§ 69 Der systemtheoretische Ansatz

Literatur: Bühl (Hg.), Funktion und Struktur, 1975; Damm, Systemtheorie und Recht, 1976; Deutsch, Politische Kybernetik, 3. Aufl. 1973; ders., Zur Theorie sozialer Systeme, 1976; Torstein Eckhoff/Nils K. Sundby, Rechtssysteme, 1988; Kiss, Strukturfunktionalismus, in: ders., Einführung in die soziologischen Theorien II, 3. Aufl. 1977, 164 ff.; ders., Die funktional-strukturelle Systemtheorie von Niklas Luhmann, ebd. S. 321 ff.; Luhmann, Soziale Systeme, 1984 (SS); Merton, Social Theory and Social Structure, 1968; Münch, Theorie sozialer Systeme, 1976; Parsons, The Structure of Social Action, 1968; ders., The Social System, 1951; ders., Soziologische Theorie 1963; ders, Zur Theorie sozialer Systeme, 1976; ders./Shils, Toward a General Theory of Action, 1962; Herbert A. Simon: The Architecture of Complexity, Proceedings of the American Philosophical Society 106, 1962, 467-482; Günther Schmid, Funktionsanalyse und politische Theorie, 1974; ferner die bei §·9 genannten Arbeiten Luhmanns.

 

I.   Von der Kausalanalyse zur Systemanalyse

Die Systemtheorie hat mit der Institutionenlehre gemeinsam, dass sie nicht einzelne Normen oder Rollen, sondern komplexere Einheiten betrachtet, die ihrer Umwelt gegenüber eine gewisse Selbständigkeit erreichen. beispielsweise im Rechtsbereich auch ohne theoretischen Anspruch gelegentlich Syste Die Ähnlichkeit zur Institutionenlehre wird deutlich, wenn man aufzählt, was m genannt wird: Der Staat, einzelne seiner Verwaltungszweige und Behörden, Gerichtsbarkeit und Gerichte, die Anwaltschaft, juristische Fakultäten, Betriebe und Vereine, aber auch rechtlich strukturierte Kleingruppen wie die Familie. Im Gegensatz zu dem unreflektierten Systembegriff der Alltagssprache, geht es jetzt um den sozialwissenschaftlichen Systembegriff, der das Recht als System anderen sozialen Systemen (Wirtschaft, Politik, Kultur, Wissenschaft) und dem Gesamtsystem der Gesellschaft gegenüberstellt..

Sozialwissenschaftliche Systemanalyse ist ein Versuch, besser zu begreifen, wie sich in der Welt aus Chaos und Zufall Ordnung bildet und erhält. Oft geben wir uns mit kausalen Erklärungen zufrieden, die eine Ursache mit einer Wirkung verknüpfen, so wenn wir fragen, ob der vom Angeklagten A abgegebene Schuss den Tod des Opfers O verursacht hat. Doch kausale Erklärungen sind stets eine grobe Vereinfachung. Letztlich wirken immer viele Umstände zusammen, um bestimmte Wirkungen herbeizuführen, ohne dass wir alle Kausalverknüpfungen erkennen und benennen könnten.

Das zeigt sich am Beispiel des sogenannten Ökosystems. Die Natur bildet ein so vielschichtiges Wirkungsgefüge, dass die kausale Betrachtungsweise versagt. Eine Unzahl von Variablen fügt sich zu einem dichten Geflecht von Stoffkreisläufen, Energieflüssen und Informationsketten. Jeder Effekt ist multikausal bedingt. Die Ursachen akkumulieren oder wirken gegeneinander. Die Verknüpfungen sind zeitlich und räumlich weit gespannt. Umweltverschmutzung und Klimaveränderungen können nur noch global adäquat erfasst werden. Zwischen möglichen Ursachen und erkennbaren Schadensfolgen liegen lange Latenzzeiten. Zwischen bestimmten Ursachen, Folgen und Nebenfolgen gibt es kaum eine berechenbare Beziehung. Kleine Ursachen können große Wirkung haben, und große Ursachen bleiben scheinbar wirkungslos. Die Ergebnisse der Klimaforschung oder der Waldschadensforschung sind daher trotz großer Anstrengungen nicht eindeutig.

Es geht bei der Systembetrachtung aber nicht bloß um die Erklärung von »Wirkungen«, sondern vielmehr darum, dass ein System als Ganzes Eigenschaften zeigt, die sich an keinem seiner Teile finden. Die Formel, dass das Ganze mehr sei als die Summe seiner Teile, verweist auf die Grenzen kausaler Erklärungen. Auch wenn wir alle Eigenschaften und Wirkungszusammenhänge eines Gegenstandsbereichs kennen, so ist doch aus diesem Wissen nicht vorhersehbar, dass bei einer bestimmten Konfiguration dieser Eigenschaften Phänomene auftreten, die vollständig neu zu sein scheinen, mindestens solange wir den entscheidenden Zusammenhang nicht verstanden haben. Solche Phänomene werden, weil sie neu »auftauchen«, emergent genannt.

Das altgriechische Lehnwort »System« bedeutet Zusammenordnung. So bildet jede Zusammenstellung von Komponenten, die in irgendeiner Weise zusammenwirken und die wir, gerade weil sie zusammenwirken, von ihrer Umwelt unterscheiden können, ein System. Ein System wird daher definiert als ein Gefüge von Beziehungen, das sich von seiner Umwelt unterscheidet.

Viele Systeme finden wir in unserer natürlichen Umwelt. Luft und Sonne, Wind und Wolken wirken zusammen und bilden das Wetter. Im Körper einer Pflanze oder eines Tieres bewirkt eine Unzahl von Elementen in komplexer Anordnung Wachstum und Fortpflanzung. Pflanzen und Tiere bilden zusammen mit dem Wetter und Teilen der Erdoberfläche Ökosysteme. Wo Menschen in Bezug aufeinander handeln, bilden sie soziale Systeme. Dazu zählen die Familie ebenso wie der Staat, Wirtschaftsunternehmen ebenso wie die Gerichte.

Systeme lassen sich unter verschiedenen Gesichtspunkten ordnen. Wichtig ist die Einteilung in mechanische, biologische, psychische und soziale Systeme. Als soziale Systeme unterscheidet man Handlungssysteme, Organisationen und die Gesellschaft. Die Gesellschaft ist das allumfassende Sozialsystem, jenseits dessen eine höhere Systemebene nicht mehr erkennbar ist. Das Recht bildet ein soziales System und wird als ein Teilsystem der Gesellschaft aufgefasst. Gesellschaft ist nach der Vorstellung Luhmanns heute Weltgesellschaft.

»Gesellschaft ist heute eindeutig Weltgesellschaft, – eindeutig jedenfalls dann, wenn man den hier vorgeschlagenen Begriff des Gesellschaftssystems zugrunde legt.« (Soziale Systeme, 1984, S. 585)

Zugrunde gelegt ist Luhmanns spezifische Definition, nach Gesellschaft das Ensemble aller füreinander erreichbaren Kommunikationen bildet, eine Definition, die nicht allgemein akzeptiert wird.

In mechanischen Systemen, z.B. einer Uhr oder einem Auto, lassen sich die kausalen Beziehungen noch entwirren. Deshalb ist es kein Zufall, dass die Systemtheorie von Biologen entwickelt wurde, denn biologische Systeme sind so komplex, dass Kausalanalyse nicht ausreicht, um die drei Eigenschaften zu erklären, die sie auszeichnen, nämlich

  • Selbstregulierung (Homöostase),
  • Selbsterhaltung und Fortpflanzung (Autopoiese),
  • Fortentwicklung (Evolution).

