§ 4 Die italienischen und französischen Kriminalsoziologen

§ 1   Die italienischen und französischen Kriminalsoziologen

Schriften: Ferri, Das Verbrechen als soziale Erscheinung (dt. von Kurella) 1896; Garofalo, La Criminologia, 1885; von Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht (1882), in: ders., Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 1, 1905, S. 126 ff.; Lombroso, L’uomo delinquente, 1876, deutsch: Bd. 1, 1887, Bd. 2, 1890; Tarde, La criminalité comparée, 1882; ders., Les lois de l’imitation, 5. Aufl. 1907

Literatur: Mannheim (Hg.), Pioneers in Criminology, 1960; Mechler, Studien zur Geschichte der Kriminalsoziologie, 1970; Hellmuth Mayer, Strafrecht, 1953; ders., Strafrechtsreform für heute und morgen, 1962; Sutherland/Cressey, Principles of Criminology, 10. Aufl. 1978

I.                                 Die italienische Schule

Einer der Anfänge der Rechtssoziologie liegt in einem Bereich, der sich bald zu einer eigenen Wissenschaft entwickelt hat, nämlich in der Kriminologie. Der italienische Militärarzt Cesare Lombroso (1836-1909) hatte der Kriminologie zunächst einen rein biologischen Ansatz mitgegeben (vgl. § 16, 3). Lombroso meinte, in seinen Untersuchungen gewissermaßen den Verbrecher an sich gefunden zu haben. Dieser geborene Verbrecher sei von Geburt an zum Verbrecher prädestiniert und werde wegen der angeborenen seelischen Anomalien, die körperlich bedingt seien, zum unverbesserlichen Verbrecher, selbst unter günstigen sozialen Lebensbedingungen. Lombroso sah im Verbrecher einen atavistischen, mit Stigmata versehenen Menschentypus. Später revidierte er seine Auffassung insoweit, als er diese Kriterien nur noch bei etwa einem Drittel der Straftäter annahm und daneben auch physikalische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Faktoren als Ursachen des Verbrechens akzeptierte.

Lombroso war auch nach zeitgenössischen Maßstäben ein Dilettant, der aber sehr anregend gewirkt hat. Die Lehre des Mediziners Lombroso wurde schon bald von dem Juristen Enrico Ferri, seinem Freund und Schüler, relativiert. Ferri führte den von Lombroso eingeleiteten Prozess der Differenzierung fort, indem er zusätzlich soziale Faktoren als Verbrechensursachen berücksichtigte. 1892 schrieb er eine »Sociologia criminale«. Erwähnung verdient sein Gesetz von der kriminellen Sättigung. Danach kommt es in einem bestimmten Milieu unter bestimmten individuellen und sozialen Bedingungen zur Begehung einer bestimmten Zahl von Verbrechen.

Der italienische Staatsanwalt Garofalo schrieb 1885 als erster ein Buch mit dem Titel »Kriminologie.« Er sah bereits die Schwierigkeiten, die für die Kriminologie aus der Normabhängigkeit des Verbrechens erwachsen und versuchte, diesen Schwierigkeiten durch die Schaffung eines von Ort und Zeit unabhängigen sogenannten natürlichen Verbrechens zu begegnen. Mit Normabhängigkeit des Verbrechens ist gemeint, was man heute auch als Relativität des normabweichenden Verhaltens bezeichnet. Der Strafrechtler Hellmuth Mayer hat diesen Sachverhalt sehr plastisch so beschrieben:

»Die Variabilität ist so groß, dass es kein Verbrechen gibt, dass nicht in irgendeiner Sozialordnung in einem bestimmten Handlungszusammenhang sittliche oder rechtliche Pflicht gewesen wäre (1962, S. 13) … In ursprünglichen Verhältnissen ist vielfach die Tötung von alten Leuten und überzähligen Neugeborenen erlaubt. Vor tausend Jahren waren die Tötung in Rache und Fehde auch bei uns noch pflichtmäßige Handlung, und die Isländersagen berichten, dass dort die Rache meist in der Form hinterlistigen Mordes durchgeführt wurde. Bei den Kopfjägern gilt eine Anzahl sinnloser Tötungen als Nachweis für die soziale Brauchbarkeit. Aber auch der europäische Kulturmensch verliert mitunter seine relativ friedliche Haltung – nicht nur in eigentlichen Kriegshandlungen – wie es sich ebensowohl in der Jakobinerherrschaft Frankreichs als im Deutschland Hitlers gezeigt hat. So erklärt sich die Zweikampfsitte oder der politische Mord oder, dass die Abtreibung, welche doch auch eine Tötungshandlung ist, vielfach als natürliches Recht am eigenen Körper propagiert wird. Die Wegnahme des Überflusses gilt manchen Naturvölkern nicht als Diebstahl. Aber auch in der modernen Welt kann die private Wegnahme angeblichen Überflusses oder die private Enteignung angeblicher Schädlinge (z. B. der Juden, der Nazis, der Kriegsverbrecher, der Junker) als erlaubt gelten … Sogar das triebgebundene Sexualleben ist viel wandlungsfähiger als man denkt. Die Päderastie konnte in Sparta so sehr zur Staatseinrichtung werden, dass die Adelsschicht darüber ausstarb. Der Beginn des geschlechtlichen Umgangs liegt in den verschiedenen sozialen Schichten auch heute noch zeitlich sehr verschieden.« (Mayer, 1953, S. 21).

