§ 12 Sociological Jurisprudence und Legal Realism

Texte: Frederick K. Beutel, Experimentelle Rechtswissenschaft, 1971; Dickinson, Legal Rules: Their Function in the Process of Decision, University of Pennsylvania Law Review 79, 1931, 833 ff.; Jerome Frank, Law and the Modern Mind, 1930; ders., Courts on Trial – Myth and Reality in American Justice, 1949; Oliver Wendell Holmes, The Path of Law, Harvard Law Review 10, 1897, 457-478; ders., Collected Legal Papers, 1920; Joseph C. Hutcheson, The Jugdment Intuitive: The Function of the »Hunch« in Judicial Decision, Cornell Law Quarterly 14, 1929,  274-288; Karl N. Llewellyn, The Bramble Bush, 1930; ders., A Realistic Jurisprudence — The Next Step, Columbia Law Review 30, 1930, 431-465; ders., Some Realism about Realism, Harvard Law Review 44, 1931, 1222-1264; ders./Adam Hoebel, The Cheyenne Way, 1941; Karl N. Llewellyn, Recht, Rechtsleben und Gesellschaft, aus dem Nachlass hg. von Manfred Rehbinder, 1977; Roscoe Pound, The Causes of Popular Dissatisfaction with the Administration of Justice, American Law Review 29, 1906, 395-371; ders., The Need of a Sociological Jurisprudence, Green Bag 19, 1907 S. 607 ff.; ders., Common Law and Legislation, Harvard Law Review 21, 1908, 383-407; ders., Law in the Books and Law in Action, American Law Review 44, 1910, 12-36; ders., The Scope and Purpose of Sociological Jurisprudence (3 Teile), Harvard Law Review 24, 1911, 591-619, Teil 2 25, 1912, 140-168, Teil 3 25, 1912, 468-516; ders., The Limits of Effective Legal Action, International Journal of Ethiccs 17, 1917, 150-167; ders., Interpretations of Legal History, 1923; ders., The Call for a Realistic Jurisprudence, Harvard Law Review 44, 1931, 697-711; ders., Social Control Through Law, 1942, ders., A Survey of Social Interests, Harvard Law Review 57, 1943, 1-39, Teil 2 58, 1945, 909-929; ders., Sociology of Law, in, 1945, 301 ff., ders., Jurisprudence, 5 Bde., 1959; Theodore Schroeder, The Psychologic Study of Judicial Opinions, California Law Review 6, 1918, 89.113.

Sekundärliteratur: Gerhard Casper, Juristischer Realismus und politische Theorie im amerikanischen Rechtsdenken, 1967; Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts Bd. II: Anglo-amerikanischer Rechtskreis, 1975; Brian Leiter, Legal Formalism and Legal Realism: What Is the Issue?, Legal Theory 16, 2010, 111-133; Susan Haack, On Legal Pragmatism: Where Does »The Path of the Law« Lead Us??, American Journal of Jurisprudence 50, 2005, 71-105; Maria-Anna Rea-Frauchiger, Der amerikanische Rechtsrealismus: Karl N. Llewellyn, Jerome Frank, Underhill Moore, 2011; Manfred Rehbinder, Entwicklung und gegenwärtiger Stand der Rechtstatsachenforschung in den USA, 1970; John Henry Schlegel, American Legal Realism und Empirical Social Science, Buffalo Law Review 28, 1979, 459-586; ders., The Singular Case of Underhill Moore, Buffalo Law Review 30, 1980, 195-323; Brian Z. Tamanaha, Beyond the Formalist-Realist Divide. The Role of Politics in Judging, 2009 [Teile des Buchs im Internet: The Bogus Tale About the Legal Formalists; Understanding Legal Realism]; William L. Twining, Karl Llewellyn and the Realist Movement, 1973; Manuel Vargas/Joshua P. Davis, American Legal Realism and Practical Guidance, in: G. Pavlakos/V. Rodriguez-Blanco (Hg.), Reasons and Intentions in Law and Practical Agency, 2014, S. 267ff = SSRN http://ssrn.com/abstract=2357732.David Wigdor, Roscoe Pound, 1974.

