I. Die Entstehung einer »Scientific Community«
Bis zu ihrer Unterbrechung durch den Nationalsozialismus und durch den 2. Weltkrieg lässt sich die Geschichte der Rechtssoziologie mit den Namen einzelner Wissenschaftler und ihrer Schulen beschreiben. Mit dem Neubeginn in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts entsteht eine scientific community auch in der Rechtssoziologie, so dass es nicht länger adäquat ist, die Entwicklung der Disziplin mit bestimmten Forscherpersönlichkeiten zu verbinden. Die Rechtssoziologie entwickelt sich nunmehr in einer Abfolge unterschiedlicher Themenschwerpunkte und im Gegensatz divergierender wissenschaftstheoretischer und politischer Grundpositionen und nicht zuletzt auch im Umkreis bestimmter Geldquellen.
Seither hat die Rechtssoziologie, ähnlich wie Wirtschaftswissenschaft, Politologie, Soziologie oder Psychologie, ein internationales Selbstverständnis entwickelt. Sie ist nunmehr im Begriff, im Verein mit den internationalrechtlichen Disziplinen wie Völkerrecht, internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung diese Internationalität in die dogmatischen Fächer hineinzutragen.
Die Rechtssoziologie ist inzwischen in das Stadium einer »reifen« Wissenschaft eingetreten. Das merkt man daran, dass sich Lehrbücher und Übersichtsdarstellungen häufen. Auch der Versuch einer Art Kanonisierung des Stoffes durch sogenannte Reader deutet in diese Richtung (o. § 2).
II. Von Law-and-Something zu Law-and-Society
Literatur: Susan Haack, Manifesto of a Passionate Moderate, Unfashionable Essays, Chicago 1998; Brian Z. Tamanaha, Realistic Socio-Legal Theory: Pragmatism and a Social Theory of Law, Oxford, Clarendon Press, 1997; Michael Wrase, Rechtssoziologie und Law and Society – Die Deutsche Rechtssoziologie zwischen Krise und Neuaufbruch, ZfRSoz 27, 2006, 289-312.
Zu einer besonderen Blüte amerikanischer Rechtskultur sind die »Law and Something«-Fächer geworden. Gewachsen sind sie vor allem auf dem Boden der Law Reviews, wie sie von jeder Law School, die etwas auf sich hält, unterhalten werden. In den USA neigte man seit jeher dazu, Recht eher für ein Handwerk als für eine Wissenschaft zu halten. Daher hat man seit den 60er Jahren Wissenschaftlichkeit im Umgang mit dem Recht mehr und mehr durch Interdisziplinarität zu erreichen versucht. So ist ein ganzer Strauß von »law and … fields« entstanden, in dem mehr oder weniger alle denkbaren Fächer von der Philosophie über Soziologie und Anthropologie bis hin zur Literaturwissenschaft herangezogen werden, um mehr oder weniger Relevantes über das Recht zu sagen. Der Strauß ist voller roter und rosa Blüten, die von der kritischen Fraktion, den Critical Legal Studies, dem Rechtsfeminismus und der Critical Race Theory gehalten werden. Liberales Blau war ursprünglich die Farbe der 1964 aus der Mitte der American Sociological Association gegründeten Law and Society Association. Relativ spät, aber dafür in umso größerer Zahl sind die schwarzen Rosen von Law and Economy gewachsen. Von traditionellen Juristen wird diese Art der Interdisziplinarität, die die Jurisprudenz nicht als gleichwertigen Partner akzeptiert, kritisch gesehen, weil sie die Entwicklung einer autonomen Rechtswissenschaft eher behindert.
Heute sind die Law-and-Something-Fächer alle in einer großen Law-and-Society-Community vereint. Sie ist zwar nicht mehr offen marxistisch bewegt wie noch vor 30 Jahren. Aber sie wird – von der Law-and-Economy-Fraktion abgesehen – doch von Strömungen geprägt, die mit ähnlichen wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen arbeiten wie der Marxismus, nämlich von der Critical Legal Theory, der Critical Feminist Theory und der Critical Race Theory. Das Ergebnis − oder jedenfalls seine Oberfläche − ist bekannt als political correctness. Unter der Oberfläche verbirgt sich eine Konzentration auf wenige Themen verbunden mit einer erstaunlichen Intoleranz. Erst in jüngster Zeit regt sich gegen diese sogenannten Crits der Widerstand, und zwar sowohl im Lager der Wissenschaftstheorie als auch innerhalb der Law-and-Society-Community selbst. In seiner Auseinandersetzung mit den »Crits« hat Tamanaha die Unterscheidung zwischen Tatsachen und Werturteilen wieder entdeckt. Und dafür hat er von der Law and Society Association, gegen deren Exponenten er zu Felde zieht, auch noch einen Preis erhalten.
