst daraus, dass die Menge der Elemente des Sachverhalts, den man in den Blick nimmt, als miteinander verbunden und voneinander abhängig wahrgenomen werden. Die Komplexität des Rechts kommt nur in den Blick, wenn man das Recht als Beobachter von außen betrachtet. Aus der Binnenperspektive der im System handelnden Akteure, darunter auch der Juristen, ist das Recht nur kompliziert. Erst die externe Beobachtung zeigt die Komplexität des Rechtsystems, die sich aus der Vielzahl seiner Elemente und dem Fehlen einer zentralen Steuerung ergibt. Alle wollen es einfach. Das Steuergesetz könnte lauten: Auf alle Einkommen wird eine Steuer von 1 % erhoben. Einfacher geht es nicht. Doch dabei wird es nicht lange bleiben. Alsbald kommen die Fragen. Die Bürger: Was ist Einkommen? Auch die Erbschaft nach der Tante? Auch der Wertzuwachs meines Grundstücks? Die Steueranwälte: Welche Ausgaben lassen sich abziehen? Die Buchhalter: Wie ist es mit den Verlusten vom Vorjahr? Die Parlamentsabgeordneten: Sollten wir nicht die Steuer ökologisch gestalten? Die Wirtschaftsverbände: Wir brauchen Steuerbefreiung für Fund E. Und so geht es weiter, bis das Steuerrecht seine berüchtigte Kompliziertheit (oder Komplexität?) erreicht.

Jede Rechtskommunikation zieht andere nach sich. Zwar sind die Regeln, nach denen einzelne Rechtskommunikationen ablaufen, relativ einfach. Aber das kollektive Ergebnis ist nicht vorhersagbar. Insgesamt scheint das Rechtsystem robust zu sein. Aber die Grenzen seiner Anpassungsfähigkeit lassen sich kaum näher bestimmen, denn in komplexen Systemen können kleine Veränderungen ganze Kaskaden mit unvorhersehbaren Folgen auslösen. Deshalb ist bei Reformen Vorsicht und Bescheidenheit geboten.

Kann man Komplexität begreifen? Sicher nicht direkt, sondern nur vereinfacht mit Hilfe von Modellen. Ein Modell ist allerdings nicht ausreichend, denn um ein passendes Modell zu konstruieren, müsste man schon wissen, worauf es ankommt. Deshalb muss man eine Mehrzahl von Modellen durchprobieren. So arbeitet die Rechtstheorie mit dem Stufenbaumodell, einem Mehrebenenmodell, einem Netzwerkmodell oder einem Organismusmodell. Nicht zufällig handelt es sich bei den Modellbezeichnungen zugleich um Metaphern. Modelle bleiben unvollkommen, aber sie können doch helfen, indem sie die Komplexität geschickt vereinfachen.

Kann man die Komplexität auch messen? Die Komplexität von Software wird als zyklomatische Komplexität gemessen. Sie wird aus der Menge der Operatoren berechnet, die dem Programm Anweisungen geben, auf einen Input in der einen oder anderen Weise zu reagieren.

Hoffmann-Riem (S. 146) nennt neun Indikatoren für die Komplexität des Rechts:

  1. Anzahl beteiligter Variablen;
  2. Vernetztheit der beteiligten Variablen;
  3. Interdependenzen im Hinblick auf die beteiligten Variablen;
  4. Vielzieligkeit (Polytelie);
  5. Dynamik der Problemsituation, insbesondere Konflikthaftigkeiten;
  6. Vielzahl und Unterschiedlichkeit beteiligter Akteure;
  7. Mangelnde Erwartungssicherheit;
  8. Knappheit von Ressourcen (Zeit, Wissen, Finanzen, Personal u.a.);
  9. Unvorhersehbarkeit von Kausalabläufen (häufige Nicht-I.inearität, Rekursivität).

