Literatur: Bühler, Grundsätzliches zum Thema »Gesetzesflut« und der »aufgeblähten Verwaltung«, JZ 1959, 297 ff.; Gegentendenzen zur Verrechtlichung, JbRSoz 9, 1983; Voigt (Hg.), Verrechtlichung, 1980; ders. (Hg.), Abschied vom Recht, 1983; Lange, Eindämmung der »Vorschriftenflut« im Verwaltungsrecht?, DVBl. 1979, 533ff; Mayer-Maly, Rechtskenntnis und Gesetzesflut, 1969; Vogel, Zur Diskussion um die Normenflut, JZ 1979, 321 ff.; Zacher u. a., Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität, 1984
Literatur neu: Michael Bock, Die Eigendynamik der Verrechtlichung in der modernen Gesellschaft, in: Ernst-Joachim Lampe (Hg.), Zur Entwicklung von Rechtsbewußtsein, 1997, 403-428; Marc Galanter, Law Abounding: Legalisation Around the North Atlantic, 55 MOD. L. REV. 1 (1992); Johannes F-. K.- Schmidt, Verrechtlichung von Intimbeziehungen, in: Ernst-Joachim Lampe (Hg.), Zur Entwicklung von Rechtsbewußtsein, 1997, 429-464; Gunther Teubner, Verrechtlichung – ein ultrazyklisches Geschehen, München 1997!!!; Rainer Döbert/Thomas Gericke, Grundlagen der Verrechtlichung von Natur, in: Ernst-Joachim Lampe (Hg.), Zur Entwicklung von Rechtsbewußtsein, 1997, 465-515
1) Dimensionen der Verrechtlichung
Die Entwicklung des Rechts im Sinne einer quantitativen Zunahme behaupteten schon die Evolutionstheoretiker der Jahrhundertwende. Der Nationalökonom Adolph Wagner formulierte seinerzeit das »Gesetz der wachsenden Ausdehnung der öffentlichen bzw. Staatstätigkeiten«. Dagegen meinte Eugen Ehrlich, dass der Höhepunkt dieser Entwicklung entweder schon überschritten sei oder bald überschritten werde. Aber bisher hat die Entwicklung eher die von Wagner vorhergesagte Richtung genommen. Die Bürokratisierung des Staatsapparats ist weiter fortgeschritten. Durch die Erweiterung der Staatsaufgaben auf dem Gebiet der Daseinsvorsorge, der Organisation des Wohlfahrtsstaats und durch den enormen Bedarf rechtlicher Regelungen, die auf die moderne Technik reagieren, hat das Recht neue, bis dahin ungeahnte Dimensionen angenommen. Heute ist die Rede von der Gesetzesflut oder von der zunehmenden Verrechtlichung der Gesellschaft weit verbreitet. Es ist ein beliebtes Spiel geworden, Gesetze und Verordnungen, Paragraphen und Gesetzblattseiten, Gerichtsurteile und juristische Publikationen zu zählen[1]. Die Gesetzesflut ist tatsächlich so groß, dass das BVerfG (E 48, 1) sich mit dem Fall befassen mußte, dass die gesetzgebenden Körperschaften des Bundes das 3. G zur Änderung des Milch- und FettG ändern wollten, ohne zu wissen, dass dieses Gesetz bereits außer Kraft getreten war.
Bei der näheren Beschreibung der Gesetzesflut werden drei Aspekte hervorgehoben, nämlich
– (1) die Normenflut (»Vergesetzlichung«)
– (2) die Bürokratisierung
– (3) die Prozeßflut (»Justizialisierung«).
Bei der Vergesetzlichung geht es darum, dass die Zahl und die Themen der Gesetze zunehmen. Bei der Bürokratisierung handelt es sich um den Ausbau der Verwaltung, wie er zuerst von Max Weber beschrieben worden ist (vgl. 50). Justizialisierung schließlich meint die wachsende Beteiligung der Gerichte bei der Regelung konflikthafter Beziehungen. Diese Erscheinungsformen der Verrechtlichung zeigen sich insbesondere in neuen Politikbereichen wie der Sozial-, Bildungs- und Umweltpolitik. Längst ist aber auch, mindestens rhetorisch, eine Gegenbewegung in Gang gekommen, so dass sprachlich noch unerfreulicher von Entregelung, Entbürokratisierung und Entrechtlichung die Rede ist.
