II. Pierre Bourdieu
Texte von Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen, 1970, 2. Aufl. 1983;. Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, 1979; La force du droit. Element pour une sociologie du champ juridique, Actes de la recherche en sciences sociales 64, 1986, 3–19 (englisch als The Force of Law: Toward a Sociology of the Juridical Field, Hastings Law Journal 38, 1987, 814-853); Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten, 1983, 183-198; Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt, in: Bourdieu/Jean-Claude Passeron, Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt, 1973, 7-87; Der Kampf um die symbolische Ordnung. Pierre Bourdieu im Gespräch mit Axel Honneth, Hermann Kocyba und Bernd Schwibs. In: Ästhetik und Kommunikation, 16, 1985, Nr. 61/61, S. 142-164; Les juristes, gardiens de l’hypocrisie collective, in: François Chazel/Jacques Commaille (Hg.), Normes juridiques et régulation sociale, Bd. 1, Paris 1991, 95-99; Die männliche Herrschaft, in: Irene Dölling/Beate Krais (Hg.), Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, 1997, 153-217; Eine sanfte Gewalt: Pierre Bourdieu im Gespräch mit Irene Dölling und Margareta Steinrücke, in: Dölling, Irene/ Krais, Beate (Hg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, 1997; 218-230; Die feinen Unterschiede, 1982 [franz. 1979]; Die zwei Gesichter der Arbeit. Interdependenzen von Zeit- und Wirtschaftsstrukturen am Beispiel einer Ethnologie der algerischen Übergangsgesellschaft, 2000; Wie die Kultur zum Bauern kommt, Über Bildung, Schule und Politik, 2001; Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, 2001; Die männliche Herrschaft, 2005; Ein soziologischer Selbstversuch, 2002; Pierre Bourdieu/Terry Eagleton, Doxa and Common Life, New Left Review I/191, 1992, 111-121; Pierre Bourdieu/Loic Wacqant, Reflexive Anthropologie, 1996.
Literatur: Eva Barlösius, Pierre Bourdieu, 2. Aufl., 2011; Philip Conradin-Triaca, Pierre Bourdieus Rechtssoziologie. Interpretation und Würdigung, 2013 [zu diesem dicken Buch zwei Rezensionen: kritisch Pierre Guibentif, ZfRSoz 35, 2015, 319-327; eher positiv Andrea Kretschmann, Österreichische Zeitschrift für Soziologie 41, 2016, 343-347]; Irene Dölling, Pierre Bourdieus Praxeologie – Anregungen für eine kritische Gesellschaftsanalyse, Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 110, 2011, 163-176; Gerhard Fröhlich/Boike Rehbein (Hg.), Bourdieu-Handbuch, Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart 2009; Werner Fuchs-Heinritz/Alexandra König, Pierre Bourdieu, Eine Einführung, 2. Aufl., 2011; Boike Rehbein, Die Soziologie Pierre Bourdieus, 2. Aufl., Konstanz 2011 Richard Terdimann, The Force of Law: Toward a Sociology of the Juridical Field, Translator’s Introduction, Hastings Law Journal 38, 1987, 805-813; Gerhard Wayand, Pierre Bourdieu: Das Schweigen der Doxa aufbrechen, in: Peter Imbusch (Hg.), Macht und Herrschaft, 221-237; Michael Wrase, Recht und soziale Praxis – Überlegungen für eine soziologische Rechtstheorie, in: Michelle Cottier/Josef Estermann/Michael Wrase (Hg.), Wie wirkt Recht?, 2010, 113-145.
Hingewiesen sei ferner auf das »Dossier: La place du droit dans l’œuvre de Pierre Bourdieu« der Zeitschrift »Droit und Societé« von 2004. Davon im Internet verfügbar die Einleitung von Jacques Commaille sowie von Mauricio García Villegas On Pierre Bourdieu’s Legal Thought (S. 57–70). Den Artikel von Soraya Nour über »Bourdieus juristisches Feld« in der 2. Aufl. von Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2009, 179-199, der – etwas verstümmelt – als Google-Buch nachgelesen werden kann, fand ich von dem emanzipatorischen Transformationsinteresse der Verfasserin verschattet. Angekündigt ist ein Sammelband von Andrea Kretschmann (Hg.), Das Rechtsdenken Pierre Bourdieus.