Etwa zur gleichen Zeit, aber unabhängig von Tamanaha, hat die Philosophin Susan Haack ihr »Manifesto of a Passionate Moderate« veröffentlicht. Sie wendet sich gegen übertriebene Versionen postmoderner Wissenschaftstheorie, insbesondere gegen den kulturellen Relativismus von Richard Rorty und gegen eine feministische Epistemologie. Haack und Tamanaha berufen sich auf den Pragmatismus von Charles S. Peirce, John Dewey und William James. Peirce nimmt in dieser Reihe etwa die gleiche Rolle ein wie bei uns Max Weber. Haack, die sich selbst eine alte Feministin nennt, meint, Wissenschaft könne nicht so korrupt sein, wie einige radikale Soziologen und Feministen meinten, dazu sei sie einfach zu erfolgreich.
Im Ausland, insbesondere in den USA, hat man schon immer die Etikettierung des Faches als Rechtssoziologie vermieden. Zwar spricht man durchaus gelegentlich von Sociology of Law oder Legal Sociology. Doch meistens redet man stattdessen allgemeiner und unverbindlicher von Law and Social Sciences. Nicht ganz zufällig firmiert die weltweit wichtigste einschlägige Zeitschrift als »Law and Society Review«. Zeitschriftentitel nach dem Muster »Law and Something« sind Legion. Auf diese Weise gelingt es, ein sehr viel weiteres Spektrum von Themen und Personen anzuziehen als in Deutschland mit dem traditionellen Label Rechtssoziologie.
Auch in Deutschland gibt es Bestrebungen, die sozialwissenschaftliche Befassung mit dem Recht unter dem Titel »Recht und Gesellschaft« neu und breiter aufzustellen (Wrase). Der Erfolg ist nicht garantiert, obwohl der Ruf nach Interdisziplinarität heute so laut erklingt wie nie zuvor. Die größere Breite interdisziplinärer Rechtsforschung führt fraglos zu einer Bereicherung. Auf der anderen Seite sind damit aber auch negative Konsequenzen verbunden. Es werden viele Trivialitäten gehoben. Manches, was in diesem weiten Rahmen produziert wird, ist kritische Jurisprudenz, Rechtspolitik oder auch nur Feuilleton.
Die Recht- und-Sonstwas-Forschung ist in ihrer Vielfalt kaum koordiniert und wenig vernetzt. Vieles steht unverbunden nebeneinander und verliert dadurch an Wirkung. Da es den einschlägigen Arbeiten an der Selbstwahrnehmung als rechtssoziologisch fehlt, verzichten sie darauf, von dem vorhandenen und bewährten Angebot der Rechtssoziologie Gebrauch zu machen. Die Folge ist Zersplitterung und der Verlust von möglichem Kooperationsgewinn. Vielfach wird längst Bekanntes reproduziert. Andererseits werden verdienstvolle Arbeiten nicht gebührend zur Kenntnis genommen oder bald wieder vergessen, weil sie nicht in einen größeren Zusammenhang eingebettet sind. Hier breitet sich eine neue Unübersichtlichkeit aus, die es praktizierenden Juristen erschwert, auf sozialwissenschaftliche Forschung zurückzugreifen. Deshalb ist es wichtig, an der Rechtssoziologie als eigenständigem und übergreifendem Fach festzuhalten.
III. Verankerung in den Universitäten und in der Juristenausbildung
Obwohl vergleichsweise keine ganz junge Wissenschaft mehr, hat die Institutionalisierung der Rechtssoziologie, jedenfalls in der Deutschland[1], erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts greifbare Formen angenommen. Ihren legalistischen Ausdruck findet sie in den Prüfungsordnungen für das juristische Referendarexamen, die sämtlich Rechtssoziologie als Wahlfach (Grundlagenfach, vgl. o. § 12 IV) für Prüfung und Ausbildung vorsehen.[2] Das Lehrangebot an den Universitäten hat mit dieser Entwicklung nicht ganz Schritt halten können. Die rechtswissenschaftlichen Abteilungen weisen nur ausnahmsweise besondere Lehrstühle für Rechtssoziologie aus (Berlin, Hannover, Bremen). Fast alle anderen Fakultäten haben (oder hatten zeitweise) aber Professoren, die neben anderen Fächern auch die Rechtssoziologie betreuen. Dagegen gibt es in den soziologischen oder sozialwissenschaftlichen Abteilungen der deutschen Universitäten kaum Wissenschaftler, die sich selbst als Rechtssoziologen bezeichnen.
