§ 23 Qualitative Methoden

Literatur: Heinz Abels: Interaktion, Identität, Präsentation. Kleine Einführung in interpretative Theorien der Soziologie, 4. Aufl. 2007; Juliet Corbin/Anselm Strauss, Grounded Theory Research: Procedures, Canons, and Evaluative Criteria, Qualitative Sociology 13, 1990, 3-21; Clifford Geertz: Dichte Beschreibung, 1983 [Nachdruck 2007]; Christel Hopf/Elmar Weingarten (Hg.): Qualitative Sozialforschung, 3. Aufl. 1993; Christine B. Harrington/Barbara Yngvesson: Interpretive Sociolegal Research, Law & Social Inquiry 15, 1990, 135-148; Frank Kleemann/Uwe Krähnke/Ingo Matuschek, Interpretative Sozialforschung, 2. Aufl., 2013; Udo Kuckartz: Einführung in die computergestützte Analyse qualitativer Daten, 3. Aufl. 2010; Lisa Lüdders, Qualitative Methoden und Methodenmix, Ein Handbuch für Studium und Berufspraxis, 2017; Jo Reichertz, Qualitative und interpretative Sozialforschung, Eine Einladung, 2016; Linda Smircich: Concepts of Culture and Organizational Analysis, Administrative Science Quarterly 28, 1983, 339-358; Jörg Strübing, Grounded Theory. Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung des Verfahrens der empirisch begründeten Theoriebildung, 2. Aufl. 2008; ders. u. a. (Hg.): Methodologie interpretativer Sozialforschung. Klassische Grundlagentexte, 2004; Ann Swidler, Geertz’s Ambiguous Legacy, in: Dan Clawson (Hg), Required Reading: Sociology’s Most Influential Books, 1998, 79-84.

Internetquellen: Webseite des Instituts für Qualitative Forschung; Online-Journal: Forum Qualitative SozialforschungI

I.  Quantitative und qualitative Methoden

Quantitative Verfahren zielen auf eine Auswertung mit Hilfe statistischer Verfahren. Sie setzen daher Daten voraus, die hinreichend standardisiert sind. Solche Verfahren haben den Vorzug größerer Objektivität. Sie vernachlässigen aber Feinheiten, die den Sinn menschlichen Handelns ausmachen. Oft ist es auch technisch gar nicht möglich, mit quantitativen Verfahren anzusetzen, weil die verfügbaren Fallzahlen zu klein sind. Es gilt als methodischer Standard, mit einer Zellenbesetzung unter fünf bis zehn keine Berechnungen anzustellen. Dann sind qualitative Verfahren nur ein Notbehelf. In anderen Fällen sind jedoch quantitative Methoden dem Untersuchungsgegenstand inadäquat. So ist es bisher nicht gelungen, den Inhalt richterlicher Entscheidungen mit quantitativen Verfahren zu erklären (§ 61). Hier verspricht ein qualitativer Ansatz, wie ihn z. B. Lautmann versucht hat[1], mehr Erfolg.

Nachdem in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg die quantitativen Verfahren zunächst das Feld weitgehend beherrschten, war etwa seit 1970 eine Rückbesinnung auf qualitative Verfahren zu beobachten, Rückbesinnung deshalb, weil bereits Max Weber sich ihrer in der Form des Sinnverstehens bediente (§ 30). Heute greift man jedoch weniger auf Weber als auf das von George H. Mead entwickelte Konzept des symbolischen Interaktionismus zurück (§ 36). Schlagwortartig spricht man von einem Wechsel vom normativen zum interpretativen Paradigma.

Qualitative Sozialforschung bedient sich im Prinzip derselben Erhebungsmethoden wie die quantitative. Sie verzichtet nur auf standardisierte Instrumente. An die Stelle des Fragebogens tritt z. B. das offene Interview, das mit dem Tonband aufgenommen wird. Bevorzugte Methode ist allerdings die Beobachtung. Sie bietet wegen der Unmittelbarkeit und Nähe zum Untersuchungsfeld interessante Aufschlüsse besonders dann, wenn dieses Feld wenig strukturiert ist. Der geschulte Beobachter kann im Feld selbst u. U. unerwartete Beobachtungen festhalten, an die man bei der Vorbereitung nicht gedacht hat und die deshalb bei Verwendung eines standardisierten Erhebungsbogens übersehen worden wären.

