I. Soziologische Jurisprudenz als Reaktion auf die Begriffsjurisprudenz
Texte: Oskar von Bülow, Gesetz und Richteramt, 1885; Eugen Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, 1903; ders., Die richterliche Rechtsfindung auf Grund des Rechtssatzes, 1917; ders., Juristische Logik, 1918 (3. Aufl. 1966); Ernst Fuchs, Schreibjustiz und Richterkönigtum, 1907; ders., Die Gemeinschädlichkeit der konstruktiven Jurisprudenz, 1909; ders., Juristischer Kulturkampf, 1912; Albert S. Foulkes/Arthur Kaufmann (Hg.), Gerechtigkeitswissenschaft: Ausgewählte Schriften zur Freirechtslehre von Ernst Fuchs, 1965; Philipp Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, 1912; ders., Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112, 1914, 1-318; ders., Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932; Rudolf von Ihering, Geist des römischen Rechts auf verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 2. Aufl. 1866; ders., Der Kampf ums Recht, 1872; ders., Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, 1884; Hermann Ulrich Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie. Ausgewählte Schriften zur Wissenschaftslehre, hg. von Würtenberger, 1962; Arthur Nußbaum, Die Rechtstatsachenforschung. Programmschriften und praktische Beispiele, hg. von Manfred Rehbinder, 1968; Hans Wüstendörfer, Die deutsche Rechtsprechung am Wendepunkt. Versuch einer positiven Methode soziologischer Rechtsfindung, AcP 110, 1913, 219-380; Hans Wüstendörfer, Zur Methode soziologischer Rechtsfindung. Zwei systematische Abhandlungen, hg. v. Manfred Rehbinder, 1971.
Literatur: Karl Berthold Baum, Leon Petrazycki und seine Schüler, 1967; Bernhard Dombek, Das Verhältnis der Tübinger Schule zur deutschen Rechtssoziologie, 1969; Günter Ellscheid/Winfried Hassemer (Hg.), Interessenjurisprudenz, 1974; Christian Helfer, Rudolf von Ihering als Rechtssoziologe, KZfSS 20, 1968, 553-571; Arthur Kaufmann, Freirechtsbewegung – lebendig oder tot? JuS 1965, 1-9 (= Einl. zu Foulkes/Kaufmann, Hg., 1965); Dietmar Moench, Die methodologischen Bestrebungen der Freirechtsbewegung auf dem Wege zur Methodenlehre der Gegenwart, 1971; Karlheinz Muscheler, Relativismus und Freirecht, 1984; ders., Hermann Ulrich Kantorowicz. Eine Biographie, 1984; Klaus Riebschläger, Die Freirechtsbewegung, 1968; Jan Schröder, Zur Geschichte der juristischen Methodenlehre zwischen 1850 und 1933, Rechtsgeschichte 2008, 160-175; Luigi Lombardi Vallauri, Geschichte des Freirechts, 1967 (dt. 1971).
Soziologische Jurisprudenz als Reaktion auf die Begriffsjurisprudenz Die Entwicklung der Rechtssoziologie, insbesondere im deutschen Sprachraum, ist nicht verständlich, wenn man nicht die starken Impulse berücksichtigt, die die soziologischen Bemühungen um das Recht von den verschiedenen Schulen der soziologischen Jurisprudenz empfangen haben. § 12 befasst sich insoweit aber nur mit der historischen Entwicklung. Über die aktuellen Vorstellungen zu Theorie und Praxis soziologischer Jurisprudenz wird sich § 19 befassen.