IV. Organisationen
Besser ist es um die Professionalisierung der Rechtssoziologie bestellt, wenn man sie an der Bildung wissenschaftlicher Vereinigungen mißt. Während lange Zeit hindurch allein der von Kaupen und Rasehorn ins Leben gerufene Arbeitskreis für Rechtssoziologie mit seinen Informationsbriefen für die Kommunikation zwischen den einschlägig Interessierten sorgte, sind später zwei wissenschaftliche Vereinigungen entstanden, die sich dieser Aufgabe annehmen. 1976 wurde Vereinigung für Rechtssoziologie gegründet. 2010 wurde sie in Analogie zur amerikanischen Law & Society Assotion in Vereinigung für Recht und Gesellschaft umbenannt. Die Vereinigung richtet ihr Interesse in besonderer Weise auf die sozialwissenschaftliche Ausbildung der Juristen, legt dabei aber Wert darauf, nicht zu einer Hochschullehrervereinigung herkömmlichen Stils zu werden. Sie veranstaltet in zweijährigem Rhythmus wissenschaftliche Tagungen und gibt eine Schriftenreihe heraus. Eher forschungsbezogen und auf Kooperation mit der allgemeinen Soziologie angelegt ist die Sektion Rechtssoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Sie tagt jeweils im Zusammenhang mit dem Deutschen Soziologentag und hat die Herausgeber der Zeitschrift für Rechtssoziologie bestellt, die seit 1980 halbjährlich erscheint. Seit 2001 hat der Berliner Arbeitskreis Rechtswirklichkeit (BAR), der vorwiegend aus jungen Wissenschaftlern auf dem Karrierepfad besteht, die träge gewordene Rechtssoziologie in Deutschland aufgemischt. Als wichtige Veröffentlichungsreihen sind daneben zu nennen die von Hirsch und Rehbinder begründete Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung, die 2012 auf 92 Bände angewachsen ist, ferner seit 1970 das Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie (bisher 11 Bände), das anscheienend nicht fortgeführt wird.
Der rechtssoziologischen Forschung stehen als Dauereinrichtung in den Universitäten zurzeit nur wenige mit Assistenten ausgestattete Professorenstellen zur Verfügung. Größere empirische Untersuchungen können in der Regel nur über Forschungsprojekte durchgeführt werden, die von Fall zu Fall mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Stiftung Volkswagenwerk oder der öffentlichen Hand finanziert werden.[3]
Besondere Verdienste um die Anregung, Koordination und Förderung solcher Projekte hatte sich das 1973 gegründete Referat Rechtstatsachenforschung im Bundesjustizministerium der Justiz erworben, das bis 1996 von Strempel gleitet wurde.[4] Als Träger solcher Projekte traten vorübergehend das von Bender in Stuttgart gegründete Institut für Rechtstatsachenforschung e.V.[5] sowie eine Sozialwissenschaftliche Forschungsgruppe im Max-Planck-Institut für ausländisches und Internationales Privatrecht in Hamburg auf, die 1982 eine neue Heimat im Zentrum für Europäische Rechtspolitik (ZERP) an der Universität Bremen fand. 1983 ist an der Universität Konstanz ein Institut für Rechtstatsachenforschung entstanden, das aber nie wirklich geliefert hat.
Die empirische Forschung verlagert sich mehr und mehr auf außeruniversitäre Institute und Unternehmen wie INFRATEST in München, PROGNOS in Basel oder das Institut für Arbeitsmarktforschung in Nürnberg, vor allem aber in die Berichtsforschung[6] durch internationale organisationen, Stiftungen oder Think Tanks. In den USA ist die American Bar Foundation Träger umfangreicher rechtssoziologischer Forschung. In Deutschland gibt es seit 2002 das Soldan Institut für Anwaltsmanagement e. V., das Rechtstatsachenforschung über den Rechtsberatungsmarkt betreibt.