Die Forschungspraxis hat qualitative Beobachtungen von Gerichtsverhandlungen in großer Zahl hervorgebracht. Sie verbinden vielfach soziologische mit psychologischen und sprachwissenschaftlichen Ansätzen. Dabei ging es vor allem darum, die Asymmetrien in der gerichtlichen Interaktion aufzuzeigen, die sich aus der durch die Prozessgesetze vorgezeichneten überlegenen Stellung des Richters im Verfahren, aus dem Zusammentreffen von Fachleuten und Laien und aus schichtspezifischem Sprachverhalten ergeben. Hervorgehoben sei hier eine Untersuchung von Leodolter über »Das Sprachverhalten von Angeklagten vor Gericht« (1976).[2] Ein anderes rechtssoziologisch relevantes Feld, auf dem qualitative Sozialforschung zu einiger Prominenz gekommen ist, ist die Organisationsforschung (§ 76), die sich auf der Suche nach einer corporate culture überwiegend qualitativ und am Vorbild ethnographischer Forschung orientiert. Gerichtsverfahren und Organisationen haben gemeinsam, dass die Interaktionen durch ein formelles Programm geordnet sind. Die Beobachtungen zeigen jedoch immer wieder, dass das Handeln der Akteure weitgehend von einem informellen Regel- und Beziehungsnetz bestimmt wird, das sich am besten durch intensive Beobachtung erschließen lässt.

Qualitative Sozialforschung muss nicht als Gegensatz zur quantitativen verstanden werden, es sei denn, sie bestreitet die Relevanz deduktiv-nomologischer Erklärungen, wie es teilweise früher in der Debatte über Erklären und Verstehen in Geschichts- und Sozialwissenschaften (§ 15) geschah. Auch qualitative Forschung ist den wissenschaftlichen Standards wie Genauigkeit, Distanziertheit und Reproduzierbarkeit verpflichtet. Durch genaue Beobachtung von Handlungsintentionen, Situationsdeutungen und Vorstellungen über Zweck-Mittelbeziehungen kann sie zur Hypothesenbildung und damit zu Erklärungen und Prognosen vordringen. In der Rechtssoziologie ist jedoch eher ein radikal konstruktivistisches Verständnis des interpretativen Paradigmas zu verbreitet, das solche Standards als empiristisch zurückweist. Es sieht einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen distanzierter wissenschaftlicher Bescheibung und dem Dialog des Interpreten mit seinem Feld.

»In other words, the authority of the anthropologist to portray the world of others is contingent on dialogue and engagement with the particular, rather than on distance and generalization.« (Harrington/Yngvesson S. 145)

Als Autorität dient insoweit Clifford Geertz, der der Methode einer engagierten Beobachtung den Namen »dichte Beschreibung« (thick description) gegeben hat. Der Name hat sich wie ein Markenzeichen verselbständigt.

»His anthropology is an art, not a science. To a very large extent therefore his work does not provide a model for other anthropologists or sociologists of lesser talent to follow, since he proceeds from an intuitive grasp of what is important and reaches his conclusion with a flourish that conceals the tedium of the procedures.«

Geertz wollte Kulturen wie Texte oder Kunstwerke zu analysieren. Die lokal beobachteten Phänomene sollten als Unikate verstanden und ohne gneralisierte Begriffe »aus sich heraus« verstanden und beschrieben werden. Mit dieser These trug Geertz einen antitheoretischen Affekt in die Anthropologie hinein

Die konstruktivistische Version qualitativer Sozialforschung wendet sich dagegen, Sinn, Bewusstsein oder Ideologie als Strukturen zu betrachten, über die sich objektiv oder auch nur distanziert reden lässt. Sie insistiert stattdessen darauf, dass Sinn, Bedeutung und letztlich Macht immer erst im Handlungsvollzug entstehen.

