§ 1 Gegenstand und Methode der Rechtssoziologie

Zusammenfassung: Rechtssoziologie ist ein Zweig der Soziologie, die sich auf das Recht spezialisiert hat. Sie beobachtet das Recht von einem externen Standpunkt aus. Alle ihre Theorien und Hypothesen sind auf empirische Prüfung angelegt. Ihr stärkster Antrieb ist die Frage nach den Ursachen der Ungleichheit unter den Menschen und den Möglichkeiten ihrer Bekämpfung durch Recht.

Die Rechtssoziologie hat den gleichen Gegenstand wie die Jurisprudenz, aber sie stellt andere Fragen und sie arbeitet mit anderen Methoden.

Juristen geht es um die Frage: Wie soll der Richter entscheiden? Deshalb fragen sie: Was sagen Gesetz und Recht? Wie haben die Gerichte bisher entschieden? Welche Vorschläge werden ihnen im juristischen Schrifttum und vielleicht auch in der öffentlichen Meinung gemacht? Welche Lösung verdient am Ende den Vorzug? Rechtssoziologen dagegen möchte wissen: Warum entscheiden die Richter gerade so und nicht anders? Sie geben sich nicht mit der Erklärung zufrieden, dass ihre Urteile auf dem Gesetz, einem Präjudiz oder einer herrschenden Meinung beruhen, sondern fragen weiter: Lässt sich der Richter wirklich vom Gesetz motivieren? Inwieweit werden Gesetze von den Gerichten, den Behörden und vom Publikum befolgt? Warum haben die Gesetze gerade diesen und keinen anderen Inhalt? Wem nützen und wem schaden sie? Ja, warum gibt es überhaupt Gesetze und Gerichte?

Juristen fragen aus der Teilnehmerperspektive, Soziologen dagegen aus einer Beobachterperspektive.[1]

Es gibt freilich nicht nur einen Beobachtungsstandpunkt, sondern deren mehrere. Im Grunde wird alles, was beschreibend, erklärend oder wertend über ein Thema gesagt wird, von einem Beobachter gesagt. Juristen betreiben sozusagen eine Selbstbeobachtung oder Beobachtung erster Ordnung, Rechtssoziologie dagegen Fremdbeobachtung oder Beobachtung zweiter Ordnung. Der Beobachtungsstandpunkt einer Wissenschaftsdisziplin wird durch ihr Forschungsinteresse bestimmt, und davon hängen wiederum die Forschungsmethoden ab. Ganz frei ist die Rechtssoziologie bei der Wahl ihres Beobachtungsstandpunkts nicht, wenn sie für das Recht relevant bleiben will. Sonst handelt sie sich den Vorwurf ein, sie betreibe »Rechtssoziologie ohne Recht«. »Eine adäquate soziologische Rechtstheorie« – so Luhmann (RdG S. 18) – kann »zwar die Vorteile einer externen Beschreibung nutzen, die nicht gehalten ist, die internen Normen, Gepflogenheiten, Verständigungsvoraussetzungen zu respektieren. Sie darf andererseits aber ihr Objekt nicht verfehlen. Das heißt: Sie muss es so beschreiben, wie die Juristen es verstehen. Ihr Objekt ist ein sich selbst beobachtendes und beschreibendes Objekt. Das sich Einlassen auf die Tatsache der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung des Objekts ist Voraussetzung einer wissenschaftlich angemessenen, realistischen, und ich möchte sogar sagen: empirisch adäquaten Beschreibung.«

Nicht nur die Fragen der Rechtssoziologie sind andere als die der Jurisprudenz; die Methoden zu ihrer Beantwortung sind nicht weniger verschieden. Die Frage nach der richtigen Methode ist freilich in der Rechtssoziologie kaum weniger umstritten als in der Rechtswissenschaft. Immerhin kann man doch sagen, dass die Methoden der empirischen Sozialforschung einen wesentlichen Bestandteil der Rechtssoziologie ausmachen.

Die Rechtssoziologie fördert mit ihren Fragen und Methoden Erkenntnisse zu Tage, die juristischen Vorstellungen oft zu widersprechen scheinen. Harmlos wäre etwa die Feststellung, dass eine bestimmte Rechtsnorm, deren Geltung der Jurist postuliert, sich in der Praxis als wirkungslos erweist. Auch Juristen sind insoweit Realisten. Den Nerv der Jurisprudenz trifft die Rechtssoziologie jedoch, wenn sie behauptet, dass das Recht keineswegs so unpolitisch sei wie es dem Selbstverständnis der Juristen entspricht. Rechtssoziologie ist Soziologie, die Königsdisziplin der Soziologie aber ist die Erforschung sozialer Ungleichheit.