I.  Der Hintergrund: Fallrecht und Pragmatismus

In dem vom Fallrecht (case-law) geprägten anglo-amerikanischen Rechtskreis geht es empirischer und pragmatischer, jedenfalls weniger systematisch und doktrinär zu als in den von Kodifikationen beherrschten kontinental-europäischen Rechtssystemen. Es fällt daher auch schwerer, den Gehalt einer Lehre in wenigen Sätzen und Begriffen anzudeuten. Das gilt umso mehr, wenn einige Voraussetzungen fehlen, die zum vollen Verständnis unerlässlich sind. Dazu gehört vor allem die Kenntnis der Schule der analytical jurisprudence von John Austin, die für England und Amerika etwa dasselbe bedeutet wie hier die Begriffsjurisprudenz, und die wie jene sozusagen der Stein des Anstoßes war, um mit rechtssoziologischen Fragestellungen zu beginnen. Dazu gehört aber ebenso die von Charles S. Peirce, John Dewey und William James[1] begründete philosophische Richtung des Pragmatismus, eine amerikanische Spezialität, die den philosophischen Hintergrund der dortigen Rechtssoziologie abgibt. Auf der anderen Seite scheint das Common Law eine sozialwissenschaftliche Bearbeitung stärker herauszufordern als das kontinentale Recht. Dafür sind vor allem drei Gründe maßgebend. Erstens reizt die Jury, die ohne Begründung entscheidet, immer wieder die Sozialwissenschaftler, den Motiven ihrer Verdikte auf die Spur zu kommen. Zweitens besteht der Wunsch, nach möglichen Prinzipien zu suchen, die an Stelle staatlicher Gesetze die Rechtsprechung leiten können. Drittens zeigt das Common Law wegen seiner dezentralen Fortentwicklung, nicht zuletzt in den vielen Einzelstaaten der USA, ein eher pluralistisches Bild, das sich von der Vorstellung eines monolithischen staatlichen Rechts abhebt.

In einem Vortrag vor der Harvard Law School (The Path of Law, 1897) fand Justice Oliver Wendell Holmes (1841-1935) Formulierungen, die programmatisch und repräsentativ für die beiden frühen Hauptströmungen der Rechtssoziologie in den USA geworden sind. Um das Recht als soziale Tatsache von Moral und juristischer Theorie abzuheben, verwies er auf die Sicht eines Bösewichts:

»If you want to know the law and nothing else, you must look at it as a bad man, who cares only for the material consequences which such knowledge enables him to predict, not a good one, who finds his reason for conduct whether inside the law or outside of it, in the vaguer sanction of conscience« (1921, 171). … »What constitutes the law? You will find some textwriters telling you that it is some thing different from what is decided by the courts of Massachusetts or England, that it is a system of reason, that it is a deduction from principles of ethics or admitted axioms or what not, which may or may not coincide with decisions. But if we take the view of our friend the bad man we shall find that he does not care two straws for what the Massachusetts Courts are likely to do in fact. I am much of his mind. The prophecies of what the courts will do in fact, and nothing more pretentious, are what I mean by the law«.

Als Methode einer derart realistischen Rechtsbetrachtung empfahl Holmes vorläufig die historische, freilich nicht als Selbstzweck, sondern als Erfahrungsbasis für Entscheidungsprognosen:

»For the rational study of Law the black-letter man may be the man of the present, but the man of the future is the man of statistics and the master of economics.« (1922, 187)