Ein biologisches System reguliert sich selbst auf bestimmte Sollwerte wie Temperatur und Blutdruck. Zeitweise wollten Soziologen auch die Struktur sozialer Einheiten nach dem Vorbild lebender Organismen als Systeme begreifen, die sich selbst auf einen bestimmten Zustand hin einregulieren und erhalten. Sie fragten: Wie viel Bildung, Reichtum, Kriminalität, Kunst usw. braucht die Gesellschaft, um als »gesund« gelten zu können? Diese Idee findet immer noch Anklang. Aber sie lässt sich nicht durchhalten, denn sie setzt voraus, dass man für soziale Systeme, ähnlich wie für Lebewesen, einen Zustand ermitteln könnte, bei dem sie als »gesund« anzusehen wären. Diesen Sollwert gibt es nicht. Die ältere Systemtheorie wurde daher durch eine funktionale Theorie abgelöst, die sich darauf beschränkt, die Funktion bestimmter Elemente für das gesamte System zu beschreiben. Man sucht nach relativ gleichförmigen und dauerhaften Arrangements (Strukturen), verzichtet aber darauf, sie aus Naturgesetzen und Randbedingungen kausal zu erklären, und begnügt sich damit, ihren Beitrag (Funktion) für die Erhaltung abgrenzbarer Sozialeinheiten (Systeme) darzustellen.

Wenn eine Uhr stehen bleibt, ist vielleicht die Feder gebrochen. Aber auch ohne Kenntnis der Ursache lässt sich die Uhr durch ein neues Werk wieder gangbar machen. Und wichtiger noch: Die Funktion einer Uhr, nämlich die Anzeige der Zeit, hängt nicht davon ab, ob sie ein mechanisches, ein elektrisches oder ein elektronisches Werk besitzt. Abstrakter formuliert: Wenn ein System »funktioniert«, lässt sich daraus nicht auf die Existenz bestimmter Strukturelemente schließen. Dazu müsste man nachweisen, dass das Vorhandensein gerade dieses Strukturelements nicht nur eine hinreichende, sondern auch eine notwendige Bedingung für die Erhaltung des Systems darstellt. Da dieser Nachweis in der Regel nicht zu erbringen ist, steht eine Aussage über die Funktion eines Strukturelements stets unter dem Vorbehalt, dass dieses Element gegen jede andere Gestaltung austauschbar ist, die den gleichen Beitrag zur Systemerhaltung zu liefern vermag. Funktionsanalyse ist auf die Suche nach Alternativen angelegt. Dadurch wird sie praktisch relevant.

Demokratische Mitbestimmung gilt als Quelle moralischer Legitimation für eine Institution. Albert Hirschmann (Exit, Voice, and Loyalty, 1979) hat darauf aufmerksam gemacht, dass Mitbestimmung (voice) nicht die einzige Legimationsquelle ist. Wenn die Zugehörigkeit freiwillig und der Austritt aus der Organisation (exit) nicht zu teuer ist, so verliert die Mitbestimmung an Bedeutung. Es kann sogar unfair sein, wenn Mitglieder, die erst kurzzeitig und vielleicht auch nur vorübergehend der Organisation angehören, ebenso mitbestimmen können, wie andere, die eine lange loyale Mitgliedschaft verweisen können. »Exit« ist eine gleichwertige Alternative, wenn es andere Institutionen zur Wahl stehen. Mitbestimmung ist notwendig, wenn der Austritt unmöglich oder sehr kostspielig ist. Allerdings die Kosten des Austritts und die Verfügbarkeit alternativer Institutionen eine Frage des Mehr oder Weniger, so dass auch pragmatische Kombinationen von »exit« und »voice« in Betracht kommen.

Verschiedene Systeme können ineinander verschachtelt sein. Nervensystem, Verdauungssystem, Kreislauf und Atmung bilden Teilsysteme (Subsysteme) des Körpers. Gemeinden, Städte und Kreise bilden Subsysteme der Länder. In der Neuzeit zeigt sich das Recht neben Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kunst, Familie und Erziehung, Religion und Sport als ein Teilsystem der Gesellschaft. Für jedes Teilsystem kann man nach seinen Funktionen für das Gesamtsystem und nach der Beziehung zu den anderen Teilen fragen. Die Verschachtelung von Systemen ist ein zentraler Aspekt von Komplexität. Diesen Aspekt hat grundlegend Herbert A Simon beschrieben.

Die differenzierten Teilsysteme haben durch Spezialisierung auf ihre besonderen Funktionen in der modernen Gesellschaft hohe Selbständigkeit (Autonomie) gewonnen. Die Kunst ist nicht mehr abhängig von Kirche und Staat, die einmal ihre wichtigsten Auftraggeber waren. Auch Kirche und Staat haben sich getrennt. Die Wirtschaft investiert allein nach ökonomischen Gesichtspunkten. Das Recht hat sich von Sitte und Religion gelöst und ist auch gegenüber Politik und Wirtschaft relativ selbständig geworden.

Die eigentümliche Leistung des politischen Systems, wie sie von Luhmann beschrieben worden ist, besteht in der Herstellung gesamtgesellschaftlich verbindlicher Entscheidungen, die anderen Bereichen Inhalte oder Grenzen der Systembildung vorschreiben. Das Rechtssystem bildet nach der Theorie Luhmanns daneben ein eigenständiges System mit der Funktion, die im politischen System erarbeiteten Entscheidungen kleinzuarbeiten, sie für die Menschen annehmbar zu machen (zu »legitimieren«), durchzusetzen und die dabei unvermeidlichen Konflikte zu absorbieren. Das geschieht, indem das Recht mit den Erwartungen, wie sie vor allem im politischen System erzeugt werden, in einer Weise umgeht, dass sie auch im Konfliktfall »kontrafaktisch« durchgehalten werden können. Das Recht besteht aus Erwartungen, die man nicht einfach aufgibt, wenn sie bestritten oder verletzt werden. Solche enttäuschungsfesten Erwartungen nennt Luhmann normativ.

Das Gegenstück zu normativen Erwartungen bilden kognitive Erwartungen. Das sind lernbereite Erwartungen, also solche die man ändert, wenn sie enttäuscht werden. Wenn man mit warmem Wetter rechnet und wenn es dann tatsächlich regnet und kalt wird, wird man sich »lernbereit« darauf einstellen und z.B. andere Kleidung wählen. Das Recht ist grundsätzlich nur auf der Ebene der Rechtssetzung lernbereit. So kann der Gesetzgeber seine Gesetze ändern, wenn sie nicht die erwarteten Wirkungen haben.

II.  Die struktur-funktionale Systemtheorie

Soziologische Systemtheorie war zunächst wesentlich das Werk von Talcott Parsons. Robert Merton hat ihr zu einem Begriffsapparat verholfen, der sie zu einem praktisch brauchbaren Forschungsinstrument macht. Von ihm stammt vor allem die Unterscheidung intendierter und nicht intendierter, manifester und latenter, (für das System) positiver und negativer« (disfunktionaler) Funktionen. In dem angeführten Beispiel wäre die Erstattungsfunktion der Prozesskostenpflicht beabsichtigt, also intendiert, der Schutz vor Überlastung wenn nicht intendiert, so doch offenkundig (manifest), während die Barrierenfunktion für sozial Schwache kaum intendiert ist und jedenfalls lange Zeit latent blieb. Während die Erstattungs- und die Entlastungsfunktion im Hinblick auf das Justizsystem positiv funktional sind, könnte die Barrierenfunktion das Ansehen der Justiz als Hort der Gerechtigkeit untergraben und dadurch disfunktional wirken.