Das international wichtigste Forum der Rechtssoziologie ist die amerikanische Law and Society Association, auf deren Jahrestagungen jeweils 200 – 300 Vorträge gehalten werden. Ihre Vierteljahresschrift Law and Society Review, die seit 1966 erscheint, erreicht eine beachtliche Auflage von über 3.000 Exemplaren. Wegen Qualität und Vielzahl der Beiträge und der Weite des Themenspektrums ist sie für jeden Rechtssoziologen unentbehrlich geworden. Viele sozialwissenschaftliche Beiträge veröffentlich auch das in einer Auflage von 6.000 Exemplaren verbreitete Research Journal der American Bar Foundation, das seit 1988 als »Law & Social Inquiry« firmiert. Als Fachzeitschriften verdienen ferner das Journal of Law and Society (seit 1974; ursprünglich British Journal of Law and Society), die italienische Sociologia del Diritto (seit 1974), und das bei Academic Press, London, erscheinende International Journal of Sociology of Law (seit 1972) Erwähnung. In Frankreich erscheint seit 1986 »Droit et Sociéte«, mit dem Untertitel Revue internationale de Théorie du Droit et de Sociologie juridique. Als internationale Organisation der Rechtssoziologie ist schließlich Research Committee on Sociology of Law, eine Unterorganisation der International Sociological Association, zu nennen. Es hat nicht zuletzt dadurch eine gewisse Bedeutung gewonnen, dass es seit 1989 das Internationales Institut für Rechtssoziologie in Oñati, einer alten Universitätsstadt im spanischen Baskenland, betreibt.
V. Zur Situation der Rechtssoziologie
Literatur: Hazel Genn/Martin Partington/Sally Wheeler, The Nuffield Inquiry on Empirical Legal Research, 2006
Etwa seit 1960 erlebte die Rechtssoziologie einen Aufschwung, der bald dreißig Jahre andauerte. Der Antrieb kam aus einer neuen, fraglos auch durch den Marxismus verstärkten Sensibilität für die Rolle des Rechts bei der Befestigung von Ungleichheit unter den Menschen, von Macht und Herrschaft. Sie verband sich mit der Idee, dass eben dieses Recht als Hebel zur Einleitung eines sozialen Wandels dienen könne. Die großen Erfolgsthemen der Rechtssoziologie waren daher Zugang zu Recht und Gericht, Klassenjustiz, und, vor allem von den USA ausgehend, Rassen- und Geschlechterdiskriminierung. Hinzu kamen bald die Suche nach den Spuren des Kolonialismus überall in der Welt und die Frage nach der Rolle des Rechts in diktatorischen Systemen, vor allem in Nazi-Deutschland. Bei jüngeren Themen wie dem Umgang mit Technologie im weitesten Sinne, Problemen von Emigration und Immigration, Umweltzerstörung und schließlich Globalisierung konnte die Rechtssoziologie schon keine führende Rolle mehr spielen, sondern nur noch anderen Disziplinen hinterherlaufen.
Die Rechtssoziologie befindet sich in einer Schwächephase. Aber das ist kein isoliertes Problem der Rechtssoziologie, sondern gilt auch für die allgemeine Soziologie. Das Interesse hat sich auf andere Fächer wie Politikwissenschaft und vor allem die Kulturwissenschaften (u. § 15) verlagert. Der Rechtssoziologie wird, ebenso wie der Mutterdisziplin, vorgehalten, sie beschäftige sich in erster Linie mit sich selbst.[7] Die Folge ist eine institutionelle Krise. In den juristischen Fakultäten ist die Rechtssoziologie allgemein auf dem Rückzug. Lehrstühle werden umgewidmet oder gestrichen, Lehrveranstaltungen werden selten, kompetente Fachvertreter muss man suchen, und die Zahl der Drittmittelprojekte schrumpft.