Soziologische Jurisprudenz ist nicht selbst Rechtssoziologie, sondern eine juristische Methode. Man versteht darunter das Bemühen, soziologische Einsichten für die Rechtsgewinnung de lege lata nutzbar zu machen. Im Gegensatz zur soziologischen Jurisprudenz stehen das rationalistische Naturrecht, die historische Rechtsschule, Begriffsjurisprudenz und Gesetzespositivismus. Die geistesgeschichtliche Situation am Ende des 19. Jahrhunderts war dadurch gekennzeichnet, dass die Rechtswissenschaft den Glauben an das Naturrecht ebenso verloren hatte wie das Vertrauen in ein organisch wachsendes Volksrecht. Rechtsgeschichtlich war die Lage geprägt dadurch, dass zwar auf Landesebene einige Kodifikationen entstanden waren, sonst aber noch das gemeine (römische) Recht galt. Als Ersatz für die fehlende nationale Kodifikation diente die Pandektistik, die Dogmatik des gemeinen Rechts, eine sehr hoch stehende Rechtssystematik, verbunden mit Begriffsjurisprudenz. Erinnert sei
- an die von Puchta (1798-1846) entwickelte Genealogie der Begriffe, auch Begriffspyramide genannt, in der aus dem Oberbegriff des subjektiven Rechts alle anderen Rechtsbegriffe abgeleitet werden;
- an den verbreiteten Begriffsrealismus, der Rechte und Rechtslagen wie Dinge behandelt, die in Raum und Zeit existieren; die Folge bilden Konstruktionen wie die juristische Sekunde beim Durchgangserwerb, die darüber entscheidet, wer Inhaber des Rechts sein soll, oder die Unbeachtlichkeit des Doppelmangels, da ein nichtiges Rechtsgeschäft nicht mehr angefochten werden könne;
- an die sog. Inversionsmethode, die durch die vermeintlich objektive Definition eines Begriffes erst hineinsteckt, was am Ende als Interpretation herausgeholt wird.
Hinzu kam der Gesetzespositivismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der sich mit der Begriffsjurisprudenz verbündete. Zum Gesetzespositivismus gehört vor allem das Subsumtionsdogma, also die Vorstellung, dass alle Rechtsentscheidungen im Gesetz vorgezeichnet seien und in logisch einwandfreier Weise daraus abgeleitet werden könnten. Aus der Verbindung von Gesetzespositivismus und Begriffsjurisprudenz ergibt sich darüber hinaus das Dogma von der Lückenlosigkeit der Rechtsordnung, die in System und Gesetz auf jede Frage eine Antwort bereithält.
Entfremdung der Rechtswissenschaft von der gesellschaftlichen, politischen und moralischen Wirklichkeit des Rechts war die Folge. Daher war es kein Zufall, dass die Gegenbewegung nicht philosophischen Ursprungs war, sondern dass sie ihren Ausgang von der neu entstandenen Wissenschaft von der gesellschaftlichen Realität, von der Soziologie nahm.
Einen Anfang machte Rudolf von Ihering, der das Recht aus dem Begriffshimmel auf den Boden der Tatsachen zurückholen wollte. »Das Leben ist«, so schrieb er, »nicht der Begriffe, sondern die Begriffe des Lebens wegen da«. Anstöße für eine soziologische Rechtsbetrachtung setzte vor allem sein Werk über den »Zweck im Recht«. Der Zweck, so sagte er, sei der Schöpfer des gesamten Rechts. Bahnbrechend war ferner ein Vortrag von Oskar von Bülow mit dem Titel »Gesetz und Richteramt« im Jahre 1885. Er formulierte darin eine Entdeckung, die noch heute immer wieder als neu ausgegeben wird, die Entdeckung, dass jedes richterliche Urteil nicht nur Anwendung einer fertigen Norm ist, sondern eine rechtsschöpferische Leistung. Bülow ließ allerdings offen, wie die Richter ihren Spielraum ausfüllen, eine Frage, auf die sich später die Rechtssoziologie geworfen hat, ohne freilich bis heute eine befriedigende Antwort zu wissen (§ 40). Heute spricht man allgemeiner von der Unbestimmtheit des Rechts.
Viel mehr als Bülow sagte auch Ehrlich nicht in seinem 1903 erschienenen Vortrag mit dem Titel »Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft«. Er nahm in diesem Vortrag gegen das Geschlossenheitsdogma und gegen die Unehrlichkeit der begriffsjuristischen Methode Stellung und hat mit ihm der Freirechtsschule den Namen gegeben. In der Folgezeit bildeten sich zwei Schulen, nämlich die Freirechtsschule und die Tübinger Schule der Interessenjurisprudenz.
An der Spitze der Freirechtsschule standen Eugen Ehrlich, der schon erwähnte Hermann Kantorowicz und der Karlsruher Anwalt Ernst Fuchs. Die Tübinger Schule der Interessenjurisprudenz bildete sich um den Juristen Philipp Heck. Zu ihr rechnet man Max Rümelin, Heinrich Stoll, Eugen Locher und im weiteren Sinne auch die Zivilrechtslehrer Paul Oertmann und Rudolf Müller-Erzbach. Daneben ist noch Hans Wüstendörfer mit einer eigenständigen Ausprägung der Interessenjurisprudenz zu nennen.