Parsons (strukturfunktionale) Systemtheorie ist freilich viel anspruchsvoller als es solche Stichworte auch nur andeuten können. So erhebt sie den Anspruch, die Grundprobleme oder funktionalen Erfordernisse (functional requisites) zu bezeichnen, die jedes System lösen muß, um sich in seiner Umwelt funktionsfähig erhalten zu können. Es handelt sich um vier, nämlich

  1. Integration (integration): Die sozialen und emotionalen Beziehungen zwischen den Mitgliedern des Systems müssen in Einklang gebracht werden. Auf der Ebene der Gesellschaft geht es hier um die Schaffung der Solidarität im Sinne Durkheims
  2. Zielerreichung (goal-attainment): Das System muß sich in Richtung auf bestimmte Ziele bewegen, welche auch immer das sein mögen.
  3. Erhaltung der grundlegenden Orientierungmuster (pattern-maintenance): Die Motivation und die Wertvorstellungen der Mitglieder müssen ständig gepflegt und erneuert werden, so dass ihre Aktivitäten nicht erlahmen.
  4. Anpassung (adaptation): Das System muß sich laufend seiner sozialen ebenso wie seiner physischen Umwelt anpassen.

Sieht man auf die Gesamtgesellschaft, so liegt es nahe, jeweils nach Subsystemen zu suchen, die sich auf die verschiedenen Funktionen spezialisiert haben. Auf den ersten Blick wären dann vielleicht das Rechtssystem für die Integration, die Politik für Zielerreichung, Familie und Schule für die Erhaltung der grundlegenden Orientierungsmuster und die Wirtschaft für die Anpassung an die Umwelt zuständig. So einfach liegen die Dinge aber nicht. Es lohnt sich indessen hier nicht, den Vorstellungen Parsons weiter nachzugehen, um mit ihrer Hilfe die Funktionen des Rechts zu bestimmen (vgl. §·45 VIII). Denn im deutschen Sprachraum hat die Systemtheorie im Werk Niklas Luhmanns (1927-1998) eine Weiterentwicklung erfahren, die speziell im Hinblick auf das Recht ausgearbeitet worden ist.

Im folgenden Abschnitt geht es zunächst um den »alten« Luhmann, das heißt um seine Systemtheorie vor der sog. autopoietischen Wende von 1984. Die Analysen des Rechtssystems, die Luhmann auf dieser Theoriestufe angeboten hat, sind immer noch interessant und empirisch sogar gehaltvoller als die späteren. Die wesentlichen Aussagen wurden bereits oben in § 9 wiedergegeben. Der folgende Abschnitt dient dazu, Luhmanns theoretische Ausgangsposition zu zeigen.

III. Grundzüge der funktional-strukturellen Systemtheorie

Die strukturell-funktionale Systemtheorie in der Fassung von Merton und Parsons fragt nach der Funktion bestimmter Strukturen für die Stabilität von Systemen. Die funktional-strukturelle Theorie von Luhmann fragt noch grundsätzlicher nach der Funktion von Systemen überhaupt. Ihr Ausgangspunkt ist die Komplexität der Welt und die Kontingenz aller ihrer Strukturen. Welt in diesem Sinne ist die Gesamtheit aller überhaupt vorstellbaren Ereignisse oder Zustände. Diese Welt ist unfassbar und unbestimmt. Sie ist, wie Luhmann sagt, unendlich komplex. Realität gewinnt die Welt nur dort, wo sie in Systemen Gestalt angenommen hat. Systeme bilden sich durch die Stabilisierung einer Differenz von innen und außen. Wo ein Etwas von einer Umwelt unterschieden werden kann, kann man von einem System sprechen. Das gilt für soziale Systeme ebenso wie für organische und mechanische. Für jedes System ist aber denkbar, dass an seiner Stelle ein anderes oder gar keines stünde. Insofern ist die Wirklichkeit nur eine Auswahl aus vorstellbaren Möglichkeiten, die auch anders hätte ausfallen können; sie ist, wie Luhmann es nennt, kontingent. Beispiel: Wenn man sich eine Landkarte Europas ansieht, so gliedert sich der Erdteil durch die Ländergrenzen in überschaubare Einheiten. Der Betrachter kann sich aber stets auch vorstellen, dass diese Grenzen anders hätten gezogen werden können als tatsächlich geschehen, ja sogar, dass der ganze Erdteil in Laufe der Erdgeschichte eine andere Gestalt hätte annehmen können.

Bei jedem Entwicklungsstand der Gesellschaft strömen auf den Menschen aus seiner Umwelt mehr Signale ein, als er zu verarbeiten imstande ist. Die Weltkomplexität muss daher auf ein Ausmaß reduziert werden, an dem menschliches Erleben und Handeln sich orientieren kann. Dazu verfügen Menschen über die eigentümliche Fähigkeit der Sinnbildung. Soziale Systeme sind nichts anderes als intersubjektiv konstituierte Sinngebilde, die abgrenzbar sind von einer nicht dazugehörigen Umwelt. Sinnbildend wirken zunächst Kontinuitätserwartungen, die an andere Menschen ebenso gestellt werden wie an die Natur. Sie bilden selektive Strukturen, und soweit diese sinnhaft aufeinander verweisen und dadurch in ihrem Zusammenhang abgrenzbar sind von einer nicht dazugehörigen Umwelt, bilden sie ein soziales System. Das Besondere sinnbildender Systeme liegt darin, dass Sinn die Komplexität der Welt reduziert und zugleich erhält. Sinnbildung bedeutet Auswahl aus anderen Möglichkeiten, ohne die nicht gewählten zu vernichten. Die nicht realisierten Möglichkeiten bleiben als denkbare Alternativen existent und können bei Bedarf aktualisiert werden. Vor ihrem Hintergrund erscheinen alle Systemstrukturen als kontingent. Im Beispiel der politischen Landkarte liefert die Idee des modernen Nationalstaats den systembildenden Sinnbezug. Jeder kann sich aber nicht nur einen anderen Grenzverlauf vorstellen, sondern auch eine völlig andere politische Ordnung Europas, etwa einen europäischen Gesamtstaat oder ein in Ost und West geteiltes Europa.

Soziale Systeme sind sinngemäß zusammenhängende Handlungen. Daher sind Menschen selbst weder Teil noch Mitglied sozialer Systeme, sondern als Person und Rollenträger gehören sie zur Umwelt sozialer Systeme. In der Regel ist jede Person als Träger mehrerer Rollen auch Teil der Umwelt mehrerer Sozialsysteme. Nur im Extremfall der sogenannten totalen Institutionen (§·49, 1exxx), z. B. eines Klosters oder einer psychiatrischen Anstalt, wird kann die ganze Persönlichkeit von einem einzigen Sozialsystem erfaßt werden.

Die Grenzen sozialer Systeme werden von Luhmann nicht analytisch gezogen, sondern müssen von Menschen empirisch erlebbar sein. Die Systemtheorie ist grundsätzlich frei in der Wahl ihrer Systemreferenz. Aber es gibt doch drei Schwerpunkte systemtheoretischer Soziologie, nämlich einfache Interaktionssysteme, Organisationssysteme und Gesellschaftssysteme. Für den Bereich der Rechtssoziologie kommen Verlaufs- oder Verfahrenssysteme hinzu.