2007 fand in Berlin die mit 2400 Teilnehmern aus über 70 Ländern bisher größte rechtssoziologische Tagung statt. Eingeladen hatten die amerikanische Law & Society Association, das internationale Research Committee on Sociology of Law, die (englische) Socio-Legal Studies Association, die Japanese Association of Sociology of Law, die Vereinigung für Rechtssoziologie und die Sektion Rechtssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Am Rande der Tagung konnte man von deutschen Teilnehmern hören: Die Rechtssoziologie ist tot. Die Mitgliederzahl der weitgehend personenidentischen Vereinigung für Rechtssoziologie und der Sektion Rechtssoziologie der DGS stagniert. An den Hochschulen ist die alte Garde der Rechtssoziologen abgetreten. Ihre Lehrstühle sind umgewidmet. Einschlägige Schriftenreihen sind nach und nach eingeschlafen. Die Zeitschrift für Rechtssoziologie kämpft seit Jahren um veröffentlichungsfähige Manuskripte. Die Klage über den Niedergang der Rechtssoziologie ist nicht auf Deutschland beschränkt. Auch für England konstatiert der sog. Nuffield-Report eine Krise der Rechtssoziologie. Ähnliche Berichte waren auf der Konferenz aus Japan zu hören. Nur in den USA scheint es noch anders zu sein.
Bei der größten Rechtssoziologie-Tagung aller Zeiten wird der Niedergang der Disziplin beklagt. Das ist nicht unbedingt ein Widerspruch. Wissenschaftliche Anstrengungen, die unter dem Dach der Rechtssoziologie Platz hätten, sind umfangreicher denn je. Politikwissenschaft, (Sozial-)Psychologie, Wirtschaftswissenschaften, Ethnologie, Anthropologie, Geschichte, Sprachwissenschaften, Medienwissenschaften haben das Recht als Forschungsgegenstand entdeckt. Das Interesse an Kriminologie ist ungebrochen. Das Erfolgsgeheimnis der amerikanischen Law & Society Association besteht wohl darin, dass sie eine Identifizierung mit dem Bindestrich-Fach Rechts-Soziologie vermieden hat.
Der Nuffield-Report, eine aufwendige Untersuchung über die Situation in England, beginnt die Zusammenfassung seiner Ergebnisse mit der Feststellung:
»Empirical legal research is increasingly important to and valued by policy makers, law reformers, the judiciary, academics and practitioners.«
Das Problem, so fährt der Bericht fort, liege darin, dass es an Kapazitäten für die empirische Rechtsforschung fehle. Diesen Ausgangspunkt hat Volkmar Gessner (in einem unveröffentlichten »Comment on the British Inquiry Report«) mit guten Gründen als Wunschdenken zurückgewiesen. Gessner geht soweit, jungen Wissenschaftler von einer Spezialisierung auf empirische Rechtsforschung abzuraten, denn das sei eine karriereschädliche Sackgasse. Mit Gessner meinen wir, dass umgekehrt fehlende Nachfrage das Problem der empirischen Rechtsforschung ist. Gessner bestätigt zunächst, was ich früher als »Dilemma der Rechtstatsachenforschung« bezeichnet habe: Es gibt keinen glatten Übergang von den Daten zu rechtlichen Konsequenzen, vom Sein zum Sollen. Man weiß also nicht so recht, was man mit den Daten anfangen soll. Das gilt umso mehr, als sich die Sozialwissenschaften sich nicht als Hilfswissenschaften der Jurisprudenz und Politik verstehen, sondern bei der Datensammlung ihren eigenen Forschungsinteressen und disziplinären Gewohnheiten folgen, die eher auf Erklärung und Kritik als auf Entscheidungshilfe gerichtet sind.
Weiter nennt Gessner sechs spezifische Gründe für fehlende Nachfrage nach empirischer Rechtsforschung.
- Die Daten, die von der Sozialforschung angeboten werden, sind im Vergleich zu den Ergebnissen der Naturwissenschaften weich und oft widersprüchlich. Juristen sind gewohnt, im forensischen Bereich mit klaren Ergebnissen zu arbeiten und auf ihrem eigenen Feld jedenfalls mit herrschenden Meinungen. Sie entwickeln daher ein verständliches Misstrauen gegenüber den mehr tentativen Ergebnissen, die ihnen von der empirischen Sozialforschung angeboten werden.
- Für Richter, die täglich Fälle in großer Zahl zu entscheiden haben, ist es wenig hilfreich, wenn ihr ohnehin oft lückenhaftes Entscheidungsprogramm durch Sozialforschung zusätzlich problematisiert wird.
- Die Verwaltung hat zwar einen größeren Handlungsspielraum als die Justiz und einen entsprechend höheren Wissensbedarf über soziale Probleme und mögliche Lösungen. Doch sie greift dafür in erster Linie auf ihre eigenen Erfahrungen zurück, das von Max Weber so genannte Dienstwissen.