Freirechtsschule und Interessenjurisprudenz: Was ist beiden Schulen gemeinsam? Was unterscheidet sie? Beiden Schulen gemeinsam ist, dass sie den Entscheidungsspielraum herausgestellt haben, den der Richter auch im Gesetzesstaat noch immer ausfüllen muss. Die Programme des Gesetzgebers sind sprachlich oft nicht eindeutig. Sie enthalten technische Mängel und von vornherein bewusste und unbewusste Lücken. Weitere Lücken entstehen ständig neu, weil das Gesetz stehenbleibt, die soziale Entwicklung aber fortschreitet.
Beiden Schulen ist gemeinsam, dass sie gegen die sog. Begriffsjurisprudenz Front machen, indem sie zeigen, dass juristische Konstruktion kein logisches Verfahren ist, sondern die einfließenden Wertungen nur versteckt. Beiden Schulen gemeinsam ist schließlich, dass sie eine stärkere Berücksichtigung der sozialen Wirklichkeit bei der Rechtsfindung fordern und sich dazu auf die in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg zum ersten Mal aufblühende Rechtssoziologie berufen. Deshalb bezeichnet man Freirechtsschule und Interessenjurisprudenz auch als soziologische Jurisprudenz.
II. Die Freirechtsschule
Was üblicherweise Freirechtsschule genannt wird, waren eigentlich nur etwa gleichzeitige und gleichgerichtete Bemühungen um neue Grundeinstellung zum Verhältnis von Gesetz und Recht.
Bei der Freirechtsschule gibt es zwei Strömungen. Die eine wird vor allem durch Ehrlich repräsentiert. »Bei Lücken im Recht greift zum lebenden Recht«, so lautete sein Grundsatz. Heute würde er vielleicht aus dem Umstand, dass allgemein bei Verkäufen im Rahmen eines Gewerbebetriebes ein Eigentumsvorbehalt vereinbart wird, den Schluss ziehen, dass eine besondere Vereinbarung darüber gar nicht mehr nötig sei.
Eine andere Strömung der Freirechtsschule, wie sie vor allem durch Hermann Kantorowicz und Ernst Fuchs vertreten wurde, erhoffte sich dagegen besseres Recht aus einer schöpferischen Tat der Richterpersönlichkeit. Man forderte, dass der Richter sich eine möglichst umfassende Kenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit aneignen solle, und vertraute darauf, dass er auf Grund solcher Kenntnis eine bessere Entscheidung zustande bringen werde. Eine methodische Anleitung, wie aus den Tatsachen die rechtliche Entscheidung abgeleitet werden könnte, blieb man aber schuldig. Stattdessen forderte man eine bessere, insbesondere auch eine soziologische und psychologische Ausbildung der Richter und eine Aufwertung ihrer Rolle nach englischem Vorbild. Wegen dieses Vertrauens in die persönliche Entscheidung des Richters spricht man vom Voluntarismus der Freirechtsschule.
Was die Freirechtsschule damals wollte, ist bis in die jüngste Zeit aktuell geblieben. Die gleichen Forderungen wiederholen sich in vielen Vorschlägen für die Ausbildungsreform und in dem Kampf um eine höhere Richterbesoldung. Max Weber ist solchen Bestrebungen kritisch entgegengetreten. Er hat von Irrationalismus und Standesideologie gesprochen. Heute müsste man eigentlich noch viel besser wissen, dass Richterpersönlichkeiten ein methodisches Verfahren der Entscheidungsfindung nicht ersetzen können. Die große Masse der Wertungen, die ein Mensch vollzieht, ist nicht seine eigene Schöpfung, sondern das Ergebnis des Sozialisationsprozesses. Was wir an Anschauungen von uns geben, stammt zum größten Teil aus Elternhaus und Schule und späterhin aus der Universitätszeit. Die Richtersoziologie hat darüber hinaus gezeigt, dass sich die Richterschaft aus einer sehr schmalen Schicht mit sehr homogenen Wertvorstellungen rekrutiert. Es besteht die Vermutung, dass die schichtspezifischen Interessen und Werthaltungen der Richter auch in ihren Urteilen zum Durchbruch kommen, soweit dort ein Spielraum für Ermessensentscheidungen besteht. Die Richterpersönlichkeit, mag sie subjektiv von den lautersten Motiven geleitet sein, bietet daher keinen Ersatz für eine juristische Methode.