II.                              Die französische Schule

Neben der italienischen entstand zur gleichen Zeit auch in Frankreich eine kriminalsoziologische Schule. Zu nennen sind hier die Namen von Lacassagne und Tarde. Der Mediziner Lacassagne entwickelte im direkten Gegensatz zu Lombroso eine Milieutheorie des Verbrechens. Als eine seiner Hauptthesen verkündete er: Les sociétés ont les criminels, qu’elles méritent. (Eine Gesellschaft hat die Verbrecher, die sie verdient). Von den damals als dichotomisch angesehenen, für die Entstehung des Verbrechens verantwortlich gemachten zwei Faktoren – le facteur individuel et le facteur social – entschied er sich ganz eindeutig für das Milieu als den Nährboden der Kriminalität: Die Mikrobe ist ein Wesen, das bedeutungslos bleibt, bis zu dem Tage, an welchem es den Nährboden findet, der es aufkeimen lässt.

Gabriel de Tarde (1843-1904), ein französischer Richter, ist bekannt geworden durch sein psychologisches Gesetz der Imitation. Tarde sah in der Imitation die universelle Triebfeder des Sozialen. Er wies Durkheims Vorstellung eines Kollektivbewusstseins zurück und vertrat die Auffassung, dass Soziologie nicht von der Gruppe, sondern von Individuen auszugehen habe. Nach heutigen Begriffen wäre Tarde also ein Reduktionist und seine Theorie eine Lerntheorie (vgl. § 17 f.). Die zwischenmenschlichen Beziehungen, die die Gesellschaft überhaupt erst begründen, beruhen nach der Vorstellung Tardes auf Gesetzen der Nachahmung und Wiederholung. Nur einzelne schöpferische Menschen könnten sich vorübergehend aus dem gleichsam hypnotischen Zustand der Gesellschaft lösen. Sie verhinderten durch ihre Innovationen (technische und ideologische Erfindungen, neue Verhaltensformen) eine Erstarrung der Gesellschaft. Die ideale Gesellschaft der Zukunft stellte sich Tarde so vor, dass die Individuen in interessenfreier Liebe einander nachahmen und ohne Zwang zusammen leben. Auf Tarde geht auch der bekannte Satz zurück: Tout le monde est coupable excepté le criminel. (Die anderen sind schuldig, nicht der Verbrecher.) Sein Gesetz der Imitation hat in der modernen Kriminologie mit Sutherlands Theorie der differentiellen Assoziation, die ausgeht von der Annahme, dass kriminelles Verhalten gelerntes Verhalten sei, einen verfeinerten Nachfolger gefunden.

III.                           Deutschland: Franz von Liszt

Die Kriminalsoziologie war eine italienisch-französische Erfindung, wurde aber in Deutschland bald übernommen. Hier war es Franz von Liszt, der mit großer Energie für kriminologische Forschung und für die Verwendung kriminologischer Erkenntnisse eintrat und sich damit in einen harten Gegensatz zu den herrschenden Anschauungen seiner Zeit setzte. In seiner Marburger Antrittsvorlesung »Der Zweckgedanke im Strafrecht« aus dem Jahre 1882, später als Marburger Programm bezeichnet, entwickelte er seine grundlegenden Gedanken und forderte eine gesamte Strafrechtswissenschaft, in die die Kriminalanthropologie, Kriminalpsychologie und Kriminalstatistik einbezogen werden sollten. Das war zu jener Zeit ein revolutionärer Gedanke und eine Herausforderung an die Strafjustiz. In dem Bestreben, die Gegensätzlichkeiten der französischen und der italienischen Schule zu überwinden, kam von Liszt zu einer synthetisierenden Aussage über die Wirkung von Anlage und Umwelt bei der Entstehung des Verbrechens, der sogenannten Anlage-Umwelt-Formel: Das Verbrechen ist ein Produkt von Anlage und Umwelt.

Die Kriminologie hat sich sehr bald und insbesondere früher als die Rechtssoziologie zu einer eigenen Wissenschaftsdisziplin entwickelt. Beiden gemeinsam ist der empirische Ansatz. Beide sind darum bemüht, Erfahrungswissen über das Recht und seine Wirkung in der Gesellschaft zu gewinnen und zu systematisieren. Die Kriminologie verfährt dabei jedoch insofern weiter als die Rechtssoziologie, als sie sich nicht auf Methoden und Theorien der Soziologie beschränkt, sondern auch psychologische, psychiatrische und biologische Erklärungsansätze einschließt. Enger als die Rechtssoziologie ist die Kriminologie dagegen, da sie ihre Untersuchungen auf den Bereich des strafrechtswidrigen und sonst abweichenden Verhaltens beschränkt. Dabei hat in den letzten Jahrzehnten, besonders unter amerikanischem Einfluss, die soziologische Betrachtungsweise stärker an Gewicht gewonnen. Solche Kriminalsoziologie ist dann nur noch durch ihre Spezialisierung von der thematisch umfassenderen Rechtssoziologie zu unterscheiden (§ 51 IV). Festzuhalten bleibt, dass die frühen Kriminologen als Pioniere sozialempirischer Rechtsforschung auch zu Wegbereitern der Rechtssoziologie geworden sind.