- In der Politik liegt der Bedarf für Rechtstatsachenforschung mehr oder weniger auf der Hand. Doch die Politik gibt sich in der Regel mit amtlichen Statistiken zufrieden. Zwar werden aus den Ministerien immer wieder auch entsprechende Untersuchungen in Auftrag gegeben. Aber die Politik rezipiert nur solche Ergebnisse, die ihre Pläne bestätigen.
- In der Rechtswissenschaft fehlt bei der Behandlung konkreter Rechtsfragen eine Bezugnahme auf empirische Daten, die wissenschaftlichen Standards genügen.
- Rechtssoziologen ergehen sich lieber in Theoriekonstruktion, als dass sie harte und mühsame empirische Forschung treiben.
Juristen belassen es bei Lippenbekenntnissen zur Interdisziplinarität und konzentrieren sich lieber auf die dogmatischen Fächer. Wenn es denn schon die sog. Grundlagenfächer sein müssen, bevorzugen sie Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte. Soweit sie sich noch für sozialwissenschaftliche Arbeit interessieren, stehen praxisbezogene Anwendungen wie Rechtstatsachenforschung, Verwaltungswissenschaft und Kriminologie im Vordergrund.
Unter jungen Sozialwissenschaftlern gilt es als karriereschädlich, eigene Arbeiten, auch wenn sie einschlägig wären, der Rechtssoziologie zuzuordnen. Die Vorbehalte gegenüber einer Selbstzuordnung zur Rechtssoziologie haben verschiedene Ursachen. Die wichtigste besteht wohl darin, dass Rechtssoziologie vornehmlich von Juristen betrieben wurde und wird. Das gilt ganz besonders in Deutschland. In den soziologischen Fakultäten ist Rechtssoziologie nie als eigenständiges Forschungsgebiet akzeptiert worden, obwohl doch Émile Durkheim, Max Weber und Niklas Luhmann, die wohl meist zitierten Soziologen überhaupt, als Rechtssoziologen gelten können. Anscheinend hofft man, eine größere Distanz vom Recht zu gewinnen, indem man die Bezeichnung Rechtssoziologie vermeidet. Die Juristen wiederum haben die Rechtssoziologie keineswegs umarmt. Im Gegenteil, sie haben die Rechtssoziologie als Kritikwissenschaft in Erinnerung, die weitgehend marxistisch inspiriert war.
Die Studierenden zeigen zwar durchaus ein Anfangsinteresse, das vor allem aus der rechtskritischen Attitüde der Rechtssoziologie gespeist wird. Ihr Interesse wird jedoch von den Zwängen der Examensvorbereitung schnell erdrosselt. Die »gesellschaftlichen Bezüge des Rechts« gehören zwar weiterhin zum Stoff der ersten juristischen Staatsprüfung. Aber das ist nur »law in the books«, denn die Prüfer sind Juristen, die sich nicht hinreichend kompetent fühlen und daher auf jede Nachfrage verzichten.
Die Fachidentität der Rechtssoziologie, die vor zwanzig Jahren erreicht war, scheint zu schwinden. Zum Glück zeigt die Beschränkung des Blicks auf die als solche organisierte Rechtssoziologie (und auf deutsche Verhältnisse) nur das halbe Bild. Die andere Hälfte bleibt durch die Engführung des Faches unter dem Titel Rechtssoziologie verdeckt. An vielen Stellen lässt sich ein neues, gesteigertes Interesse an interdisziplinärer Rechtsforschung beobachten. Schon immer wurden in der Politischen Soziologie, in Politikwissenschaft und Politologie, in Sozialpsychologie, Anthropologie und Ethnologie rechtssoziologische Fragestellungen bearbeitet, oft ohne Anschluss an die Rechtssoziologie. Hinzugekommen ist der umfangreiche Globalisierungsdiskurs, in dem das Recht eine zentrale Rolle einnimmt. Viele einschlägige Forschungen verstehen sich als »kulturwissenschaftlich«. Auch Frauenforschung oder Gender Studies liefern relevante Beiträge. Sozialbiologie oder gar Rechtsbiologie erleben eine gewisse Renaissance. Wichtige sozialhistorische Arbeiten, wie sie etwa die Institutionenökonomik beigebracht hat, sind von der Rechtssoziologie bisher nicht ausreichend wahrgenommen worden. Ähnliches gilt für die Technikgeschichte. Diesem vielfältigen Angebot entspricht in alten und neuen Studiengängen eine Nachfrage nach einem »Modul«, das sich interdisziplinär mit dem Recht befasst.