Rechtssoziologie wird deshalb oft als Kritik des Rechts, der Rechspraxis und der Rechtswissenschaft empfunden. Dieser Effekt wird dadurch gesteigert, dass sich die Rechtssoziologie zu einem Teil betont als kritische oder Oppositionswissenschaft versteht. Dieselbe Rechtssoziologie, die dem Recht einen latenten politischen Bias vorhält, lässt sich ihrerseits politisch instrumentalisieren. Zuerst waren es Marxisten, die sich der Rechtssoziologie für ihre Zwecke bedienten. Sie wurden von feministisch oder ökologisch orientierten Wissenschaftlern abgelöst. Dann betonten Wirtschaftsliberale die Bedeutung des Rechts für Markteffizienz und Wohlfahrtsgewinn. Heute scheinen Markt- und Globalisierungsgegner auf den Zug der Rechtssoziologie zu springen. Ich habe mich immer für eine wertfreie und gegen eine politisierende Wissenschaft ausgesprochen. Es gibt keine marxistische und ebenso wenig eine ökologische oder eine feministische Epistemologie, die diesen Namen verdient. Aber das heißt nicht, dass man nicht starke politische Vorstellungen und Ziele haben dürfte. Im Gegenteil: Die interessantesten Arbeiten kommen immer wieder von denen, die sich für ein politisches Ziel engagieren und im Interesse der Gerechtigkeit einem sozialen Wandel das Wort reden. Obwohl solche Politisierung dem Fach nicht zum Schaden gereicht, sondern viel eher für eine lebendige Forschungslandschaft sorgt, ist es doch kaum erstaunlich, dass viele Juristen der Rechtssoziologie ablehnend, mindestens aber skeptisch gegenüberstehen, auch wenn die meisten heute jedenfalls ein Lippenbekenntnis zur Rechtssoziologie ablegen.

Heute ist überall Interdisziplinarität angesagt. Die Forderung nach sozialwissenschaftlicher Fundierung der Jurisprudenz gehört seit langem zum Kernbestand aller Vorschläge für die Reform der juristischen Ausbildung und der Verbesserung der juristischen Praxis (§ 12 IV). In allen Studien- und Prüfungsordnungen für die Juristenausbildung ist zu lesen, dass die sozialen Bezüge des Rechts mitbedacht und berücksichtigt werden sollen. Die Rechtssoziologie ist mindestens als Lehrfach im Universitätsbereich etabliert, so dass es den Anschein hat, man sei auf dem Wege, die Forderung nach einer Einbeziehung der Sozialwissenschaften in die Jurisprudenz einzulösen. Aber die zum Lehrfach erwachsene Rechtssoziologie wird zum bloßen Alibi, wenn die soziologische Betrachtung aus den herkömmlichen Fächern ausgesperrt bleibt. Eine verselbständigte Rechtssoziologie kann die Integration der Sozialwissenschaften in die dogmatischen Fächer nicht ersetzen. Sie steht in Gefahr, abstrakt und theoretisch betrieben zu werden, sozusagen als säkularisierter Ersatz für die Rechtsphilosophie, und dabei die Rechtswissenschaft, wo sie konkret und aktuell wird, unberührt zu lassen. Es ist selbstverständlich, dass zu jeder einigermaßen wichtigen Rechtsfigur historische Erläuterungen gegeben werden, dass man sich über ihre römisch- oder deutschrechtlichen Ursprünge orientiert und auch rechtsvergleichende Betrachtungen anstellt. Ebenso selbstverständlich sollte es sein, ein Rechtsinstitut auch auf seine sozialen Voraussetzungen und gesellschaftlichen Auswirkungen hin zu befragen, ohne dabei die grundsätzlich gegenläufigen Funktionen von Soziologie und Dogmatik aus dem Auge zu verlieren.