III. Die Interessenjurisprudenz
Eine solche Methode hat im Gegensatz zur Freirechtsschule Philipp Heck mit seiner Interessenjurisprudenz vorgeschlagen. Larenz, der der Lehre Hecks sehr kritisch gegenübersteht, hat von ihr gesagt, ihre Bedeutung könne kaum überschätzt werden[1], und in der Tat ist eine simplifizierte Interessenjurisprudenz heute die Praktikermethode schlechthin.
Aufbauen konnte Heck auf dem Werk Rudolf von Iherings. Der Grundgedanke seines Werkes besteht darin, dass der »Zweck der Schöpfer des gesamten Rechts« ist, dass es »keinen Rechtssatz gibt, der nicht einem Zweck, das ist einem praktischen Motiv, seinen Ursprung verdankt«. Unter Zweck verstand Ihering dabei nicht ein vom Gesetzgeber sich selbst gegebenes Ziel, sondern die in der Gesellschaft auftretenden Bedürfnisse und Wünsche. Diese Bedürfnisse und Wünsche der Gesellschaft bilden die von Heck sog. Interessen. In den Interessen sieht Heck die treibende Kraft der Gesetzgebung. Die Gesetze sind für ihn nur die »Resultanten oder Kraftdiagonalen der in jeder Rechtsgemeinschaft einander gegenübertretenden und um Anerkennung ringenden Interessen«. Daraus entsteht das Bild vom Parallelogramm der Kräfte, in dem das Rechtsgesetz die Diagonale im sozialen Kräftefeld bildet.
So lautet etwa – auf die kürzeste Formel gebracht – die genetische Interessenjurisprudenz von Heck, genetisch deshalb, weil sie die Entstehung des Gesetzesrechts erklären will. Offensichtlich handelt es sich dabei um eine soziologische Rechtstheorie, denn die Kausalfaktoren, aus deren Zusammenwirken das Recht erklärt wird, sind sozialer Art, es sind die Begehrungen und Begehrungstendenzen der Menschen, kurz ihre Interessen. Genauer betrachtet handelt es sich um eine Konflikttheorie der Rechtsentstehung, denn das Recht wird als Ergebnis und Abgrenzung widerstreitender Interessen verstanden.
Die genetische Interessenjurisprudenz bildet aber nur den Ausgangspunkt für eine juristische Methode, um unterhalb des Gesetzes, also de lege lata, neue Entscheidungen zu produzieren. Diese Methode nennt Heck daher produktive Interessenjurisprudenz. Er hat sie mit seiner 1912 in Tübingen gehaltenen Rektoratsrede (Das Problem der Rechtsgewinnung) vorgestellt. Darin schlägt er vor, dass der Richter dort, wo das Gesetz Unklarheiten oder Lücken zeigt, bei seiner Entscheidung die im Gesetz erkennbare grundsätzliche Interessenwertung zugrunde legen soll, und, wo eine solche Interessenabgrenzung durch den Gesetzgeber nicht erkennbar ist, selbst zu einer Abgrenzung der Interessen berufen ist.
IV. Die Rechtstatsachenforschung
Literatur: Aristide Chiollis/Wolfgang Fikentscher (Hg.), Rechtstatsachenforschung, 1985; Wolfgang Dreher, Grundlagen der sozialrechtlichen Rechtstatsachenforschung, Vierteljahresschrift für Sozialrecht, 1990, 21–56; Wolfgang Heinz, Rechtstatsachenforschung heute, 1986, 2. Aufl. 1998; ders., Strafrechtliche Rechtstsachenforschung und empirische Kriminologie, in: Müller-Dietz (Hg.) 1994 – Dreißig Jahre Südwestdeutsche und Schweizerische Kriminologische Kolloquien, 1994, 128-174; Arthur Nußbaum, Die Rechtstatsachenforschung, 1914; ders., Das Nießbrauchsrecht des BGB unter den Gesichtspunkten der Rechtstatsachenforschung, 1919; beides wiederabgedruckt in ders., Die Rechtstatsachenforschung. Programmschriften und praktische Beispiele, hg. von Manfred Rehbinder, 1968; Manfred Rehbinder, Die Rechtstatsachenforschung im Schnittpunkt von Rechtssoziologie und soziologischer Jurispudenz, JbRSoz 1, 1970, 333-359; Klaus F. Röhl, Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung, 1974; Bertram Schulin/Wolfgang Dreher (Hg.), Sozialrechtliche Rechtstatsachenforschung, 1987.