II. Die Schule der Sociological Jurisprudence

Als das Haupt dieser Schule gilt Roscoe Pound (1870-1964), Rechtslehrer in Harvard, ein Gelehrter, der nicht zuletzt durch seine unübertroffene Belesenheit auch in der europäischen Literatur hervortrat. Die Titel vieler seiner Aufsätze sind zum Schlagwort geworden: »The Need for a Sociological Jurisprudence« (1907), »Mechanical Jurisprudence« (1909), »Law in the Books and Law in Action« (1910), »The Limits of Effective Legal Action« (1917), »A Survey of Social Interests« (1943/45) oder »Social Control trough Law« (1942). Zu dieser Schule zählen ferner der eben genannte Holmes, Benjamin N. Cardozo (1870-1930) und Louis Brandeis (1856-1941). Alle drei waren Richter am Supreme Court, dem obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Sie vertraten eine eklektizistische Mischung von Rechtssoziologie und soziologischer Jurisprudenz. Es ging ihnen darum, die in der Gesellschaft vorhandenen Interessen zu bestimmen und zu untersuchen, wie das Recht zu einer optimalen Bedürfnisbefriedigung eingesetzt werden könne. Recht war für sie nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck, »a means not an end« (Pound, 1907, 614). Für diese instrumentale Auffassung vom Recht prägte Pound den Ausdruck social engineering (1923, 152).

»Let us think of jurisprudence for a moment as a science of social engineering, having to do with that part of the whole field which may be achieved by the ordering of human relations through the action of politically organized society«.

Aus dieser Sicht stellten Pound und seine Anhänger die Frage nach den spezifischen Vorzügen und Nachteilen von Gesetzgebung und Rechtsprechung für eine interessengerechte Gestaltung der Gesellschaft. Soziologisch ging es ihnen darum, das Recht mit nichtrechtlichen Faktoren, d. h. mit anderen sozialen Erscheinungen, in Verbindung zu bringen. Dieses Bemühen kommt in einer Reihe von griffigen Thesen zum Ausdruck: Gesetze und Urteile haben Folgen für das Sozialleben; sozialer Wandel determiniert die Entwicklung des Rechts; die Effektivität der Rechtsnormen hängt vom Grad der Unterstützung ab, den sie in der öffentlichen Meinung finden, usw. All das klingt heute banal. Zu Beginn unseres Jahrhunderts waren solche Gedanken jedoch eher revolutionär.

Ein wichtiger theoretischer Beitrag dieser Schule für die Rechtssoziologie besteht darin, dass sie das Recht in die allgemeine Kategorie der sozialen Kontrolle eingefügt hat. Roscoe Pound stand unter dem unmittelbaren Einfluss des Schöpfers dieses Begriffes, Edward A. Ross[2]. Für Ross und die amerikanische Soziologie umfasst die soziale Kontrolle die Gesamtheit der Mittel, mit denen die Gesellschaft ihren Zusammenhalt gewährleistet. Es handelt sich hierbei nicht unbedingt um Verhaltensregelungen und schon gar nicht unbedingt um sanktionsbewehrte, sondern um eine sehr abgeschwächte Formulierung des sozialen Zwanges. In bestimmten Aufzählungen der Formen dieser Kontrolle sind neben Sitte und Moral so disparate Dinge wie die Erziehung oder Kunst, persönliche Ideale oder Schmeicheleien enthalten. Im Grenzfall liegt schon beim geringsten Einfluss des Ganzen auf die Teile eine Erscheinung der sozialen Kontrolle vor. Das Recht stand bereits in den herkömmlichen Listen, und das besondere Verdienst von Roscoe Pound war es, die Stellung des Rechts auf dieser Grundlage neu überdacht und in seinem Wesen als Element in der Gesamtheit der sozialen Kontrolle neu definiert zu haben. Das Recht bildet für Pound in modernen Gesellschaften das wichtigste Instrument der sozialen Kontrolle und zugleich das vollkommenste.