Die Schwierigkeiten eines solchen Vorhabens sind nicht zu unterschätzen. Immerhin sind ähnliche Forderungen schon vor 100 Jahren von Eugen Ehrlich, Hermann Kantorowicz und Arthur Nußbaum nachdrücklich formuliert worden, ohne dass sich praktisch viel geändert hätte. Man kann zwar darauf verweisen, die Soziologie, weil als Kritik- und Oppositionswissenschaft angetreten, sei von den Juristen bekämpft und unterdrückt worden. Das ist sicher zu einem guten Teil zutreffend. Aber die Schwierigkeiten liegen ebenso in der Sache. Leicht greifbar erschienen die gesellschaftlichen Bezüge des Rechts allenfalls, als man den Plural verließ und als einzigen Bezug nur noch den Klassengegensatz thematisierte. Dieser Bezug war kaum gering zu schätzen. Wegen seiner vordergründigen Simplizität und Rigorosität wurde er zu einem fruchtbaren Ausgangspunkt praktischer Problemerörterung auch in der Rechtssoziologie. Das gilt nicht nur für das Arbeitsrecht, wo hinter vielen rechtlichen Regelungen ein Interessengegensatz von Arbeitgeber und Arbeitnehmer durchscheint, der von manchen als Klassengegensatz interpretiert wurde, sondern auch für viele andere Fragestellungen, für Vertragsfreiheit und Geschäftsbedingungen, für den rechtlich geschützten Inhalt des Eigentums, für die Probleme der Wirtschaftskriminalität oder für die Frage, ob der Justizapparat eine Art Klassenjustiz produziert. Es zeigte sich aber schnell, dass man mit diesem Ansatz nicht auskam, dass sehr viel differenziertere Betrachtungsweisen notwendig und möglich sind. Dazu ist vor allem eine ungeheure Detailarbeit erforderlich, die nie zum Abschluss kommt.

Diese Arbeit muss an anderer Stelle geleistet werden. In einem Lehrbuch der Rechtssoziologie können konkrete Sachfragen nur exemplarisch behandelt werden. Was hier geleistet werden soll, ist eine Grundlegung, wie sie für die Arbeit am Detail Voraussetzung ist. Eine solche Grundlegung ist notwendig abstrakt und allgemein. Sie wird den am Konkreten interessierten Leser über weite Strecken enttäuschen, wenn er sie nicht als Vorbereitung akzeptiert, um außerhalb der juristischen Gedankenwelt einen Standpunkt zu gewinnen, der dann auch im konkreten Detail eine sozialwissenschaftlich fundierte Kritik des Rechts ermöglicht.

Eine an Juristen adressierte Darstellung der Rechtssoziologie hat mit dem Problem zu kämpfen, dass sie keine soziologischen Vorkenntnisse voraussetzen darf, wie sie eigentlich notwendig wären. Andererseits fehlen Raum und Zeit für ein soziologisches Propädeutikum. Der Hinweis an den Leser, er möge selbst soziologische Einführungsliteratur zur Hand nehmen, wird vermutlich ebenso wirkungslos bleiben wie manche Rechtsnorm. In dieser Lage bietet es sich an, aus der Not eine Tugend zu machen. Rechtssoziologie ist eine Bindestrich-Soziologie besonderer Art.

Technisch ist von Speziellen Soziologien die Rede. Sie definieren sich über ihren Gegenstand und wollen regelmäßig auch in ihren Gegenstandsbereicht hineinwirken. So unterhält die Deusche Gesellschaft für Soziologie bald 40 Sektionen, darunter solche für Alter, Arbeit- und Industrie, Bildung und Erziehung, Europa, Famielie, Fauen und Geschlecht, Jugend Kultur, Medien, Umwelt und Wirtschaft und nicht zuletzt auch eine Sektion Rechtssoziologie.