»The product of this work is by definition contingent, produced in relations of power in which researcher and subject are both constrainer and constrained. The politics of interpretive sociolegal research demand attention to power because interpretive work is embedded in social relations.« (Harrington/Yngvesson S. 148)

Immer geht es um Macht. Aber es sollen nicht »strukturalistisch« Interessenlagen oder Machtkämpfe dargestellt, sondern die Macht im Augenblick ihrer Entstehung und Wirkung beschrieben werden. Der empiristischen oder strukturalistischen Position wird vorgehalten, sie mache einen künstlichen Unterschied zwischen Bewusstsein (Ideologie) und sozialer Praxis, verbanne dieses Bewusstsein auf einen Platz außerhalb der sozialen Beziehungen und baue so eine Doppelwelt. Deren eine Schicht (»Kultur«, »Symbole«, »der Staat«, »das Recht«) führe eine Eigenexistenz und determiniere die sozialen Beziehungen. So werde eine Perspektive von »Recht und Gesellschaft« aufgebaut; sie trenne das Recht von den Situationen, in denen es hergestellt werde, und sie platziere Macht außerhalb der sozialen Beziehungen, in denen sie wirksam werde.

Als Beispiel für eine radikal konstruktivistische Sichtweise nennen Harrington/Yngvesson (S. 141) die Theorie des symbolischen Kapitals und der symbolischen Gewalt von Bourdieu[3]. Sie überwinde die künstliche Differenzierung von Sinn und Macht, Kommunikation und Herrschaft, und zeige, symbolisches Kapital und symbolische Gewalt als verkleidete Formen von Herrschaft, die erst in der Kommunikation hergestellt werden, in der sie zum Tragen kommen. Harrington/Yngvesson nennen aber auch spezifisch rechtssoziologische Untersuchungen, die die Selbstreproduktion von Macht und Ideologie in alltäglichen sozialen Beziehungen analysieren.

Ein Beispiel ist Barbara Yngvesson, Making Law at the Doorway: The Clerk, The Court, and The Construction of Community in a New England Town, LSR 22, 1988, 409-448; ein anderes Christine B. Harrington/Sally Merrry, Ideological Productions: The Making of Community Mediation, LSR 22, 1988, 709-735.

Das Problem mit dieser radikal konstruktivistischen Position liegt darin, dass ihre Forschungsergebnisse uninteressant wären, wenn sie sich nicht verallgemeinern ließen. Es ist eine Binsenweisheit, dass der Beobachter sich nicht völlig von der Reaktivität des Feldes frei machen kann und dass er selbst auf sein Feld reagiert. Distanziertheit und Objektivität sind immer nur relativ. Dennoch können sie mehr oder weniger gelingen. Auch die Wissenschaftler, die das theoretisch verneinen, sind doch praktisch um Genauigkeit und »Objektivität« bemüht, und sie wehren sich letztlich nicht gegen eine Verallgemeinerung ihrer Ergebnisse.

II. Diskurs- und Dispositivanalyse

Literatur: Johannes Angermüller/Silke van Dyk (Hg.), Diskursanalyse meets Gouvernementalitätsforschung, 2010; Andrea D. Bührmann/Werner Schneider, Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, 2008; Rainer Diaz-Bone, Zur Methodologisierung der Foucaultschen Diskursanalyse, Historische Sozialforschung 31, 2006, 243-274; ders., Was ist der Beitrag der Diskurslinguistik für die Foucaultsche Diskursanalyse?, Forum Qualitative Sozialforschung 11, 2010, Art. 19; Siegfried Jäger, Kritische Diskursanalyse, Eine Einführung, 6. Aufl., 2012; Reiner Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, Grundlegung eines Forschungsprogramms, 2. Aufl., 2008; ders., Diskurse und Dispositive analysieren, Historische Sozialforschung 33, 2008, 73-107; Reiner Keller u. a. (Hg.), Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, 2. Aufl., 2006; Reiner Keller u. a. (Hg.), Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit, Zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursforschung, 2005; Brigitte Kerchner/Silke Schneider (Hg.), Foucault, Diskursanalyse der Politik, 2006; Hans-Christoph Koller/Jenny Lüders, Möglichkeiten und Grenzen der Foucaultschen Diskursanalyse, in: Norbert Ricken/Markus Rieger-Ladich (Hg.), Michel Foucault: Pädagogische Lektüren, 2004, 57-76.

Viel qualitative empirische Forschung läuft unter dem Titel der Diskursanalyse. Eine Standardmethode gibt es dazu freilich nicht. Das liegt daran, dass man an die berühmten Diskursanalysen von Michel Foucault anknüpfen möchte, dessen Diskursbegriff sich aber als Ausgangspunkt für die empirische Sozialforschung zu eng erwiesen hat.