2) Gründe für das Anschwellen des Rechts
Die Gründe für die quantitative Evolution des Rechts sind vielfältig und greifen ineinander. Im Vordergrund steht die funktionale Differenzierung der Gesellschaft. In dem Prozeß der sozialen Arbeitsteilung übernimmt das Recht die Aufgabe der Koordination zwischen den verschiedenen Funktionsträgern. Das kann man sich gut an dem Beispiel der Familie veranschaulichen. Solange die Familie oder Kleingruppe unspezifisch alle Funktionen vom Beistand bei der Geburt bis zur Bestattung ihrer Toten in sich vereinigte, bedurfte es nur weniger Regeln, die hauptsächlich den Erwerb oder Verlust der Gruppenmitgliedschaft betrafen. Heute ist die Geburt ins Krankenhaus verlagert worden. Für Bekleidung und Ernährung sorgt eine emsige Industrie. In die Erziehung teilen sich Kindergärten, Schulen, Betriebe, Universitäten. Für die Pflege bei Krankheit oder Alter kümmern sich Ärzte, Apotheken, Krankenhäuser und Altersheime, und für die Bestattung sind Kirchen und Beerdigungsunternehmen zuständig. Dieses Bild der Arbeitsteilung läßt sich fast beliebig weiter ausmalen.
Die Koordination aller spezialisierten Funktionen erfordert einen großen Regelungsaufwand. Die Geburt geschieht unter dem Netz von Krankenhausaufnahme- und Arztvertrag und Versicherungsbedingungen. Babynahrung und Kinderwagen sind von Verbraucherschutz und Produzentenhaftung umgeben. Kindergärten, Schulen und Universitäten regeln die Mitgliedschaft in Gesetzen, Satzungen, Gebühren und Studienordnungen usw. Für Alters- und Pflegeheime warten wir dringend auf ein neues Gesetz. Hand in Hand mit dieser funktionalen Differenzierung ist mit Wissenschaft, Kultur, Freizeitbetätigung, Sport usw. eine Fülle neuer, sekundärer Bedürfnisse entstanden, die jeweils wieder von besonderen sozialen Institutionen versorgt werden. Es ist leicht einzusehen, dass die Koordination dieser immer weiter vorangetriebenen Differenzierung und Spezialisierung einen enormen Regelungsaufwand erfordert. Diesen muß weitgehend das Recht bereitstellen.
Der Regelungsbedarf wird weiter dadurch erhöht, dass mit dem Funktionsverlust des Familien- und Stammesverbandes ein Abbau der nichtrechtlichen Arten und Mittel der sozialen Kontrolle verbunden ist[2]. In die gleiche Richtung wirken die Gesellschaftswissenschaften und in ihrem Gefolge die auf breiter Ebene einsetzende Reflexion über gesellschaftliche Zusammenhänge. Sie ziehen immer mehr verdeckte, aber doch faktisch befolgte und wirksame Sozialregeln in das Licht des Bewußtseins. Ist aber eine bisher unreflektiert als selbstverständlich hingenommene Regel erst ins Bewußtsein gehoben, so wird sie nicht mehr spontan befolgt und ihre Verbindlichkeit von Betroffenen, denen sie unbequem ist, angezweifelt oder bestritten. Sie verliert ihren Tabu-Charakter. Die Überlebenschance eines habituellen Standards wird weiter dadurch gemindert, dass die mit der Bewußtmachung unvermeidlich verbundene verbale Festlegung die Flexibilität der Norm herabsetzt. Das Ergebnis ist ein fortschreitender Abbau des cake of customs. Auf die Dauer führt die unvermeidliche rationalwissenschaftliche Betrachtung des Normensystems, die Aufdeckung und Bewußtmachung bisher spontan befolgter Normen, zu einem Verlust an Selbstregulationsvermögen, und in der Folge zu einem Anschwellen des speziell zur sozialen Normierung bestellten Regelungsapparats und damit im Ergebnis zur Verrechtlichung immer weiterer Lebensbereiche.