Medizin-Soziologie oder Kunst-Soziologie, Militär-Soziologie oder die Soziologie der Gemeinde befassen sich jeweils mit einem sachlich umgrenzten Ausschnitt der Gesellschaft. Für die Rechtssoziologie gilt etwas anderes, denn das Recht ragt unspezifisch in alle Lebensbereiche hinein. Es regelt nicht nur die Verfassung des Staates, die Verwaltung seiner Untersysteme, es befasst sich nicht nur mit dem Tauschverkehr der Bürger untereinander. Das Recht kümmert sich um ärztliche Kunstfehler und die Durchführung von Organtransplantationen; es ist zur Stelle, wenn ein Regisseur sich gegen die Veränderung seiner Operninszenierung wendet, Soldaten sich über ihre Vorgesetzten beschweren oder Nachbarn in Streit geraten, wenn Studenten Examen ablegen oder für die Einhaltung der Menschenrechte protestieren. Auch im internationalen Wirtschaftsverkehr und sogar bei kriegerischen Auseinandersetzungen beruft man sich auf Recht. So ist auch die Globalisierung zum Rechtsthema geworden. Recht kann in alle Lebensbereiche eindringen, soweit es sich nicht, wie durch die Positivierung der Menschen- und Bürgerrechte und des Rechtsstaatsprinzips geschehen, selbst Fesseln angelegt hat; und auch dann bleibt noch die Frage, ob diese Fesseln halten. Doch Recht ist mehr als das. Es ist ein Teil der Kultur, des Symbolgewebes, das dem Alltag wie dem Feiertag Bedeutung verleiht. Das Recht formt eigene und fremde Identitäten. Es beeinflusst uns nicht bloß von außen, sondern ist Teil unseres Selbstverständnisses.

Recht ist ein ubiquitärer Bestandteil der Sozialstruktur. Daraus folgt die Forderung, dass Rechtssoziologie sich an die allgemeine Soziologie anlehnt. Daraus folgt zugleich die Möglichkeit, die Darstellung der Rechtssoziologie weitgehend in eine Darstellung theoretischer Ansätze der allgemeinen Soziologie einzubetten. Das soll in den Kapiteln 6-17 versucht werden. Dieser Darstellung werden vier Kapitel vorausgeschickt, die Besonderheiten der Rechtssoziologie behandeln. Es wird dabei kein Wert darauf gelegt, die Eigenständigkeit des Fachs als einer besonderen Wissenschaftsdisziplin zwischen Jurisprudenz und Soziologie zu behaupten und zu begründen. Die Gemengelage der Rechtssoziologie zwischen diesen beiden Disziplinen bringt jedoch eine Anzahl von Problemen mit sich, die (in Kap. 3) näher erörtert werden müssen. Kap. 2 gibt zunächst einen historischen Überblick. Er ist allein schon deshalb unverzichtbar, weil die Geschichte des Faches den gemeinsamen Wissenshintergrund bildet, der eine Verständigung auch dort ermöglicht, wo es an allgemein akzeptierten Theorien fehlt. Kap. 3 behandelt unter der Überschrift »Theorie der Rechtssoziologie« die wissenschaftstheoretischen Probleme des Faches und hier besonders das Verhältnis von Rechtswissenschaft und Soziologie. Kap. 4 gibt einen Überblick über die Methoden der empirischen Sozialforschung und Kap. 5 leitet über zur Darstellung der verschiedenen Ansätze soziologischer Theorie in ihrer Anwendung auf Probleme des Rechts.

Die Art der Darstellung hat zur Folge, dass dieselben oder ähnliche Probleme unter verschiedenen Gesichtspunkten angesprochen werden. Viele Fragen tauchen schon bei der historischen Darstellung in Kap. 2 auf. Mehr oder weniger alle lassen sich von unterschiedlichen theoretischen Ansatzpunkten her thematisieren. Daraus ergeben sich viele Wiederholungen. Sie könnten weitgehend durch Verweisungen vermieden werden. Darauf wird jedoch verzichtet. Im Gegenteil, eine gewisse Redundanz unter Einschluss von Wiederholungen ist beabsichtigt, damit die einzelnen Kapitel für sich lesbar und verständlich bleiben.



[1] Der englische Rechtsphilosoph H. L. A. Hart hat die Unterscheidung zwischen der internen und einer externen Beobachtung des Rechts in die Rechtstheorie eingeführt. Er brauchte die Unterscheidung, um sich von einem behavioristischen Rechts- und Regelbegriff abzusetzen. Er wollte also sagen, dass es für eine (Rechts-)Regel nicht ausreicht, wenn sich von außen (extern) gleichförmiges Verhalten der Menschen in bestimmten Situationen beobachten lässt. Zur Rechtsnorm werde die Regel vielmehr erst, wenn hinreichend viele Mitglieder der Gruppe gegenüber der Regel einen »internen Standpunkt« einnähmen derart, dass sie die Regel für sich und für andere als verpflichtend ansähen. (Der Begriff des Rechts, 1973 [The Concept of Law, 1961], 119ff., 128ff.)