Brandeis machte Geschichte, indem er die Argumentation mit der sozialen Realität in die Verfassungsgerichtspraxis einbrachte. Der Bundesstaat Oregon hatte ein Gesetz erlassen, das die Arbeitszeit von Frauen auf zehn Stunden begrenzte. Als 1907 die Verfassungsmäßigkeit dieses Gesetzes unter Berufung auf die Eigentums- und Freiheitsgarantie des 14. Amendments der Bundesverfassung bestritten wurde, vertrat Brandeis den Staat Oregon vor dem Supreme Court der Vereinigten Staaten. Zur Rechtfertigung des Gesetzes reichte er einen Schriftsatz (brief) ein, dessen Rechtsausführungen sich auf zwei Seiten beschränkten. Aber auf über 100 Seiten bot er empirisches Material über die Auswirkung längerer Arbeitszeiten auf die Gesundheit und soziale Lage der Frauen in Form von medizinischen Gutachten, soziologischen Erhebungen und Statistiken. Davon zeigte sich das Gericht so beeindruckt, dass es im Gegensatz zu der bis dahin vorherrschenden Auffassung von der Unzulässigkeit derartiger sozialer Schutzgesetze das Gesetz passieren ließ.

III.  Legal Realism

Der zweite und jüngere Wegbereiter der amerikanischen Rechtssoziologie ist der Legal Realism. Das erste Holmes-Zitat enthält im Grunde die ganze prediction theory of law der Realisten. Sie verlegen alles Recht in das Urteilsverhalten der Richter. Sie wollen beschreiben und erklären, wie Gerichte tatsächlich urteilen, wobei sie voraussetzen, dass Gesetze und Präjudizien allein keine hinreichende Erklärung abgeben (Regelskeptizismus), aber auch bezweifeln, dass richterliche Tatsachenermittlung ein objektiver Vorgang sei (Tatsachenskeptizismus).

Karl N. Llewellyn (1893-1962) gilt als der bedeutendste Theoretiker des Legal Realism. Mit seiner 1930 erschienenen Schrift »Eine realistische Rechtswissenschaft – Der nächste Schritt« hat er der Bewegung den Namen gegeben. Llewellyn, der aus einer deutsch-irischen Familie des amerikanischen Mittelwestens stammt, wurde bei einem Onkel in Ostpreußen erzogen und 1914 sogar vorübergehend irrtümlich zur deutschen Wehrmacht eingezogen. Eine Vorlesung, die er 1931/32 als Gastprofessor in Leipzig hielt, ist auch in deutscher Sprache veröffentlicht worden (Llewellyn, 1977). Seine Grundgedanken lassen sich etwa wie folgt zusammenfassen:

  • Recht ist vor allem eine Schöpfung des Richters.
  • Recht ist ständig im Fluss.
  • Die Gesellschaft verändert sich schneller als Recht, so dass jeder Teil der Rechtsordnung ständiger Überprüfung bedarf, ob er noch der Gesellschaft adäquat ist, der er dienen soll.
  • Der Annahme, dass die traditionellen, normativen Rechtsregeln der wirksamste Faktor beim Zustandekommen von Gerichtsentscheidungen sind, ist zu misstrauen (Regelskeptizismus).
  • Als Rechtsregel sind stattdessen die verallgemeinerten Aussagen darüber zu erforschen, wie die Gerichte voraussichtlich entscheiden werden (prediction theory of law).