Sieht man über den deutschen Sprachraum hinaus, so wird Pierre Bourdieu (1930-2002) dort häufiger zitiert als Niklas Luhmann. Wer von beiden der bedeutendere Soziologe war, ist eine müßige Frage. Die größere Beliebtheit Bourdieus beruht darauf, dass seine Theorie kritischer und praxisnäher zu sein scheint. Als Einführung kann der online verfügbare Aufsatz von Dölling dienen.
Viele rechtssoziologische Arbeiten berufen sich auf Bourdieu, obwohl man ihn eigentlich nicht als Rechtssoziologen einordnen kann. Im Glossar des Bourdieu-Handbuchs von Fröhlich/Rehbein liest man:
»Das Rechtssystem deutet Bourdieu als eine Instanz, die die symbolische Gewalt des Staates legitimiert und praktisch garantiert. Er hat allerdings keine eigene Theorie des Rechts entwickelt und beschäftigt sich auch kaum mit dem Rechtsystem. Der Begriff taucht meist im Sinne eines Anrechts oder Titels auf.«
Manche finden Bourdieus »soziale Felder« für ihre rechtssoziologischen Arbeiten besser geeignet als Luhmanns oder Teubners Systembegriff. Bourdieus Felder sind fraglos realistischer als autopoietische Systeme. Aber sie sind in ihrer Wirklichkeitsnähe zu diffus. Ich habe den Eindruck, als ob der Feldbegriff zu den konkreten Analysen, die Bourdieu selbst und andere mit seiner Hilfe anstellen, nichts beiträgt. Für die deutsche Rechtssoziologie hat es Michael Wrase unternommen, Bourdieus Habitus-Feld-Konzept und seine professionssoziologische Studie über »Les juristes, gardiens de l’hypocrisie collective« zu rezipieren und nutzbar zu machen.
Große Karriere hat das von Bourdieu entworfene Konzept verschiedener Formen immateriellen Kapitals gemacht (symbolisches, soziales und kulturelles Kapital). Er wollte damit aufzeigen und analysierbar machen, dass es jenseits materieller Güter sich akkumulierende und ungleich verteilte Handlungsressourcen gibt. Dazu ausführlich auf Rzozblog der Eintrag Männliche Herrschaft als symbolischer Kapitalismus vom 23. 8. 2018.
Das Hauptwerk Bourdieus, »Die feinen Unterschiede«, befasst sich in der Sache, ohne dass dieser Begriff dort im Zentrum steht, mit dem kulturellen Kapital, nämlich mit dem unterschiedlichen Lebensstil und Geschmack von Menschen, die von ihren sozialen Milieus geprägt werden, und die sie befähigen, sich dort erfolgreich zu halten und von anderen abzusetzen. Wie der Buchtitel andeutet, ist die gesellschaftliche Stellung nicht (mehr) offensichtlich durch soziale Herkunft, Klassenzugehörigkeit oder Vermögen bestimmt, sondern durch die Ausprägung von teils sehr subtilen milieuspezifischen Präferenzen. Sie äußern sich greifbar im kulturellen Konsum (Literatur, Musik darstellende und bildende Kunst). In diesen Zusammenhang gehört auch der Habitus, der die Prägung eines Menschen durch sein kulturelles Milieu auf den Begriff bringt.
Für die Rechtssoziologie interessant ist der an das symbolische Kapital anschließende Begriff der symbolischen Gewalt, der die Akkumulation von symbolischen Kapital als Machtposition erfassen soll.
»Im Zentrum der Theorie Bourdieus steht eine Soziologie von Macht und Herrschaft Der soziale Raum ist bei Bourdieu wesentlich durch Kampfe um Machtpositionen in den verschiedenen Feldern (ökonomisches, politisches, wissenschaftliches, künstlerisches Feld etc.) gekennzeichnet, und zwar sowohl auf der Ebene der individuellen Konkurrenzkämpfe als auch der sozialen Kämpfe von Klassen und/oder Gruppen.« (Wayand S. 221)
Dieser Aspekt wird etwas näher in § 31 IV behandelt, wo es allgemeiner um Macht und Herrschaft geht.