Beschleunigt wird diese Entwicklung dadurch, dass die ohnehin immer zahlreicheren Gesetze inimmer schnellerem Tempo wieder geändert werden. Das Recht ist variabel geworden. Neue Zustände bedürfen neuer Normen. Oft sind es die Normen selber, die neue Zustände und damit die Notwendigkeit neuer Normen begründen. Wenn ein Gesetz, gewollt oder ungewollt, den Zustand A in den Zustand B überführt hat, z. B. die Wohnungsnot beseitigt oder eine Hochkonjunktur ausgelöst hat, muß es aufgehoben oder geändert werden. Nur selten ist die schnelle Folge neuer Gesetze allerdings dadurch verursacht, dass die alten ihr Ziel erreicht haben. Viel häufiger hat sie ihren Grund darin, dass gesetzgeberische Maßnahmen ihren Zweck verfehlen und dann durch besser geeignete Vorschriften ersetzt werden müssen.
Schließlich drängen die Folgeprobleme der Technisierung und Industrialisierung in den Vordergrund. In den letzten Jahren erleben wir, wie ganz neue Komplexe von Rechtsnormen entstehen zur Eindämmung der Gefahren, die von der Technik ausgehen, zum Gefahrenschutz, Datenschutz, Strahlenschutz und vor allem zum Umweltschutz. Man wird daher auch heute noch sagen müssen, dass die viel beklagte Hypertrophie des Rechts mit der Folge einer Gesetzesflut einem Trend entspricht, der schwer zu ändern ist. Man darf die Tatsache, dass moderne Gesetze immer kurzlebiger, dafür aber um so zahlreicher werden, nicht länger pauschal als Fehlentwicklung betrachten, sondern muß sie als eine notwendige Begleiterscheinung des beschleunigten Entwicklungstempos der Gesellschaft verstehen lernen.
Die Entwicklung spiegelt sich im Rechtsbewußtsein der Gesellschaft. Bis in das 19. Jahrhundert hinein umfaßten die Gerechtigkeitsvorstellungen des Publikums kaum mehr als die Erwartung eines fairen Verfahrens vor einem möglichst unbestechlichen Richter. Krankheit, Unfall und Not wurden als Schicksalsschläge ebenso akzeptiert wie die teilweise grausamen Bestrafungen. Mit dem technischen Zeitalter begann sich diese Einstellung zu wandeln. Der zunehmenden Beherrschbarkeit der Natur entspricht die wachsende Erwartung einer Berechenbarkeit und Sicherung der persönlichen Lebensumstände. Sie äußert sich in Rechtsansprüchen bei Schaden, Unfall, Krankheit und Not. An die Stelle des Schicksals ist die Suche nach dem Haftpflichtigen getreten.
3) Ein systemtheoretischer Blick auf die Verrechtlichung
[Teubner, Verrechtlichung, 1997]
4) Verrechtlichungsschübe
Bei historischer Betrachtung lassen sich in der Neuzeit vier Verrechtlichungsschübe unterscheiden[3].
– (1) Die erste Phase erhöhten Rechtsbedarfs kam mit der Staatenbildung mit der Folge der Schaffung von Staatsbürokratien und Militär.
– (2) Eine zweite Phase war die der Nationenbildung um die Wende zum 19. Jahrhundert, die vor allem durch Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und öfffentlicher Schulen neuen Regelungsbedarf mit sich brachte.
– (3) Die dritte Phase ist gekennzeichnet durch den Übergang zum rechtsförmigen Verfassungs- und Steuerstaat seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts.
– (4) Die vierte Phase schließlich wird ausgefüllt durch die Entwicklung des Wohlfahrtsstaats im 20. Jahrhundert. Auf diese Phase konzenriert sich die neuere Verrechtlichungsdiskussion mit ihren zahlreichen Publikationen zur »Krise des Wohlfahrtsstaats«.