1.      Der Diskursbegriff Foucaults

Die Schwierigkeiten mit dem Diskursbegriff haben ihren Grund zunächst darin, dass der Begriff auch schon vor und unabhängig von Foucault im Umlauf war und ist. Foucault hat es seinen Followern aber auch nicht leicht gemacht. Von seinem franko-diffusen Schreibstil einmal abgesehen, hat er auf dem Weg zu einem handlichen Diskursbegriff eine Schwelle und einen Engpass eingebaut. Über die Schwelle kommt man noch ganz gut hinweg. Sie ergibt sich daraus, dass Foucault im Laufe der Zeit seine Auffassungen verändert hat, insbesondere indem er zu der »archäologischen« Methode der Diskursanalyse die »genealogische« hinzugefügt hat. In dem Engpass man eher stecken. Foucault hat den Begriff des Diskurses durch seine Beispiele und Definitionen sehr schmal angelegt. Sie behandeln alle Umbruchsituationen und platzieren die Diskurse sehr wissenschaftsnah, so dass Foucault selbst die Frage aufwirft, ob

»die Archäologie, indem sie sich bis jetzt auf das Gebiet der wissenschaftlichen Diskurse beschränkt, einer Notwendigkeit gehorcht, die sie nicht überschreiten könnte, – oder hat sie nach einem besonderen Beispiel Analyseformen skizziert, die eine ganz andere Ausdehnung haben können?« (Archäologie S. 274)

Er antwortet zwar, die Konzentration auf wissenschaftliche Diskurse sei eher beispielhaft und vorläufig gewesen:

»Was die Archäologie zu beschreiben versucht, ist nicht die Wissenschaft in ihrer spezifischen Struktur, sondern der durchaus andersartige Bereich des Wissens. Wenn sie sich darüber hinaus mit dem Wissen in seinem Verhältnis zu den epistemologischen Figuren und den Wissenschaften befaßt, kann sie ebenso gut das Wissen in einer anderen Richtung befragen und es in einem anderen Bündel von Beziehungen beschreiben. Die Orientierung auf die Episteme hin ist bisher die einzig erforschte gewesen. Der Grund dafür ist, daß die diskursiven Formationen durch ein Gefälle, das unsere Kulturen zweifellos charakterisiert, unaufhörlich epistemologisiert werden.« (Archäologie S. 278)

Aber de facto bildet die Konzentration auf die diskursive Potenz der »Humanwissenschaften« eben doch das Markenzeichen des Autors. Es lässt sich auch kaum von der handfesten These trennen, die im letzten Satz des Zitats zum Ausdruck kommt, der These nämlich von der Verwissenschaftlichung der Kultur. Die (ursprünglich in der Bochumer Diskurswerkstatt!) von Jürgen Link und Siegfried Jäger entwickelte »Kritische Diskursanalyse« sagt so:

»Im Zentrum einer an Michel Foucaults Diskurstheorie orientierten Kritischen Diskursanalyse (KDA) stehen die Fragen, was (jeweils gültiges) Wissen überhaupt ist, wie jeweils gültiges Wissen zustandekommt, wie es weitergegeben wird, welche Funktion es für die Konstituierung von Subjekten und die Gestaltung von Gesellschaft hat und welche Auswirkungen dieses Wissen für die gesamte gesellschaftliche Entwicklung hat. ›Wissen‹ meint hier alle Arten von Bewußtseinsinhalten bzw. von Bedeutungen, mit denen jeweils historische Menschen die sie umgebende Wirklichkeit deuten und gestalten. Dieses ›Wissen‹ beziehen die Menschen aus den jeweiligen diskursiven Zusammenhängen, in die sie hineingeboren sind und in die verstrickt sie während ihres gesamten Daseins leben. Diskursanalyse, erweitert zur Dispositivanalyse, zielt darauf ab, das (jeweils gültige) Wissen der Diskurse bzw. der Dispositive zu ermitteln, den konkret jeweiligen Zusammenhang von Wissen/Macht zu erkunden und einer Kritik zu unterziehen. Diskursanalyse bezieht sich sowohl auf Alltagswissen, das über Medien, alltägliche Kommunikation, Schule und Familie etc. vermittelt wird, wie auch auf dasjenige (jeweils gültige) Wissen, das durch die Wissenschaften produziert wird. Das gilt sowohl für die Sozialwissenschaften wie auch für die Naturwissenschaften.« (Siegfried Jäger, Theoretische und methodische Aspekte einer Kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse, in: Reiner Keller u. a. (Hg.), Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, 2. Aufl., 2006, hier zitiert aus einer Internetfassung von 2000). Macht man Ernst mit einer Erweiterung des Diskursbegriffs auf Medien-, Laien- und Alltagsdiskurse, so schwindet die spezifische »Formierung« der Diskurse, wie Foucault sie im Blick hatte. Weniger kritisch scheint mir die Einbeziehung multimedialer Kommunikation zu sein. Bei Foucault bleibt der Diskurs auf das Wort fixiert. Aber Foucault hat mit dem »ärztlichen Blick« auch ein Sichtbarkeitsregime entdeckt, und so verbiegt man ihn wohl nicht allzu sehr, wenn man neben der Sprache die anderen Kommunikationskanäle, insbesondere das Visuelle, einbezieht.