Die grundlegenden Bezugsprobleme für eine funktionale Analyse sozialer Systeme ergeben sich aus dem Gesichtspunkt der Innen-Außendifferenz. Daraus resultiert nach innen das Problem der Integration und nach außen das Problem der Anpassung. Sie bilden die allgemeinsten Gesichtspunkte soziologischer Analyse. Die Frage lautet also: Welchen Beitrag (Funktion) leistet ein bestimmtes Element des Systems für dessen innere Stabilisierung und für seinen Austausch mit und sein Überleben in der Umwelt? Unter Funktion versteht Luhmann dabei nicht mehr eine zu bewirkende Wirkung, sondern eine abstrahierte Problemstellung, unter der alternative Problemlösungen als Äquivalente erscheinen. Dem Struktur-Funktionalismus bereitete es Schwierigkeiten, dass ein Strukturelement mehrere Funktionen haben (Multifunktionalität) oder dass eine Funktion durch mehrere Strukturen erfüllt werden kann (Äquifinalität). Die funktional-strukturelle Theorie macht aus dem Problem eine Methode.

Malinowski wollte z. B. den Regentanz der Hopi-Indianer damit erklären, dass dieser das Solidaritätsbedürfnis der Gruppe befriedige und gefährliche Umweltsituationen ertragbar mache. Luhmann könnte den Regentanz vielleicht mit der Liturgie der katholischen Kirche oder den stalinistischen Säuberungen vergleichen, die als äquivalente Lösungen des gleichen Bezugsproblems erscheinen, nämlich nach außen des Problems der Anpassung der Gruppe an eine komplexe und veränderliche Umwelt und nach innen des Problems der Integration.

Ein System muss sich laufend mit seiner Umwelt auseinandersetzen. Es muss die Vielzahl der Umwelteinwirkungen erfassen und verarbeiten (und sei es durch Passivität), oder in der Sprache der Systemtheorie, Umweltkomplexität reduzieren. Für die Erfassung und Reduktion von Komplexität verfügen Systeme über verschiedene Strategien. Eine wichtige Strategie der Komplexitätsreduktion ist die systeminterne Wiederholung der Systembildung (Differenzierung). Eine andere wäre die Zulassung von Konflikten im System, eine dritte die Verteilung der Reduktionsleistung auf Struktur und Prozess

1)   Differenzierung

Das System teilt sich intern, speziellen Umweltanforderungen entsprechend, in Subsysteme auf und verlagert so die Probleme der Umwelt nach innen. Dabei ist zwischen funktionaler und segmentärer Differenzierung zu unterscheiden. Von funktionaler Differenzierung wird gesprochen, wenn sich Untersysteme auf die Lösung bestimmter Probleme spezialisieren. Segmentäre Differenzierung bedeutet dagegen die Wiederholung gleichartiger Systemeinheiten. So hat sich das System der Justiz in Deutschland im Laufe Zeit entsprechend der wachsenden Komplexität des Rechts in fünf Gerichtsbarkeiten funktional spezifiziert. Zugleich ist es segmentär in ein flächendeckendes Netz gleichartiger Gerichtseinheiten gegliedert. Die Binnendifferenzierung der Justiz ist so perfekt, dass es kaum (Zuständigkeits-)Konflikte gibt. Anders liegt es bei dem System der politischen Parteien, die nur ganz grob differenziert sind, die auf sie zukommenden Anforderungen aber in (zugelassenen) Konflikten verarbeiten können.

Der besondere Vorteil der segmentären Differenzierung liegt in einer relativen Resistenz gegenüber der Umweltbedrohung; das Gesamtsystem kann fortbestehen, auch wenn Teile zerstört werden. Die deutsche Justiz blieb funktionsfähig, auch nachdem die Ostgebiete und die sowjetische Besatzungszone abgetrennt waren. Die funktionale Differenzierung bildet die empfindlichere Form der systeminternen Differenzierung. Sie bringt aber eine Art dynamische Stabilität, denn Umwelteinwirkungen gefährden nicht länger das System als Ganzes, weil sie isoliert, weitergeleitet, verkleinert und schließlich aufgefangen werden können. Optimal wäre ein System, das die Komplexität seiner Umwelt möglichst adäquat in seiner internen Differenzierung abbildete, das also für jedes von außen herankommende Problem über ein darauf spezialisiertes Subsystem verfügte. Aber dieser Zustand ist nicht erreichbar. Die Komplexität der Umwelt ist keine fixe Größe, denn mit jeder Differenzierung schafft sich das Gesamtsystem eine neue, sozusagen interne Umwelt und setzt zugleich für andere Systeme neue Umweltdaten. Man kann auch sagen, jede Problemlösung schafft Folgeprobleme, die gelöst werden müssen; so z. B. die Differenzierung des Gerichtssystems die Notwendigkeit von Zuständigkeitsregelungen sowie einen höheren Bedarf an Rechtsberatung. Insofern ist die Systemtheorie bei Luhmann wie bei Parsons Evolutionstheorie (§·93 III, 1).

Je höher das Differenzierungsniveau, desto kritischer wird der Bestand der Gesamtordnung. Die funktionelle Interdependenz aller Subsysteme erfordert daher eine bessere Ausnutzung der von den zahlreichen Subsystemen erbrachten Selektionsleistungen. Die notwendige Sinnübertragung quer über alle Systemgrenzen hinweg übernehmen besondere Kommunikationsmedien, die als symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien bezeichnet werden. Als wichtigste nennt Luhmann Wahrheit, Macht, Liebe und Geld, gelegentlich auch das Recht. »Die Einheit der Gesellschaft drückt sich in der funktionalen Äquivalenz, ihre Differenziertheit in der Unterschiedlichkeit dieser Kommunikationsmedien aus.« (Wirtschaft als soziales System, Soziologische Aufklärung 1, 1970, 204-231, S. 213).

2)  Struktur und Prozess

Eine weitere Möglichkeit zur Reduktion von Komplexität ergibt sich aus der Verteilung dieser Leistung auf Struktur und Prozess. Struktur und Prozess sind zwei fundamentale Reduktionsstrategien für Komplexität. Struktur ist der erste und allgemeinere Sinnentwurf, durch den die Ungewissheit der Welt auf ein engeres, dem Zeithorizont und der Bewusstseinskapazität des Menschen angepasstes Volumen reduziert wird. Was die Struktur noch an Komplexität hindurchlässt, muss weiter im Prozess abgearbeitet werden.