Jerome Frank (1889-1957) gab dem Realismus eine Wende zur Psychologie[3]. Er schrieb 1930 ein Buch mit dem Titel »Law and the Modern Mind«, das polemisch und aufklärerisch die Atavismen von Recht und Rechtswissenschaft aufdecken wollte. Er vertrat darin die These, das Recht sei Vaterersatz (father-substitute) im psychoanalytischen Sinn. Er meinte, die Menschen klammerten sich nur deshalb an das Recht, weil sie aus der kindlichen Geborgenheit unter väterlicher Autorität herausgetreten seien, und nun nach einem neuen Symbol der Ordnung suchten. Das Verhalten des modernen Menschen dürfe sich aber nicht nach einem solchen Relikt aus dem Kindheitsstadium richten. Frank ist von diesen extremen Thesen später abgerückt. Er gehörte zu den fact-sceptics unter den Realisten. Das entscheidende Moment richterlicher Urteilsfindung vermutete er in der Umsetzung einer irrationalen, nur psychologisch erklärbaren Dezision. Er stellte in seinen Arbeiten zahlreiche Indizien zusammen, die die These stützen sollten, dass die vom Gericht ermittelten Tatsachen nicht objektiv sind, sondern bestenfalls das, wofür die Richter sie halten. Soweit etwa der Richter sich auf Zeugenbeweis stütze, lege er nur seine subjektive Meinung über die subjektive Meinung eines anderen zugrunde. Frank wies auch darauf hin, dass sogenannte Fakten bloße Daten sind, die von sich aus keinen Sinn mitbringen; sie erhalten als Realitätsfragmente erst dadurch einen Sinn, dass der Interpret sich ein Bild der Wirklichkeit zurechtlegt und ihnen darin einen Platz zuweist. Auch dieser Zusammenhang ist längst zu einem Gemeinplatz der juristischen Methodenlehre geworden.

Grundsätzlich waren sich die Realisten einig über die Personengebundenheit der Faktenfindung und über die vielfältigen Möglichkeiten, die es Gerichten erlauben, Gesetze und Präzedenzfälle in der von ihnen gewünschten Weise einzusetzen. Man stritt jedoch darüber, ob Gesetze und Präjudizien überhaupt in irgendeiner Weise die richterliche Entscheidungstätigkeit steuern oder ob sie völlig vernachlässigt werden können, wenn es gilt, den Inhalt einer Entscheidung vorauszusagen oder zu erklären, so dass allein auf die jeweilige Richterpersönlichkeit gesehen werden müsse. Zwei Ansichten schälten sich heraus. Die Gruppe der behavioristisch orientierten Realisten (Hutcheson, Oliphant, Schroeder) wollte die im Einzelfall getroffene Entscheidung allein aus der Intuition (hunch) der Richter erklären. In der Bezugnahme auf Normen oder Präjudizien sahen sie nur eine nachträgliche Rationalisierung, die für die Entstehung der Entscheidung ohne Bedeutung sei. Entsprechend dem behavioristischen Modell verstanden sie den an das Gericht herangetragenen Rechtsfall als einen Stimulus, der im Richter mit der Entscheidung zwangsläufig eine Reaktion auslöst, die nur aus der durch die individuelle Biographie geprägte Richterpersönlichkeit erklärt werden kann. Dieses Modell hat die erste große Welle der Justizforschung in den USA geprägt (vgl. § 17). Von anderer Seite kam jedoch heftiger Widerspruch. Dickinson entwickelte die These, dass Richter während ihrer Ausbildung und ihrer Berufstätigkeit die im Recht angelegten Konzepte verinnerlichen, so dass sie sich selbst an diese Normen gebunden fühlen. Er zweifelte nicht, dass Gesetze und Präjudizen für die Herstellung der richterlichen Entscheidung beträchtliche Wirkung entfalten. Allerdings ließ er die Frage offen, in welchem Verhältnis dieses rule-element zu dem Beitrag steht, der aus der Richterpersönlichkeit in die Entscheidung einfließt (S. 839 f.). Auch Llewellyn war der Überzeugung, dass die Gemeinsamkeiten im Handeln und Denken der Juristen weit wichtiger sind als die jeweilige Richterpersönlichkeit.