2.      Der Diskurs der »Archäologie«

Foucault behandelt den Diskursbegriff in den so genannten Methodenschriften »Die Archäologie des Wissens« und »Die Ordnung des Diskurses«. In der Archäologie gibt es jedenfalls eine halbe Definition:

»Man kann also jetzt der Definition des ›Diskurses‹ … einen vollen Sinn geben. Diskurs wird man eine Menge von Aussagen nennen, insoweit sie zur selben diskursiven Formation gehören.« (Archäologie des Wissens S. 170)

Zuvor konnte man lesen:

»Eine Aussage gehört zu einer diskursiven Formation, wie ein Satz zu einem Text und eine Proposition zu einer deduktiven Gesamtheit gehört. Während aber die Regelmäßigkeit eines Satzes durch die Gesetze einer Sprache und die Regelmäßigkeit einer Proposition durch die Gesetze einer Logik definiert wird, wird die Regelmäßigkeit der Aussagen durch die diskursive Formation selbst definiert. Ihre Zugehörigkeit und ihr Gesetz bilden ein und dieselbe Sache.« (Archäologie S. 172)

Ein Menge von Aussagen = Kommunikationszusammenhang wird zum Diskurs, wenn sich darin spezifische Diskursregeln beobachten lassen, die sich im Diskurs selbst formieren. Das klingt zunächst wie ein logischer Zirkel: Eine Aussage gehört zu einer diskursiven Formation, wenn sie zu einer diskursiven Formation gehört. Aber daran darf man sich nicht stören denn die Grenze zwischen Theorie und Empirie ist ihrerseits theoriegesteuert, weil die Theorie schon vorgibt, was beobachtet werden soll und kann. Das heißt, ein theorieunabhängiger Beobachtungsbegriff des Diskurses ist ausgeschlossen. Man muss schon wissen, was man beobachten kann, um zu bestimmen, was man beobachten soll. Man muss also in gewisser Weise das Ergebnis der Analyse vorwegnehmen und als Hypothese einsetzen, ein Phänomen, das auch schon den Vertretern einer von Popper aufgeklärten Empirie vertraut war. Mit Diaz-Bone (2006 S. 246f) lässt sich dieses Problem etwas anspruchsvoller als methodologischer Holismus einordnen.

Foucault hatte eine recht genaue Vorstellung, was man von Diskursen zu erwarten hat, nämlich

»die Kraft, Gegenstandsbereiche zu konstituieren, hinsichtlich deren wahre oder falsche Sätze behauptet werden können.« (Die Ordnung der Dinge S. 44)

Von Diskursen erwartete Foucault also die Erzeugung von Wissens- und Wahrheitsordnungen. Er hatte auch eine Hypothese darüber, wo Diskurse, die solches leisten, anzutreffen seien, nämlich in Zeiten »historischer Umbrüche in gesellschaftlichen Praxisfeldern, wie etwa das Verschwinden der öffentlichen Martern und Hinrichtungen, an deren Stelle die Disziplinaranstalt des Gefängnisses trat.«[4]

Es ist also längst nicht jeder Kommunikationszusammenhang ist ein Diskurs im Sinne Foucaults, sondern nur ein solcher, der die Kraft zur Herstellung und Sicherung von Wahrheit im Sinne gültigen Wissens besitzt. Diese Kraft bezieht der Diskurs aus einer spezifischen Formation oder Formierung, und die wiederum wird über vier verschiedene Schwellen erreicht, nämlich die Schwelle der Positivität, die Schwelle der Epistemologisierung, die Schwelle der Wissenschaftlichkeit und schließlich die Schwelle der Formalisierung (Archäologie S. 265f).