Die Verteilung der Reduktionsleistung auf Struktur und Prozess wird besonders deutlich in einfachen Interaktionssystemen. Solche Interaktionssysteme sind dadurch definiert, dass sich Anwesende wechselseitig wahrnehmen. Beispiele sind das gemeinsame Mittagessen in einer Familie (nicht die Familie selbst), eine Gerichtssitzung (nicht das Gericht als solches) oder eine Schlägerei. Man spricht von Face-to-face-Situationen oder Encounters. Die meisten Interaktionen beginnen mit großen Strukturvorgaben. Als Beispiel denke man sich, wie der Krankenbesuch eines Pfarrers oder eine Gerichtsverhandlung durch vorgegebene Rollen strukturiert ist. Aber es bleibt in jeder Situation mehr oder weniger Spielraum, der in einem Prozess der Erwartungsbildung abgearbeitet werden muss. Für diesen Prozess sind zwei situative Komponenten bedeutsam: Das begrenzte Aufmerksamkeitspotential der Beteiligten und eine elementare Erwartung an die Konsistenz des Verhaltens. Aufmerksamkeit und Kommunikationsschancen sind knapp. Die Beteiligten müssen sich auf ein Thema konzentrieren. Anfangs kann jeder auf die Wahl und Entwicklung des Themas im Rahmen seiner persönlichen Fähigkeiten Einfluss nehmen. Aber nachdem die Interaktion einmal begonnen und ein Thema sich durchgesetzt hat oder in eine bestimmte Richtung gelenkt worden ist, ist im System nicht mehr alles möglich, was anfangs geschehen konnte. Wer jetzt das Thema noch ändern will, trägt wenigstens die Last der Begründung. Wer am Thema mitgearbeitet hat, hat sich für die Zukunft festgelegt. Der Angeklagte, der vor Gericht ein Geständnis abgelegt hat, kann nur noch unter besonderen Anstrengungen wieder davon abrücken. Und was noch wichtiger ist: Auch wer geschwiegen hat, hat sich gebunden. Sein Schweigen wird ihm als unterlassener Protest ausgelegt, wenn er stattdessen mitwirken oder das System hätte verlassen können.

3)  Generalisierung von Erwartungen

Die Selbstdarstellung in konkreten Situationen wirkt über die Situation hinaus und gibt anderen Situationen Struktur. Wer einmal eine Führungsrolle übernommen oder sich als Nichtraucher eingeführt hat, von dem erwartet, wer ihn kennt, ähnliches Verhalten in anderen Situationen. Damit Gesellschaft möglich wird, müssen Kontinuitätserwartungen aber in einer viel grundsätzlicheren Weise über einfache Interaktionssysteme hinaus Geltung erhalten, mögen sie auch in Interaktionen ihren Anfang genommen haben und dort ständig neu konkretisiert und verändert werden. Diese Generalisierung von Erwartungen ist in drei Dimensionen denkbar, nämlich in sachlicher oder thematischer, in zeitlicher und in sozialer Hinsicht.

Sachliche Generalisierung: Über eine konkrete Situation hinaus kann eine Erwartung mit bestimmten Personen verbunden sein. Wer heute freundlich zu mir war, wird morgen vermutlich nicht unfreundlich sein. Von bestimmten Personen, mit denen einen Menschen eine gemeinsame Geschichte verbindet, etwa von Eltern oder einem Freund, weiß er aus Erfahrung, was er zu erwarten hat. Derart konkret begründete Erwartungen lassen sich aber nicht über den Bereich der Kleingruppe hinaus verallgemeinern. Der Abstraktionsgrad und damit die Ordnungsleistung dieser Erwartungen ist gering. »Gesellschaft« kann sich erst entwickeln, wenn Erwartungen sich nicht nur von konkreten Situationen, sondern auch von bestimmten Personen ablösen, indem sie zu Rollenerwartungen, zu Handlungs- oder Entscheidungsnormen oder ganz abstrakt zu Werten werden.
Wenn sich zwei Unbekannte in der Kneipe treffen, zusammen ins Gespräch kommen und der eine Runde ausgibt, dann entsteht vielleicht die Erwartung, dass der andere sich revanchiert. Diese Erwartung ist bloß aus der Situation begründet und in keiner Weise sachlich generalisiert. Zwei Freunde, die sich häufig sehen, haben dagegen aneinander bestimmte Erwartungen, die jeweils an der Persönlichkeit des anderen festgemacht und damit schon über die konkrete Situation hinaus generalisiert sind. Die nächste Stufe der Abstraktion ist der Übergang zur sozialen Rolle. Als weitere Stufen der Generalisierung nennt Luhmann »Programme« und Werte (RS S. 88 ff.).

»Rollen sind Erwartungsbündel, die dem Umfang nach dadurch begrenzt sind, dass ein Mensch sie ausführen kann, die aber nicht auf bestimmte Menschen festgelegt sind, sondern durch verschiedene, möglicherweise wechselnde Rollenträger übernommen werden können. Durch die Identität der Rolle werden Erwartungen von Person zu Person übertragbar. Dadurch wird ein gewisser Abstraktionsgewinn erreicht, andererseits aber das Erwartungsrisiko erhöht. Die Identität des persönlich bekannten Menschen entfällt als Garant des Erwartungszusammenhanges – d. h.: sie muß durch andere Garantien ersetzt werden. Die persönlich miteinander bekannten Bewohner eines Bergdorfes erwarten kraft dieser Bekanntschaft voneinander Hilfe in der Bergnot. Die Erwartung beruht nicht auf einer Rolle, vielmehr darauf, dass die Erwartenden sich in einer Vielzahl von Rollen immer wieder als dieselben Personen begegnen. Vom Bergführer erwartet man solche Hilfe, ohne ihn näher zu kennen -kraft Rolle. Die Sicherheit kommt hier aus der Institutionalisierung der Rolle, aus einem normativen Miterwarten Dritter, das ebenfalls nur an der Rolle, nicht an der individuellen Person orientiert. Und vielleicht besteht noch eine Organisation, ein Verein der Bergführer, der im gemeinsamen Berufsinteresse gewisse Funktionen der Auswahl und Überwachung ausübt und dessen Wirksamkeit man voraussetzt, wenn man sich auf ›Jemanden‹ als Bergführer verläßt.«

Generalisierung in der Sozialdimension: Institutionalisierung: Was Luhmann unter der Generalisierung von Verhaltenserwartungen in der Sozialdimension versteht, ist in § 62 IV als seine Lehre von der Institutionalisierung dargestellt worden: Die Herstellung von Konsens, oder jedenfalls von Konsensvermutungen, die für alle Mitglieder des sozialen Systems gelten. Dass Luhmann den Begriff der Institutionalisierung für diese Dimension der Generalisierung von Verhaltensnormen reserviert, ist ein willkürlicher Sprachgebrauch. Es hätte näher gelegen, auch die beiden anderen Dimensionen unter diesen Begriff mit einzuschließen.

Generalisierung in der Zeitdimension: Es gehört eigentlich schon zum Begriff eine Verhaltenserwartung, dass sie den Augenblick ihrer Entstehung überdauert und damit eine zeitliche Ausdehnung hat. Eine besonders wirkungs- und voraussetzungsvolle Steigerung erreicht die zeitliche Generalisierung jedoch in der Gestalt normativer Erwartungen. Dieser Teil von Luhmanns Theoriegebäude ist in § 42 VI bei der Behandlung der sozialen Norm dargestellt worden.

Den Übergang zum Recht findet Luhmann auf folgende Weise: Man könne nicht erwarten, dass Erwartungen stets in allen drei Dimensionen generalisiert würden. Es könnten daher verschiedene nicht vereinbare Erwartungen generalisiert werden, die sich gegenseitig behinderten und störten. Solche Inkongruenzen bildeten ein Strukturproblem der Gesellschaft, und im Hinblick auf dieses Problem habe das Recht seine gesellschaftliche Funktion. Die Funktion des Rechts liegt in der Auswahl von Verhaltenserwartungen, die sich in allen drei Dimensionen generalisieren lassen und die dadurch dem sozialen System eine feste Struktur geben. Die in diesem Sinne »kongruent generalisierten normativen Verhaltenserwartungen« nennt Luhmann das »Recht eines sozialen Systems«. Leider macht er die Begriffsbildung dadurch schwieriger als notwendig, denn er verwendet hier einen anderen, weiteren Rechtsbegriff als in anderen Zusammenhängen, wo er das Recht als Teilsystem der Politik bestimmt, mithin einen staatlichen Rechtsbegriff benutzt.