Neben diesen beiden soziologischen Rechtsschulen steht die von Arthur Nußbaum (1877-1964) begründete Rechtstatsachenforschung. Die Schulen der soziologischen Jurisprudenz waren sicher auch eine Reaktion auf die umfangreiche Justizkritik, die in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg in der aufblühenden Presse einen breiten Raum einnahm. Sozialdemokraten und Gewerkschaften polemisierten gegen die »Klassenjustiz«; die Rechten fanden die Justiz zu schlapp. Kaufmannschaft und Industrie dagegen klagten über »Lebensfremdheit« und »Wirtschaftsferne« der Richter (Schröder). Arthur Nußbaums Ruf nach Rechtstatsachenforschung scheint eine Antwort auf diese Klage zu sein. Zunächst Anwalt und seit 1914 Privatdozent für Handels-, Bank- und Börsenrecht in Berlin, hat er die Diskussion um Freirechtsschule und Interessenjurisprudenz natürlich gekannt, aber sich nicht direkt an ihr beteiligt. Stattdessen hat er dazu aufgerufen, praktisch mit der Erforschung der Rechtswirklichkeit zu beginnen und damit auch selbst einen Anfang gemacht.
»Was wir in Lehrbüchern, Kommentaren, Monographien finden«, so schrieb Nußbaum, »ist zu einem sehr beträchtlichen Teile gegenstandslos und überflüssig, während die für das Leben wirklich wichtigen Dinge durchweg zu kurz kommen …Nur die Erforschung der Rechtswirklichkeit kann dazu verhelfen, den ungeheuren Ballast, den die dogmatische Rechtslehre mit sich führt, endlich als solchen zu erkennen und seinem verdienten Schicksal zu überliefern«. (1919, Vorwort.)
Grundlegend ist Nußbaums 1914 in der Reihe »Recht und Staat« bei Mohr in Tübingen erschienener Vortrag »Die Rechtstatsachenforschung, ihre Bedeutung für Wissenschaft und Unterricht«. Nußbaum betont zunächst, dass die Rechtsdogmatik das Kernstück der Rechtswissenschaft bleiben müsse und nicht durch eine soziologische Jurisprudenz im Sinne von Ehrlich oder Ernst Fuchs ersetzt werden könne, aber durch eine Wissenschaft von denjenigen »Tatsachen, deren Kenntnis für ein volles Verständnis und eine sachgemäße Anwendung der Normen« erforderlich sei, ergänzt werden müsse. Es soll sich dabei um Tatsachen wirtschaftlicher, rein politischer, gesellschaftlicher und psychologischer Natur handeln, die lediglich nach den Bedürfnissen der Rechtslehre selbst auszuwählen seien. Wegen ihrer spezifischen juristischen Färbung könne für sie der Ausdruck Rechtstatsachen gewählt werden. In erster Linie gelte es zu erforschen, wie das Gesetz von den Gerichten und dem Publikum tatsächlich angewendet werde, welche Zwecke tatsächlich mit den Normen verbunden würden und welche Wirkungen die Gesetze äußerten. Dabei hebt Nußbaum immer wieder hervor, dass die »typischen« Erscheinungen des Rechtslebens erforscht werden müssten. Das alles sei aber nicht Selbstzweck, sondern für die Dogmatik ein unentbehrlicher Wegweiser, der sie zu fruchtbaren Problemen leite und gegenstandslose Probleme als solche erkennen lasse.