Der letzte Punkt wiederholt nur die Definition von Komplexität. (6) ist eine Teilmenge von (1). Beide messen nur die Verrechtlichung im Sinne einer quantitativen Ausdehnung des Rechts. Zum Komplexitätsindikator werden sie erst in Kombination mit (2) und (3), die sich aber untereinander nicht wirklich unterscheiden. (5) und (8) beziehen sich auf rechtssystemexterne Umstände. An der Eignung dieser Liste kann man dher zweifeln. Niemand hat bisher versucht, mit Hilfe dieser oder anderer Indikatoren mit der Messung der Komplexität des Rechts ernst zu machen.

Komplexitätsreduktion ist ein zentrales Thema der Systemtheorie (o. § 69 III): Ein System muss sich laufend mit seiner Umwelt auseinandersetzen. Es muss die Vielzahl der Umwelteinwirkungen erfassen und verarbeiten (und sei es durch Passivität), oder in der Sprache der Systemtheorie, Umweltkomplexität reduzieren. Für die Erfassung und Reduktion von Komplexität verfügen Systeme über verschiedene Strategien. Eine wichtige Strategie der Komplexitätsreduktion ist die systeminterne Wiederholung der Systembildung (Differenzierung). Eine andere wäre die Zulassung von Konflikten im System, eine dritte die Verteilung der Reduktionsleistung auf Struktur und Prozess.

Karen Gloy schreibt im Vorwort ihres Buches von der Einsicht,

»dass sich Komplexität nur durch Komplexität bewältigen lasse, wie es schon 1956 der Kybernetiker W. Ross Ashby in seinem Buch An Introduction to Cybernetics ausgesprochen hat: ›Only variety can destroy variety‹, anders gesagt, Komplexität lässt sich nur mit Komplexität angehen. An die Stelle des minimalistischen Programms der Komplexitätsreduktion ist ein maximalistisches getreten. Das aber bedeutet im Klartext, dass der Komplexität der Welt wegen der unendlichen Menge an Daten und Relationen nicht beizukommen ist. Da in der Moderne die traditionellen, räumlich und zeitlich festumrissenen Komplexe der Lebens- und Arbeitswelt, ebenso der Wissensvermittlung suspendiert worden sind und offenen dynamischen Systemen haben weichen müssen, sehen wir uns wegen der Offenheit und Unberechenbarkeit der Zukunft ständig mit Unsicherheiten konfrontiert, die uns Richard Rorty zufolge nur ein ›Sich-Durchwursteln‹ bei der Komplexitäts- und Kontingenzbewältigung erlauben.«

Zur Reduktion von Komplexität dienen soziale und technische Systeme. Als soziale Systeme zur Reduktion von Komplexität dienen Religion, Moral und nicht zuletzt das Recht. Damit das Recht der Komplexität der Welt gerecht wird, muss es seinerseits komplex ausfallen. Diese Komplexität versuchen wir wiederum durch technische Systeme zu bewältigen. Große Hoffnungen wurden auf die elektronische Datenverarbeitung gesetzt. Jetzt ruhen sie auf deren Fortsetzung als künstliche Intelligenz. Ganz im Sinne der von Gloy formulierten »Einsicht« erweist sich die Digitalisierung nun ihrerseits als Quelle der Komplexität.

V. Selbstorganisation und Evolution

Selbstorganisation erklärt nicht alles, zusätzlich braucht man die Evolutionstheorie (Geoffrey M. Hodgson/Thorbjørn Knudsen, Why We Need a Generalized Darwinism, and why Generalized Darwinism Is Not Enough, Journal of Economic Behavior & Organization 61, 2006, 1-19, S. 6 ff). Die Evolution des Rechts soll in § 90 behandelt werden.

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[1] Michael Hagner, Vom Aufstieg und Fall der Kybernetik als Universalwissenschaft, in: ders./Erich Hörl (Hg.), Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, 2008, S. 38-71.

[2] Elisabeth Noelle-Neumann, Die Schweigespirale, Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut, 1980.

[3] Die schwungvoll gestartete Society for Evolutionary Analysis in Law (SEAL) hat anscheinend aufgegeben.