Empirische Forschung ist in der Rechtssoziologie in den letzten zwei Jahrzehnten seltener geworden. Das hat seine Ursache wohl auch darin, dass das Fach weitgehend auf handlungstheoretische Hypothesen, die sich unmittelbar für die empirische Forschung anbieten, verzichtet und mehr und mehr zu systemtheoretischen und kommunikationstheoretischen Analysen übergangen ist.[8] So ist die Empirie weitgehend zur Domäne der Markt- und Meinungsforschung und der von mir so genannten Berichtsforschung geworden. Immerhin gibt es eine gewisse Konjunktur bei der mikrosoziologischen Beobachtung des Rechts als sozialer Praxis, und aus der Wendung zur Kommunikationstheorie sind mediensoziologische Untersuchungen der Rechtskommunikation entstanden. Rechtssoziologische Forschung ist also nicht ausgestorben. Sie läuft nur vielfach unter fremdem Namen.
[Stand Januar 2012]
[1] Zusammenfassende Darstellungen über die Rechtssoziologie in anderen Ländern geben: Jacques Commaille, The Sociology of Law in France, in: Plett/Ziegert, Empirische Rechtsforschung zwischen Wissenschaft und Politik, 1984, 174-179; ders., Rapport sur la sociologie du droit en France, Sociologia del Diritto XII, 1985, 131-143; ders., La Sociologie du droit en France. Les ambiguites d’une specialisastion, Sociologia del Diritto XVI, 1989, 19-42; Anne Deville, Situation de la sociologie juridique en Belgique, Sociologia del Diritto XII, 1985, 145-155; Hakan Hyden, Sociology of Law in Scandinavia, Journal of Law and Society 13, 1986, 131-143; Thomas Knöpfel, Entwicklung und gegenwärtiger Stand der Rechtssoziologie in Spanien, Berlin 1982; Jean Van Houtte (Hg.), Sociology of Law in Dutch Speaking Countries, Dordrecht 1985.
[2] Übersicht bei Kurt Seelmann, Zur Lage der Wahlfachgruppe Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie im juristischen Studium und im Referendarexamen, JuS 1980, 157-160.
[3] Zur Problemlage rechtssoziologischer Auftragsforschung vgl. Konstanze Plett/Klaus A. Ziegert, Empirische Rechtsforschung und Politik, 1984.
[4] Vgl. Dieter Strempel, Zur Rechtstatsachenforschung in der Bundesrepublik Deutschland – Bericht über die Tätigkeit des Referats »Rechtstatsachenforschung« im Bundesministerium der Justiz, Recht und Politik 1981, S. 180-183; ders., Rechtstatsachenforschung und Rechtspolitik, zugleich ein Bericht über Forschungsprojekte des BMJ, ZRP 1984, S. 195-198. Forschungsergebnisse wurden in einer vom Ministerium herausgegebenen Reihe »Rechtstatsachenforschung« veröffentlicht. Das Ministerium hat seine Aktivitäten nach Abschluss der großen Untersuchungsreihe »Strukturanalyse der Rechtspflege« 1996 praktisch eingestellt.
[5] Dazu Wolfgang Heinz (Hg.), Rechtstatsachenforschung heute, Konstanzer Schriften zur Rechtstatsachenforschung Bd. 1, Konstanz 1986.
[6] Klaus F. Röhl, Ressort- und Berichtsforschung als Datenquelle, in: Matthias Mahlmann (Hg.), Gesellschaft und Gerechtigkeit, Festschrift für Hubert Rottleuthner, 2011, S. 357-393.
[7] Zu diesem Thema das Heft »Soziologie« in der Reihe »Aus Politik und Zeitgeschichte« (APuZ 34-35/2005) mit Beiträgen von Ulrich Beck, Karl Otto Hondrich, Jürgen Kocka u. a.
[8] Josef Estermann, Die Verbindung von Recht und Soziologie als Chimäre, in: Michelle Cottier/Josef Estermann/Michael Wrase (Hg.), Wie wirkt Recht?, 2010, 101-112, Fn. 1 und 4.