Neben der Aufdeckung der praktisch wichtigen Rechtsfragen, denen sich dann die Dogmatik zuzuwenden hätte, hat Nußbaum stets ganz besonders die pädagogische Bedeutung der Rechtstatsachenforschung herausgestellt. Sie könne der besseren Auswahl, Bereicherung und Vertiefung des juristischen Lehrstoffes dienen und sei notwendig, um den praktisch tätigen Juristen auf seinen Beruf vorzubereiten. Nußbaum erwartete von der Rechtstatsachenforschung juristischen Anschauungsstoff. In seinen eigenen Lehrbüchern versuchte er, dem Leser eine Anschauung der Rechtswirklichkeit zu geben, um seinen Sinn für die Tatsachen des Rechtslebens zu schärfen.
Wie so oft gibt es Vorläufer. Erwähnung verdient der Leipziger Hochschullehrer Adolf Wach mit einer Umfrage zur Civilprozeßordnung, einem der drei Reichsjustizgesetze von 1879, die das bis dahin zersplitterte und zum Teil antiquierte Prozessrecht reformieren und kodifizieren sollte. Die Hoffnungen in das neue Gesetz erfüllten sich jedoch nicht, denn es erwies sich bald als ideales Instrument zur Prozessverschleppung. Wach unternahm daraufhin 1887 die erste größere empirische Justizstudie, indem er Fragebögen an 170 Gerichte verschickte. Bei der Analyse der Antworten kam er zu dem Ergebnis, dass die Gerichte die ihnen in dem neuen Gesetz angebotenen Möglichkeiten für ein effektives Verfahren nur zögerlich anwandten und versuchten, daraus resultierende Mehrbelastungen durch Umgehung des Gesetzes zu vermeiden.[2]
Rechtstatsachenforschung im Sinne Nußbaums kann grundsätzlich für alle Rechtsgebiete betrieben werden. Die von Nußbaum eingeleitete Entwicklung hat jedoch dazu geführt, dass der Begriff der Rechtstatsachenforschung weitgehend für das Privatrecht reserviert geblieben ist. Zwar ist diese thematische Beschränkung in der Programmschrift Nußbaums nicht ausdrücklich vorgezeichnet und auch aus der Sache nicht notwendig. Sie gibt aber die Grenzen wieder, in denen Nußbaum, der selbst Zivilrechtler war, und seine Schüler das Programm der Rechtstatsachenforschung verwirklicht haben. Dabei ist es weitgehend geblieben, da sich als die der Strafrechtsdogmatik zugeordnete empirische Sozialforschung die Kriminologie etabliert hat.
Der Kriminologie Wolfgang Heinz hat versucht, diese Entwicklung mit der Gründung des Instituts für Rechtstatsachenforschung an der Universität Konstanz (1982) rückgängig zu machen. Satzungsgemäß sollten im Institut insbesondere folgende Forschungsrichtungen gepflegt werden:
- Strafrechtliche Rechtstatsachenforschung und empirische Kriminologie.
- Privatrechtliche Rechtstatsachenforschung, insbesondere im Bereich des Arbeitsrechts.
- Wirtschaftsrechtliche Rechtstatsachenforschung unter besonderer Berücksichtigung des internationalen Wirtschaftsrechts.
- Öffentlich-rechtliche Rechtstatsachenforschung[3].
- Verfahrensrechtliche Rechtstatsachenforschung.
Durch die Zusammenarbeit mit der von dem Richter Rolf Bender initiierten Praktikerforschungsgruppe am OLG Stuttgart, die zeitweise als »Institut für Rechtstatsachenforschung, Stuttgart e. V.« firmierte, entstand jedoch alsbald ein zivilrechtlicher Schwerpunkt. Bis 1997 sind in den Konstanzer Schriften zur Rechtstatsachenforschung, herausgegeben von Wolfgang Heinz, 10 Bände erschienen, die dieser Thematik entsprechen. Danach bricht die Reihe der Publikationen ab. Die strafrechtliche Rechtstatsachenforschung bestand vor allem einer Aufbereitung der Kriminalstatistik zum Konstanzer Inventar Sanktionsforschung und Kriminalitätsentwicklung.
Für das öffentliche Recht sind die Verwaltungswissenschaften zuständig sind. Nur für das Sozialrecht hat man, anknüpfend an Nußbaum, nicht nur die die Idee, sondern auch die Bezeichnung als Rechtstatsachenforschung aufgegriffen.