Rechtssoziologie im 21. Jahrhundert wäre ohne die Legal Realists nicht denkbar. Aber sie haben ein problematisches Erbe hinterlassen, nämlich die Vorstellung, dass Juristen, Richter und Wissenschaftler, tatsächlich selbst an das Lückenlosigkeitsdogma und das Subsumtionsdogma geglaubt hätten. Die Legal Realists haben nur explizit gemacht und auf die Spitze getrieben, was Juristen eigentlich immer schon wussten. Das hatte jedoch zur Folge, dass nunmehr die Vorstellung, Juristen hätten tatsächlich an die Möglichkeit einer mechanischen Jurisprudenz geglaubt, das 20. Jahrhundert beherrschte. Tamanaha spricht von einem »Bogus Tale about the Legal Formalists«. Darauf habe sich alsbald die Politikwissenschaft gestürzt, um nachzuweisen, dass im Gegenteil alles Recht politisch sei. In ihrer Fixierung auf einen Popanz habe sie dabei übersehen, dass die Wahrheit in der Mitte liege und dass eben doch juristische Entscheidungen mehr oder weniger durch Recht geleitet würden.

IV. Die erste Welle der Rechtstatsachenforschung in den USA

Literatur: John Henry Schlegel, American Legal Realism und Empirical Social Science, Buffalo Law Review 28, 1979, 459-586; ders., The Singular Case of Underhill Moore, Buffalo Law Review 30, 1980, 195-323; ders., American Legal Realism and Empirical Social Science 1995.

Sociological Jurisprudence und Legal Realism schrieben das Programm der Rechtstatsachenforschung für die USA, wie es zuvor Nußbaum in Deutschland getan hatte.

Die Ausführung begann zwischen 1926 und 1928 an der Columbia University in New York. Unter der Leitung von Hermann Oliphant arbeitete dort eine große interdisziplinäre Gruppe zusammen, der u. a. Llewellyn, Underhill, Moore, William O. Douglas, Hessel E. Yntema und Leon C. Marshall angehörten. Ziel der Arbeit war eine Umgestaltung des Rechtsunterrichts durch Einbeziehung der Rechtstatsachen (non-legal materials) mit der Folge einer neuen Fächeraufteilung unter funktionalen Aspekten. Äußeres Ergebnis der Arbeit, die bis in die Mitte der 30er Jahre dauerte, waren 36 neue casebooks, von denen 26 veröffentlicht wurden. Der Aufwand war mit 440 000 $ gewaltig. Doch schon bis 1929 wanderten die führenden Köpfe ab. Oliphant, Marshall und Yntema gingen an das John Hopkins Institute in Baltimore, Moore und Douglas nach Yale. Am John Hopkins Institute entstanden bis 1933 vor allem umfangreiche Gerichtsstatistiken, die allerdings kaum mehr leisteten, als in anderen Ländern die amtliche Rechtspflegestatistik, die in den USA bis heute nur unzulänglich geführt wird. In Yale wollte Moore mit einer umfangreichen, mit Umfragen und Statistiken arbeitenden Studie über das Verfahren der Banken im Scheckwesen das Scheckrecht finden, indem er die Praxis der Banken zugleich für verbindliches Recht nahm. Er ging soweit, seine in vielen Jahren gesammelten Unterlagen über die Rechtsprechung zum Wertpapierwesen zu vernichten, um das Wertpapierrecht ganz aus der Wirklichkeit zu schöpfen. Ähnlich versuchte nach dem 2. Weltkrieg Frederick K. Beutel sein Konzept der Experimental Jurisprudence in noch größerem Maßstab die tatsächlichen Vorgänge im Scheckverkehr unter Einschluss des Scheckbetruges zu ermitteln. Er setzte die für seine Zeit immer noch außerordentliche Summe von 400 000 $ ein, um Ärzte, Psychologen und Statistiker zu Untersuchungen über das Verhalten von Geschworenen und Schiedsgerichten heranzuziehen. Llewellyn war es, der mit solchen Versuchen der Ableitung des Sollens aus dem Sein in aller Schärfe abrechnete und ihnen vorhielt, sie brächten die Rechtstatsachenforschung in Misskredit, wenn sie die Statistik zur Rechtsquelle erhöben.