4) Reflexive Mechanismen

Die Selektivität der Struktur sozialer Systeme erfährt durch ihre Generalisierung zu sozialen Normen eine entscheidende Verstärkung. Eine ähnliche Verstärkung der Selektivität der in Systemen ablaufenden Prozesse wird erreicht, wenn diese Prozesse auf sich selbst angewandt und damit reflexiv werden. Reflexive Mechanismen in diesem Sinne sind z. B. das Lernen des Lernens, das Entscheiden über Entscheidungen oder die Methodenlehre der Wissenschaft. Im Prozess der funktionalen Differenzierung erweisen sich die reflexiven Mechanismen als evolutionary universals. Wo sie erreichbar sind und stabilisiert werden können, sind Systeme in der Lage, ihre eigene Komplexität in ein günstigeres Verhältnis zur Umwelt zu bringen und dadurch ihre Überlebensaussichten zu vergrößern. Ein reflexiver Mechanismus in diesem Sinne ist auch im Bereich der sozialen Normen anzutreffen und wird von Luhmann besonders eingehend analysiert: Das Erwarten von Erwartungen. Ein anderer verbirgt sich hinter der Positivierung des Rechts: Das Entscheiden über Entscheidungen.

Aus der Austauschtheorie kennen wir die Komplementarität der Erwartungen von Ego und Alter als selektive Struktur des Handlungssystems (§·26 III). Luhmann hält dieses Konzept für zu simpel: Es genügt nicht, dass Ego von Alter ein bestimmtes Verhalten erwartet und umgekehrt. Ego muss auch einschätzen können, was sein eigenes Verhalten für Alter bedeutet. Darüber hinaus werden sogar noch weitere Stufen der Reflexivität bedeutsam, also Erwartungen von Erwartungserwartungen. Dazu das bereits bekannte Beispiel von Spittler zur Sanktionsqualität von Nachteilen (§·43 IV,1) in der Interpretation Luhmanns: Wenn die Ehefrau abends stets kaltes Essen auf den Tisch bringt und erwartet, dass ihr Mann dies erwartet, muß dieser seinerseits diese Erwartungserwartung erwarten können. Er würde sonst nicht erkennen, dass er mit einem unerwarteten Wunsch nach warmer Suppe nicht nur Ungelegenheiten bereitet, sondern außerdem auch die auf ihn bezogene Erwartungssicherheit seiner Frau unterminiert. Wer fremde Erwartungen erwarten kann, kann die erforderliche Verhaltensabstimmung intern vollziehen, d. h. weitgehend ohne zeitraubende und störanfällige Kommunikation. Er kann höhere Kontingenz und höhere Komplexität auf abstrakterem Niveau erleben. Er kann eine möglichkeitsreichere Umwelt haben und trotzdem enttäuschungsfreier leben. Sicherheit im Erwarten von Erwartungen ist unentbehrliche Grundlage aller Interaktionen und sehr viel bedeutsamer als die Sicherheit von Erwartungen selbst (RS S. 39). Im Bewusstsein der Beteiligten erscheinen solche reflexiven Verhaltensabstimmungen in der Regel allerdings nicht als solche, sondern als anonyme Soll-Regeln oder Normen: Man soll dies oder jenes. Das Sollen ist lediglich eine Abkürzung für die Reflexivität von Erwartungen.

Luhmann erhebt mit dieser Erklärung den Anspruch, die Differenz von Sein und Sollen und damit das Werturteilsproblem (vgl. § 18) vollständig in soziale Tatsachen aufzulösen. Tatsächlich hat er das Problem aber nur in das Persönlichkeitssystem verlagert, wo es auch hingehört. Das reflektierende Individuum steht in jeder Handlungssituation auf der Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft. Es steht vor der Notwendigkeit der Entscheidung, die sich aus der gerade auch von Luhmann so betonten Kontingenz aller sozialen Normen ergibt. Wer diese Kontingenz reflektiert, muss sich wertend entscheiden. Es hilft ihm wenig, dass der Soziologe seine Entscheidung ex ante prognostizieren oder ex post kausal erklären könnte. Schon eher hilft es ihm, wenn der Soziologe die möglichen Alternativen der Entscheidung und ihre unterschiedlichen Folgen darstellt. Aber die Entscheidung selbst kann er ihm letztlich nicht ersparen.

IV.   Die Theorie autopoietischer Systeme

Literatur: Hejl, Die Theorie autopoietischer Systeme, Rechtstheorie 13, 1982, 45ff.; Luhmann, Soziale Systeme, 1984; The Self-Reproduction of Law and its Limits, in: Teubner, Dilemmas of Law in the Welfare State, 1986, 111 ff.; ders., Einige Probleme mit reflexivem Recht, ZfRSoz 6, 1985, 1 ff.; Maturana, Die Organisation lebender Systeme, in: ders., Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, 1982; Francisco Varela, Principles of Biological Autonomy, 1979.

Die Systemtheorie Luhmanns will eine universale Theorie des Lebens in der Welt sein, nicht bloß Gesellschaftstheorie oder gar nur eine Theorie des Rechts. Das systemtheoretische Konzept von Leben heißt Autopoiese. Etwa ab 1984 hat Luhmann seine Theorie dazu umgestellt. Man spricht von seiner autopoietischen Wende.

Luhmann macht seine »autopoietische Wende« in dem Buch »Soziale Systeme« von 1984. In der Folgezeit hat er seine Theorie noch vielfach verfeinert und auf dieser Basis jedem der von ihm unterschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme und auch der Gesellschaft als ganzer jeweils eine Monographie gewidmet. Die Anwendung der Theorie auf das Rechtssystem wird in § 70 dargestellt.

Die ältere struktur-funktionale Systemtheorie konzentrierte sich auf das Zusammenwirken der verschiedenen Strukturelemente eines Systems nach dem Motto: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Für die jüngere funktional-strukturelle Systemtheorie stehen die Austauschbeziehungen zwischen System und Umwelt im Vordergrund. Es geht also um die Frage, wie ein System in einer unübersehbaren und nicht beherrschbaren (= komplexen) Umwelt überdauern kann, wie sich die Einflüsse und Anforderungen dieser Umwelt in bestimmten Systemstrukturen niederschlagen, oder wie das System den Input, den es aus seiner Umwelt aufnimmt, intern verarbeitet und als Output an die Umwelt zurückgibt (wie z. B. das Justizsystem Gesetze und Verordnungen, Anträge und Klagen, private und öffentliche Meinungen zu Entscheidungen transformiert). Im Hinblick auf diese Austauschvorgänge mit der Umwelt ist das System offen. Die autopoieteische Version der Systemtheorie kehrt zu der Vorstellung von geschlossenen Systemen zurück. Ihre zentrale These lautet: Systeme produzieren und reproduzieren ihre eigenen Elemente durch Interaktionen eben dieser eigenen Elemente. Deshalb werden sie autopoietisch (= selbstreproduzierend) oder selbstreferentiell (= selbstbezüglich) genannt.