Unter dem Titel »Männliche Herrschaft« liefert Bourdieu eine ebenso prominente wie umstrittene[1] soziologische Interpretation der Patriarchatsthese. Bourdieu hat sich nicht direkt mit der Frage befasst, wie männliche Herrschaft entstanden sei. Er hatte sie als Phänomen bei ethnologischen Forschungen in der Kabylei beobachtet. In der modernen Gesellschaft zeige sich männliche Herrschaft besonders in einem besseren Zugang zum öffentlichen Raum, wo Männer allgemein über Frauen positioniert sind. Bourdieu analysiert in seinem Buch von 1998, wie sich solche Herrschaft erhält, nämlich objektiv als symbolisches Kapital und subjektiv als spezifischer Habitus. Die Macht der männlichen Ordnung erweist sich dadurch, dass sie keiner Rechtfertigung bedarf. Sie erscheint als quasi-natürlich und damit als selbstverständlich. Diese Selbstverständlichkeit bilde das symbolische Kapital. Es werde Männern als positives und Frauen als negatives von Kindheit an als Habitus vermittelt, bis es Teil ihrer Körperlichkeit sei. Die wichtigsten Vermittler seien Staat, Schule und Kirche. Um einen Wandel herbeizuführen, genüge es nicht, die männliche Herrschaft als soziales Konstrukt bewusst zu machen. Es müssten vielmehr die Institutionen verändert werden.
Überflüssig scheint mir der in diesem Zusammenhang von Bourdieus geprägte Neologismus Doxa zu sein. Doxa ist dasjenige, was selbstverständlich und normal ist (The Force of Law S. 848). In den Sozialwissenschaften gibt es eine Konjunktur des Vorreflexiven, die durch Harold Garfinkels Ethnomethodologie angestoßen wurde. Seither ist das Phänomen aus verschiedenen Richtungen immer wieder »entdeckt« und theoretisiert worden. Diskursanalyse nach Foucault verlangt die Beschreibung des Sagbaren und Gesagten ebenso wie die Ermittlung des Unsagbaren und Ungesagten. Bourdieu gibt dem Unbewussten den Namen Doxa und macht daraus Teil seiner Machttheorie (Bourdieu/Eagleton). Vieles, was dort gesagt wird, findet sich gleich oder ähnlich nicht nur bei Foucault[2], sondern auch in anderen in den Theorien über die Sozialdisziplinierung.
Zum Schlagwort verkommen und wohl doch unentbehrlich ist das Sozialkapital.[3] Der Begriff stammt zwar nicht von Bourdieu, ist aber durch ihn prominent geworden.
»Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.« (Bourdieu 1983, S. 190 f. )
Soziales Kapital erwirbt man individuell durch Tauschgeschäfte aller Art, durch Gruppenzugehörigkeit oder aus Netzwerken. So entsteht soziales Kapital als individuelle Ressource. Die ungleichen Entstehungsbedingungen führen aber zu einer gleichmäßig ungleichmäßigen Verteilung. Der Begriff (dazu etwas näher u. § 26 VI) hat sich ohne Bezug auf Bourdieu vor allem durch die Arbeiten von Coleman[4] und Putnam verbreitet.[5] Putnam hat ihm einen anderen Akzent gegeben, indem er ihn mit der Zivilgesellschaft – ein ähnlich vages, aber ähnlich unentbehrliches Konzept – in Verbindung gebracht hat.
III. Exkurs: Bourdieu und die männliche Herrschaft
Auf https://www.rsozblog.de/ hatte ich 2018 in 14 Fortsetzungen eine kritische Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieus Analyse der Männlichen Herrschaft veröffentlicht. Darin wurden wichtige Grundbegriffe Bourdieus erläutert. 2020 ist aus diesen Blogeinträgen ein Buch geworden, so dass ich die bisher im Internet frei zugänglichen Texte leider habe löschen müssen.
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[1] Eva-Maria Ziege, Rezension zu: Bourdieu, Pierre: Die männliche Herrschaft, H-Soz-Kult vom 28.10.2005.
[2] Wolfgang Müller-Funk, Kulturtheorie, 2010, 232.
[3] Allgemein zu diesem Begriff Alexander Dill, Was ist Sozialkapital, 2015.
[4] James S. Coleman, Social Capital in the Creation of Human Capital, The American Journal of Sociology 94, 1988, Supplement 95-120 ( = ders., Foundations of Social Theory, 1990, Kapitel 12, S. 300-321.
[5] Robert D. Putnam, Bowling Alone: America’s Declining Social Capital, Journal of Democracy 6, 1995, 65-78; ders. Gesellschaft und Gemeinsinn, Sozialkapital im internationalen Vergleich, 2001 (Original: Bowling Alone, The Collapse and Revival of American Community, New York, NY 2001).