Llewellyn war nach seiner Beteiligung am Columbia-Experiment einen anderen Weg gegangen, indem er zunächst mit dem Anthropologen Hoebel den berühmt gewordenen »Cheyenne Way« (1941) erarbeitete, ein Buch, in dem die funktionale Methode der Anthropologie für das Recht übernommen wurde. Er ging dann nach Chicago, wo sein inzwischen als klassisch angesehenes Werk über das Richterrecht (The Common Law – Deciding Appeals, 1960) erschien. Seine weitere Lebensarbeit widmete er zusammen mit seiner Frau Soja Menschikoff dem Entwurf zum Uniform Commercial Code, der nach Llewellyns Tode im Jahre 1962 in fast allen amerikanischen Staaten Gesetz wurde.

Heute ist das Urteil über den Legal Realism zwiespältig. Einerseits bekennen amerikanische Juristen gerne: Wir sind alle Realisten. Andererseits scheint der Legal Realism als rechtssoziologische Bewegung, wohl wegen seines zum Teil kruden Empirismus im Sande verlaufen zu sein (Schlegel, 1979, 459).  Schlegel, der die empirische Seite des amerikanischen Rechtsrealismus als Rechtshistoriker aufgearbeitet hat, resumiert:

»The twentieth-century notion of science as an empirical activity could be brought into law and nothing really upset if it was kept at its proper Japanese-wife distance: law and . . . Any closer and the problems created by seeing science as a criticism of other ways of knowing simply overwhelmed the daily business of being a law professor as Moore proved. Science was too threatening. It suggested that the words of law might not be too important, that the special preserve of the law professor might not be too special and that, since law was not just rules, the rule of law might not be just a matter of following rules either. That threat was simply too much for the professional identity of the law professor; it could only be attacked mercilessly or distanced with derisive laughter.« (Schlegel 1995, 255)

Die moderne amerikanische Rechtssoziologie hat ihren organisatorischen Mittelpunkt in der 1964 gegründeten Law and Society Association, die die Law and Society Review herausgibt und jährlich wissenschaftliche Tagungen veranstaltet. In dieser Organisation sind Soziologen, Psychologen und Politikwissenschaftler in der Mehrheit. Das mag der Grund dafür sein, dass sie die von den Law Schools ausgehende Tradition der Sociological Jurisprudence und des Legal Realism nicht bewusst fortführt. Es gibt immerhin ein New Legal Realism Project[4], das bisher aber noch keine tiefen Spuren hinterlassen hat.

V. Critical Legal Studies

Literatur: Mark Kelman, A Guide to Critical Legal Studies, 1987; Roberto M. Unger, The Critical Legal Studies Movement, 1986; Roberto M. Unger, The Critical Legal Studies Movement, Harvard Law Review, 96, 1983, 561-675, sowie die Beiträge in dem Sonderheft »Critical Legal Studies Symposium«, Stanford Law Review 36, 1984, 1-674 (darin besonders die gute Einführung und Übersicht von Alan C. Hutchinson/Patrick J. Monahan, Law, Politics, and the Critical Legal Scholars: The Unfolding Drama of American Legal Thought, S. 199-245); Peter Fitzpatrick/Alan Hunt (Hg.), Critical Legal Studies, 1987 (= Journal of Law and Society, 1987, 1-197). Aus deutscher Sicht Günter Frankenberg, Partisanen der Rechtskritik: Critical Legal Studies etc., in: Sonja Buckel u. a. (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2006, 97-116; Christian Joerges/David M. Trubek (Hg.), Critical Legal Thought, An American-German Debate, 1989 = German Law Journal 12, 2011 Heft1); Ekkehard Klausa/Klaus F. Röhl/Ralf Rogowski/Hubert Rottleuthner, Rezension eines Denkansatzes: Die Conference on Critical Legal Studies, ZfRSoz 1, 1980, 85-125.