Das Konzept der autopoietischen Systemtheorie geht zurück auf die chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela. Ihre These ist, dass alle lebenden Systeme in sich geschlossene Handlungs- oder Wirkungszusammenhänge seien. Die Annahme, solche Systeme seien ihrer Umwelt gegenüber offen, beruht ihrer Meinung nach auf der Perspektive eines außenstehenden Beobachters, der sich zu erklären versucht, wie lebende Systeme sich verändern. Maturana und Varela dagegen wollen die innere Logik des Systems erklären. Diese sei durch Autonomie und Selbstbezüglichkeit gekennzeichnet, Eigenschaften, die dem System zur Erhaltung seiner Identität und zur Selbsterneuerung verhelfen.

Wie kann man sich Systeme derart als autonom und geschlossen vorstellen? Maturana und Varela betonen, jede Interaktion des Systems mit seiner Umwelt sei tatsächlich nur eine Reaktion auf eine systeminterne Repräsentation dieser Umwelt und bleibe damit innerhalb des Systems selbst. Das System macht sich sozusagen selbst ein Bild seiner Umwelt, und nicht die Umwelt selbst, sondern deren interne Abbildung ist es, auf die es nach Maßgabe seiner eigenen Möglichkeiten reagiert. Dadurch soll es möglich sein, dass sich Systeme aus sich selbst heraus identisch erhalten und sogar erneuern. Es mag auf sich beruhen, ob die Fähigkeit, sich aus sich selbst heraus zu erneuern oder zu vermehren, wie sie bei organischen Systemen etwa durch Zellteilung erfolgt, auch für soziale Systeme in Betracht kommt. Soziologisch relevant ist aber der Gesichtspunkt der Selbstbezüglichkeit, der besagen soll, dass soziale Systeme nicht nach dem Modell von Reiz und Reaktion auf Umwelteinflüsse reagieren, sondern Umwelteinflüsse nur nach Maßgabe ihrer eigenen Binnenstruktur verarbeiten.

Eine solche Betrachtungsweise kann durchaus erhellend sein. Man kann sich etwa eine Firma vorstellen, die sich als Maschinenfabrik versteht, und fortfährt, konventionelle Werkzeugmaschinen herzustellen, ohne die Fortschritte der Mikroelektronik zur Kenntnis zu nehmen. Wenn diese Firma vom Markt verdrängt worden ist, wird man rückblickend sagen, dass eine Maschinenfabrik den Wandel der Technik von der Mechanik zur Elektronik hätte wahrnehmen und darauf reagieren müssen. Tatsächlich sah die Firma ihre Umwelt, den Markt, aber nur aus ihrem Selbstverständnis als Maschinenfabrik und war deshalb zu einer Umstellung der Produktion nicht in der Lage. Übertragen auf Recht kann man vielleicht von einer bestimmten Juristengeneration sagen, dass sie ganz im Sinne eines positivistischen Subsumtionsideals ausgebildet war und von diesem Selbstverständnis als »bouche de la lois« gar nicht fähig war, den politischen Gehalt und die gestaltenden Möglichkeiten ihrer Tätigkeit wahrzunehmen und auszuschöpfen.

Bei so kleinteiligen Überlegungen – die hier zunächst nur zur Illustration dienen – bleibt die Systemtheorie nicht stehen. Sie packt viel grundsätzlicher an. Für die Rechtssoziologie folgt aus der autopoietischen Geschlossenheit des Rechtssystems die Autonomie des Rechts gegenüber den anderen Teilsystemen der Gesellschaft. Was das bedeutet und was daraus im Detail folgt, wird in dem folgenden § 70 erörtert.

Luhmann auf benutzt diese Theorie unter anderem dazu, um darzulegen, warum Soziologie und Rechtswissenschaft nicht zueinander kommen können. Jede Wissenschaft könne als selbstreferentielles System nur in den ihr eigenen Bezügen argumentieren. Die Soziologie könne deshalb gar nicht anders, als das Recht von außen zu betrachten. Der juristische Prozess als solcher sei ihr nicht zugänglich. Ob man zu solchen Erklärungen allerdings eine Theorie autopoietischer Systeme benötigt, ist doch sehr zweifelhaft. Der Unterschied zwischen Rechtswissenschaft und Soziologie lässt sich noch immer sehr viel schlichter vor dem Hintergrund des Werturteilsproblems verdeutlichen (§ 18).

Davon abgesehen kann man den Standpunkt des externen Beobachters nicht völlig abstreifen. Die definitionsgemäß geschlossenen Systeme sollen doch insofern wieder offen sein, als sie innere Modelle der Außenwelt entwickeln. Es entsteht deshalb unweigerlich die Frage, warum die Innenrepräsentation der Außenwelt so oder so ausfällt. Damit wird die Geschlossenheit des Systems wieder verlassen. Diese Theorie leistet genau das, was früher Hegels Dialektik vollbrachte. Man kann je nach Bedarf die eine oder die andere Seite, Geschlossenheit oder Offenheit, hervorkehren. Nicht ohne Grund wird ihr daher vorgeworfen, sie sei hochabstrakt, vage und interpretationsfähig.

Wichtiger erscheint eine andere Stoßrichtung dieser Theorieentwicklung. Bei aller Komplexität blieben systemtheoretische Modelle doch zunächst mechanisch. Wollte man sie mathematisch beschreiben, würde man wohl, ähnlich wie in der klassischen Physik oder in den Wirtschaftswissenschaften, auf lineare Gleichungssysteme zurückgreifen. Es zeigt sich jedoch, dass sich historische und soziale Prozesse nicht immer allmählich, also linear, vollziehen. Vielmehr können stabil erscheinende Ordnungen oft innerhalb kürzester Frist in mehr oder weniger allen Bereichen zusammenbrechen, bis dann nach einer mehr oder minder chaotischen Zwischenstufe eine neue Ordnung entsteht. Solche dramatischen Änderungen lassen sich physikalischen Phasenübergängen vergleichen, also etwa dem Übergang vom festen zum flüssigen Zustand und umgekehrt oder vom Para- zum Ferromagnetismus. Ihnen ist gemeinsam, dass bei allmählicher Veränderung einer Größe, etwa der Temperatur, die man Kontrollparameter nennt, plötzlich eine neue Struktur oder Ordnung auftritt, die sich durch die spontane Änderung einer anderen, Ordnungsparameter genannten Größe beschreiben läßt. Unter bestimmten Voraussetzungen kann so eine Größe das kollektive Verhalten eines ganzen Systems bestimmen.

Tatsächlich ist es ein wichtiges Anliegen der neueren Systemtheorie, die Vorstellung einer linearen Kausalität durch ein Modell wechselseitiger und oft auch kreisförmiger Steuerung zu ersetzen. Dazu dient die Vorstellung von positivem oder negativem Feedback, von Schleifen und Kreisläufen. Solche Schleifen können dazu führen, dass ein System auf bestimmte Signale mit unerwarteten (kontraproduktiven) Antworten reagiert oder gar, dass sich Trendänderungen zu einer kritischen Größe verstärken, die ganz neuartige gesellschaftliche Strukturen entstehen läßt. Hier liegt ein neuer Ansatz zur Erklärung der kontraintuitiven oder perversen Effekte, mit denen soziale Systeme auf Steuerungsversuche oder sonstige Anforderungen ihrer Umwelt oft reagieren.