– (5) Eine weitere Phase ist durch die Europäisiserung und durch die Globalisierung des Rechts eingeleitet.
5) Folgen der Verrechtlichung
Die Folgen der Verrechtlichung werden beschrieben als
– (1) Konfliktenteignung
– (2) Entpolitisierung
– (3) Kolonialisierung der Lebenswelt
– (4) Verlust der Regulationsfähigkeit.
Zu 1: Konfliktenteignung meint die Bereitstellung rechtsförmiger Konfliktregelungsverfahren, die die Streitregelung von den Beteiligten weg auf Dritte verlagern. Sie ist Hintergrund der Alternativendiskussion, die das Ziel verfolgt, die heteronome rechtsförmige Konfliktregelung wieder durch parteiautonome Verfahren zu ersetzen (dazu ausführlich § 56).
Zu 2: Entpolitisierung meint die Überführung koalitionsbildender gesellschaftlicher Konflikte (vgl. § 51, 3c) in ein rechtsförmiges Verfahren. Besonders für den Bereich der Arbeitsbeziehungen ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass die Verrechtlichung die Aktions- und Kampfmöglichkeiten der Gewerkschaften, insbesondere den Streik, drastisch einschränkt[4].
Zu 3: Auf diese inzwischen modische Formel hat Habermas[5] die Folgen der Verrechtlichung für die sozialen Beziehungen des Individuums gebracht (vgl. § 60, 4c a. E.). Sie war der Sache nach längst von Toennies als Entwicklung von Gemeinschaft zu Gesellschaft beschrieben worden (§ 39, 4). Er verweist darauf, wie Sozialversicherung und Familienrecht die vielschichtigen Hilfeleistungen eines engeren Sozialverbandes in individuelle Rechtsansprüche für genau spezifizierte allgemeine Tatbestände umwandeln, die auf bürokratischen Leistungsvollzug ausgerichtet sind. Die monetäre Entschädigung, mit der die »Wechselfälle des Lebens« abgegolten werden, erscheint ihm als »gewalttätige Abstraktion« der in den »Kontext einer Lebensgeschichte und konkreten Lebensform eingebetteten« Bedürfnissituation. Krankheit und Tod, Eintritt der Altersgrenze oder Verlust des Arbeitsplatzes ließen sich nicht in Geld umrechnen. Der Unangemessenheit dieser systemkonformen Entschädigungen sollen soziale Dienste Rechnung tragen, die therapeutische Hilfestellung geben. Sie sind indessen ihrerseits wieder bürokratisch in einer Therapeutokratie organisiert, die mit ihrer professionellen Kompetenz den Klienten in Unselbständigkeit gefangen hält.
Zu 4: Die alte These von der notwendigen Ineffektivität des Rechts ist im Hinblick auf die Bedingungen der Jetztzeit zur These von der Krise des Wohlfahrtsstaates geworden, der die Fähigkeit verloren habe, die Gesellschaft durch Recht zu steuern (näher § 61, 1 u. 4).
[1] Zur quantitativen Analyse der Gesetzgebung Rottleuthner, Aspekte der Rechtsentwicklung in Deutschland – Ein soziologischer Vergleich deutscher Rechtskulturen, ZfRSoz 6, 1985, 206-254.
[2] Dazu Franz von Benda-Beckmann, Individualisierung und Kriminalität – Eine ethnographische Betrachtung, ZfRSoz 3, 1982, 14-30.
[3] Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, S. 524; Voigt, JbRSoz 9, 1983, 21 f.
[4] Dazu Rainer Erd, Verrechtlichung industrieller Konflikte, Frankfurt/New York 1978; Ernst Fraenkel, Die politische Bedeutung des Arbeitsrechts (1932), in: Thilo Ramm, Arbeitsrecht und Politik, Neuwied 1966, S. 247-260; Moritz, Begrenzung gewerkschaftlicher Politik durch Arbeitsrecht, in Voigt, Verrechtlichung, 1980, S. 170ff.; Spiros Simitis, Zur Verrechtlichung von Arbeitsbeziehungen, in: Zacher u. a., Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität, 1984, S. 73-165.
[5] Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 522 ff.