Eine modernere Version soziologischer Jurisprudenz und Rechtskritik in den USA bildete das Critical Legal Studies Movement, das durch seine Radikalität, Pluralität und literarische Produktivität gleichermaßen auffiel. Sein Credo lautete: Das Recht bleibt trotz aller Texte unbestimmt. Es bezieht seinen Inhalt erst aus dem politischen Vorverständnis der Beteiligten. Diese Bewegung wollte das Recht von gesellschaftstheoretischen Ansätzen her begreifen. Sie stützte sich dafür auf den Marxismus und seine Revisionen und auf ein Sammelsurium von kritischer Theorie, französischem Strukturalismus, Max Webers Analyse der Moderne und Phänomenologie. Sie führte aber auf dieser Grundlage über Soziologie i. e. S. hinaus zu sozialphilosophischer Rechtskritik, insbesondere zu einer Kritik der liberalen Sozialphilosophen und der von diesen bevorzugten Institutionen und zur Suche nach neuen gesellschaftspolitischen und rechtlichen Leitvorstellungen. So wurden die »Critical Legal Studies« zum Auffangbecken »kritischer« Rechtstheorie, die mit unterschiedlichen Schwerpunkten als feministische Rechtstheorie, Critical Race Theory, Post-Colonial Studies oder Queer Theory firmiert.

Von Anhängern der Critical Legal Studies und aus feministischer Sicht wurde im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts die Kritik an der Unterscheidung von öffentlicher und privater Sphäre erneuert. Die »Crits« (Balbus, Klare, Turkel) erklärten die Unterscheidung zur Ideologie, die dazu diene, Machtstrukturen und Formen der Ungleichheit zu legitimieren oder gar zu mystifizieren. Von feministischer Seite wurde die Unterscheidung als Form patriarchalischer Dominanz gebrandmarkt. Gegenwärtig kursiert die These, dass die Privatisierung von Staatsaufgaben und die Entwicklung eines transnationalen Rechts die Unterscheidung von öffentlichem und Privatrecht obsolet werden lasse, weil staatliche Verwaltung sich in organisatorische Netzwerk- und Government-Strukturen auflöse, eine Diagnose, bei der der Wunsch Vater des Gedankens zu sein scheint.

Das CLS Movement hat sich praktisch aufgelöst. Es bleibt die Frage des Philosophen Stephen Lukes »What Is Left?«. Vieles, was vor 30 Jahren noch kritisch, oppositionell oder geradezu revolutionär klang, ist heute beinahe schon zum Mainstream geworden. Zwar lässt sich insoweit schwerlich eine Kausalität der kritischen Rechtstheorie behaupten. Aber ähnlich wie die Wirkungsforschung für Soziologie und Politikwissenschaft das Diffundierung vieler Ideen im Laufe einer Generation beobachtet, kann man wohl doch auch manche Ideen der Rechtskritik der 1970er und 1980er Jahre in der aktuellen Rechtspolitik und Rechtsdogmatik – wie abgeschwächt oder verfälscht auch immer – wiedererkennen.


[1] Vgl. dazu Löffelholz, Die Rechtsphilosophie des Pragmatismus, 1961. Die maßgebliche Rezeption für die deutsche Rechtswissenschaft hat geleistet: Joachim Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz. Über die Philosophie des Charles Sanders Peirce und über das Verhältnis von Logik, Wertung und Kreativität im Recht, 1999. Ferner Susan Haack, On Legal Pragmatism: Where Does »The Path of the Law« Lead Us?, The American Journal of Jurisprudence 50 , 2005, 71-105.

[2] Ross, Social Control. A Survey of the Foundation of Order, 1929. Für eine neuere Thematisierung vgl. Parsons, Recht und soziale Kontrolle, KZfSS Sonderheft 11, 1967, 121 ff.

[3] Als Biographie vgl. Robert Jerome Glennon, The Iconoclast as Reformer: Jerome Frank’s Impact on American Law, Ithaca, New York 1985; dazu die kritische Besprechung von Sanford Levinson American Bar Foundation Research Journal 1985, 899-908.

[4] Als Programmschrift kann man lesen Thomas J. Miles/Cass R. Sunstein, The New Legal Realism, SSRN: http://ssrn.com/abstract=1070283(auch in University of Chicago Law Review).