V.  Warum ist Luhmann so bedeutend?

In den 1950er und 60er Jahren hatten sich mehr oder weniger alle, die nicht in das marxistische Lager gewechselt waren, auf Empirie gestürzt. Empirische Forschung zeigt jedoch immer nur kleine Ausschnitte der Gesellschaft. Sie kann nicht das Ganze in den Blick nehmen. Das aber möchte eigentlich jeder, ob Laie oder Wissenschaftler. Luhmann bietet nun eine Großtheorie, die genau das zu leisten verspricht. Durch den Zuschnitt der Systeme kann sie Teile der Welt, die den jeweiligen Betrachter besonders interessieren, in den Blick nehmen und zu anderen Teilen und zum Ganzen in Beziehung setzen. Die marxistische Theorie war in dem Sinne »holistisch«, dass sie für alles eine Erklärung anbot – und damit war sie zum Scheitern verurteilt. Luhmann erklärt uns gerade umgekehrt, warum wir nicht alles wissen müssen und können. Damit hat er seine Theorie, ohne sich auf lange Erörterungen einzulassen, wissenschaftstheoretisch abgesichert. Er umgeht das Problem der Fundamentalphilosophie, die Frage nämlich: wo findet Wissenschaft einen sicheren Anfang der Erkenntnis, ohne in einen immer neuen Regress zu verfallen, indem er Rekursivität zu einem zentralen Theoriebaustein macht. Alle Aussagen sind solche eines Beobachters, der Unterscheidungen trifft. Der Beobachter kann sich selbst aber beim Beobachten nicht beobachten und deshalb nicht alles wissen. Daraus folgt ein radikaler Konstruktivismus. Rekursivität gibt es aber auch auf der Systemebene, denn Systeme konstituieren sich selbst, indem sie die Elemente, aus denen sie sich zusammensetzen, aus den Elementen ableiten, aus denen sie bestehen. Die daraus resultierend Geschlossenheit der Systeme hat zur Folge, dass man nicht alles wissen kann. Denn über die Systemgrenzen hinaus gibt es keine einfachen Ursache-Wirkungsbeziehungen (sondern nur »strukturelle Kopplungen«). Die Definition der Systemgrenzen gelingt Luhmann allerdings nur deshalb so gut, weil er ein großartiger Beobachter ist.

Luhmanns Theorie ist ebenso wie diejenige von Marx eine Entwicklungstheorie. Doch anders als bei Marx ist die Evolution bei Luhmann nicht gerichtet und sie kennt schon gar keinen Fortschritt. Sie lässt sich deshalb mit der aktuellen Großtheorie für die Entwicklung des Lebens, der darwinistischen Evolutionstheorie, mindestens parallelisieren. Und nicht zuletzt: An intellektuellem Format ist Luhmanns Theorie der marxistischen ebenbürtig. Auf eine solche Theorie hatten viele gewartet.

VI.  Was macht das Verständnis der Systemtheorie so schwierig?

In erster Linie die Sache selbst. Die Theorie will die ungeheure Komplexität der Welt in den Griff bekommen, und deshalb kann sie nicht einfach sein. Mir hat neben der Figur der »strukturellen Kopplung« Luhmanns Vorliebe für Paradoxien Verständnisschwierigkeiten bereitet.

Davon einmal abgesehen ist das Verständnis schwieriger als es sein müsste, weil die Theorie oft in eine übertrieben komplizierte Sprache verpackt wird. Luhmann selbst schreibt allerdings bemerkenswert klar. Bei ihm ist nur das Problem, dass er so viel geschrieben hat, so dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll und wo man aufhören kann. Seine Anhänger dagegen bedienen sich nicht selten einer Kunstsprache die an den Beerdigungsunternehmer von Goffmann erinnert.

VII.  Und warum gehe ich auf Distanz?

Wie immer, kann eine Kritik grundsätzlich oder am Detail ansetzen. Am Detail habe ich nicht viel zu kritisieren. Luhmann ist einfach gut. Grundsatzkritik dagegen ist billig. Jedes große Theoriegebäude ruht auf letztlich unbewiesenen und unbeweisbaren Voraussetzungen. Man muss nur danach suchen, und wenn man nichts Besseres findet, kann man den Autor oder seine Theorie ja immer noch unter Ideologieverdacht stellen

So musste sich Luhmann oft gefallen lassen, in die konservative Ecke gestellt zu werden. Aber das ist kein adäquates Diskussionsniveau, obwohl es durchaus richtig wäre zu sagen, dass seine Theorie die Erforschung der sozialen Ungleichheit nicht vorangebracht hat. Ich verstehe Luhmanns Theorie (nach einem Vorschlag von Frank Welz[1]) als eine Fortsetzung der Phänomenologie Husserls. Luhmann supendiert alle ontologischen Fragen, Fragen also nach Raum und Zeit, dem Wesen der Dinge und des Menschen. Es sagt einfach, »es gibt Systeme«[2], und konzentriert sich völlig auf die Frage: Wie beschreibe ich sie. Damit erhält, was er beschreibt, den Charakter einer bloßen Möglichkeit. Alle Differenzen werden der Welt von dem Beobachter eingeschrieben. Alle Grenzen, insbesondere auch die Systemgrenzen, sind letztlich bloße Definitionen. Damit hat Luhmann sich gegen jeden Fundamentalismusvorwurf abgesichert. Das Ergebnis ist blanker Konstruktivismus, und den trägt Luhmann auch überall zur Schau. Aber seine Theorie ist Luhmann nur deshalb so gut gelungen, weil er ein großartiger Beobachter war.

Luhmanns Theorie liefert für sich genommen keine neuen Erklärungen. Aber sie strotzt vor Realität und führt immer wieder zu überraschend neuen Sichtweisen, nicht bloß, wenn wir erfahren, dass Leinenzwang zwar nur für den Hund vorgeschrieben ist, dass dann aber auch der Herr an die Leine muss (RdG S. 341 f.). Der Anspruch dieser Theorie ist freilich ein anderer. Sie will die Evolution des Rechts erklären, wenn auch nicht in dem Sinne, »dass es so kommen musste«, so aber doch dahin, »dass es, obwohl unwahrscheinlich, so kommen konnte« (Gesellschaftsstruktur und Semantik, 1981, S. 49).

Bald drei Jahrzehnte haben Luhmanns Konstruktionen die deutsche Rechtssoziologie mehr oder weniger beherrscht, und noch immer halten ihm viele die Treue. Andere, darunter der Autor dieses Buches, gehen bei aller Bewunderung aber doch auf eine gewisse Distanz. Grund dafür sind vor allem zwei Bauelemente der Theorie, nämliche die Vorliebe für Paradoxien und das Konzept der Autopoiese und der daraus folgenden operativen Schließung der Systeme. Luhmann ist dafür kritisiert worden, wie er das Konzept von Maturana und Varela aus der Biologie in die Soziologie übernommen hat, wo es allein schon wegen der eher willkürlich gezogenen Systemgrenzen nicht passt. Die Vorstellung von der operativen Schließung der Systeme verbietet es, das Recht als Instrument des sozialen Wandels anzusehen. Die Evolution ist blind. Nichts ist vorhersehbar. Alles entwickelt sich anders als geplant. Dieser Standpunkt ist vergleichbar mit jener deterministischen Einstellung, die die Willensfreiheit verneint. Er ist für die Rechtssoziologie gleicher Weise irrelevant wie für die Jurisprudenz.

 


[1] Frank Welz, Niklas Luhmann’s Sociology of Law: A Critical Appraisal, in: Knut Papendorf u. a. (Hg.), Understanding Law in Society, 2011, S. 80-108.

[2] Soziale Systeme, 1984, 16.

[Stand der Bearbeitung Oktober 2011]