Der Unterschied zur Rechtssoziologie liegt darin, dass Rechtstatsachenforschung als juristische Hilfswissenschaft ohne theoretischen Anspruch antritt. Die Rechtssoziologie dagegen versteht sich als eine alle Erscheinungen des Rechts umfassende sozialwissenschaftliche Disziplin mit eigenen Erkenntnisinteressen, die sich ihre Themen nicht vom Recht und den Juristen vorgeben lässt. Auf der anderen Seite fehlt es der Rechtsdogmatik noch immer an einer Theorie der Rechtsgewinnung mit Hilfe der Rechtstatsachenforschung. Solange die Kernfrage der soziologischen Jurisprudenz, was man mit den Ergebnissen der empirischen Sozialforschung anfangen kann, nicht auch theoretisch besser geklärt ist – dazu § 19 –, bleibt die Rechtstatsachenforschung dem Vorwurf der Stoffhuberei ausgesetzt. Darin besteht sich das Dilemma der Rechtstatsachenforschung. In der Folge ist die Rechtstatsachenforschung verkümmert. Es gibt zwar immer wieder Untersuchungen, die sich als Rechtstatsachenforschung einordnen ließen. Aber der Begriff wird nicht mehr verwendet. Das hat nicht zuletzt auch mit dem Aufstieg der professionellen Auftrags- und Berichtsforschung zu tun, mag diese auch in erster Linie für den Gesetzgeber tätig werden.
V. Auftrags- und Berichtsforschung
Ohne Empirie wäre Rechtssoziologie nicht viel mehr als Feuilleton. Doch Empirie ist aufwendig. Die alte Generation der Rechtssoziologen, meistens Juristen, hat empirische Sozialforschung hauptsächlich im Do-it-yourself-Verfahren veranstaltet. Inzwischen ist empirische Forschung aber anspruchsvoller und aufwendiger geworden. Selbst bei den Fachsoziologen konzentriert sich die empirische Forschung daher mehr und mehr auf Spezialisten und spezialisierte Institute und Großvorhaben. Zugleich mit dieser Entwicklung hat sich aber eine andere Quelle für Informationen über die Realität aufgetan, nämlich Berichte aller Art, die für Parlamente, Ministerien, Ämter usw. erstellt werden. Früher sprach man insoweit von Ressortforschung.
Teilweise sind solche Berichte sogar gesetzlich vorgeschrieben. Beispiele:
- Sozialbericht der Bundesregierung,
- Existenzminimumbericht,
- Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung,
- Familienbericht des BMFSJ,
- Behindertenbericht des BMAS,
- Medienkonzentrationsbericht der KEK,
- Gesundheitsbericht des Robert-Koch-Instituts,
- Bundeslagebild Korruption des Bundeskriminalamtes,
- Jahresberichte des Nationaler Normenkontrollrats,
- usw.
Ähnliche Berichtsforschung gibt es natürlich auch in anderen Staaten. Eine Fülle von Berichten wird auch von internationalen Institutionen erstellt oder angefordert, etwa von der UNO, der Weltbank oder von der OECD. Das hat einen Grund u. a. drin, dass Berichtspflichten zu einem wichtigen Instrument des so genannten Soft Law geworden sind. Auch zivilgesellschaftliche Institutionen haben sich die Erstellung von Berichten zur Aufgabe gemacht, in Deutschland etwa die Bertelsmann-Stiftung oder die Friedrich-Ebert-Stiftung, international Amnesty International, Transparency International oder das World Economic Forum. Häufig sind solche Institutionen auch an der Erstellung von »offiziellen« Berichten beteiligt.
Für eine ausführlichere Darstellung sei verwiesen auf:
Klaus F. Röhl, Ressort- und Berichtsforschung als Datenquelle, in: Matthias Mahlmann (Hg.), Gesellschaft und Gerechtigkeit, Festschrift für Hubert Rottleuthner, 2011, S. 357-393.
[1] Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1975, S. 53.
[2] Adolf Wach, Die civilprozessualistische Enquete, Zeitschrift für Deutschen Zivilprozeß Ergänzungsheft zu Band XI, 1887, 122.
[3] Dazu damals Andreas Voßkuhle, Verwaltungsdogmatik und Rechtstatsachenforschung, Verwaltungsarchiv 86, 1994, 567-585.