Mit der »Schwelle der Positivität« wird die Autonomie eines Aussagensystems erreicht. Es handelt sich nicht länger um einzelne, unzusammenhängende Äußerungen, sondern um ein Ensemble, das sich fortschreibt. Die »Positivität« ist auch gemeint, wenn Foucault von einem »historischen Apriori« spricht.

» …; ich will damit ein Apriori bezeichnen, das nicht Gültigkeitsbedingung für Urteile, sondern Realitätsbedingung für Aussagen ist. Es handelt sich nicht darum, das wiederzufinden, was eine Behauptung legitimieren könnte, sondern die Bedingungen des Auftauchens von Aussagen, das Gesetz ihrer Koexistenz mit anderen, die spezifische Form ihrer Seinsweise und die Prinzipien freizulegen, nach denen sie fortbestehen, sich transformieren und verschwinden. Ein Apriori nicht von Wahrheiten, die niemals gesagt werden oder wirklich der Erfahrung gegeben werden könnten; sondern einer Geschichte, die gegeben ist, denn es ist die der wirklich gesagten Dinge.« (Archäologie S. 184)

Man kann wohl sagen, dass es um diskursimmanente Regelmäßigkeiten geht, deren Feststellung keinen Rückgriff auf vordiskursive Ursachen oder Prinzipien erfordert. Dieses Apriori

»definiert sich als die Gesamtheit der Regeln, die eine diskursive Praxis charakterisieren: nun erlegen sich diese Regeln den Elementen, die sie in Beziehung setzen, nicht von außen auf; sie sind genau in das einbezogen, was sie verbinden; und wenn sie sich nicht mit dem geringsten der Elemente verändern, verändern sie sie und transformieren sich mit ihnen doch an bestimmten entscheidenden Schwellen. Das Apriori der Positivitäten ist nicht nur das System einer zeitlichen Streuung; es ist selbst ein transformierbares Ganzes.« (Archäologie S. 185)

Insofern bilden Diskurse ein (autonomes) »System der Formation und Transformation« (Archäologie S. 188)

Die Positivitätsschwelle deckt sich de facto weitgehend mit derjenigen der Epistemologisierung, auf der »ein Ensemble von Aussagen sich herausschält und vorgibt (selbst ohne es zu erreichen), Verifikations- und Kohärenznormen zur Geltung zu bringen und eine beherrschende Funktion (als Modell, als Kritik oder als Verifikation) im Hinblick auf das Wissen ausübt.« (Archäologie S. 266). Man kann vielleicht sagen: Das Ensemble von Aussagen wird selbstreflexiv.

Mit der »Schwelle der Wissenschaftlichkeit« erreicht die Reflexivität ein höheres Niveau. Die »epistemologische Figuren« werden von »bestimmten Konstruktionsgesetzen der Propositionen« beherrscht ist. Auf der »Schwelle der Formalisierung« schließlich entfaltet sich ein »formales Gebäude« von Axiomen, Definitionen und weiteren strukturierten Elementen.

Die Sache wird nicht einfacher dadurch, dass neben die Diskurse noch das »Archiv« tritt. Ich zitiere ausführlich, weil ich nicht verstehe.

»Mit diesem Ausdruck meine ich nicht die Summe aller Texte, die eine Kultur als Dokumente ihrer eigenen Vergangenheit oder als Zeugnis ihrer beibehaltenen Identität bewahrt hat; ich verstehe darunter auch nicht die Einrichtungen, die in einer gegebenen Gesellschaft gestatten, die Diskurse zu registrieren und zu konservieren, die man im Gedächtnis und zur freien Verfügung behalten will. Es ist vielmehr, es ist im Gegenteil das, was bewirkt, daß so viele von so vielen Menschen seit Jahrtausenden gesagte Dinge nicht allein gemäß den Gesetzen des Denkens oder allein nach dem Komplex der Umstände aufgetaucht sind, daß sie nicht einfach auf er Ebene sprachlicher Performanzen die Signalisation dessen sind, was sich in der Ordnung des Geistes oder in der Ordnung der Dinge entwickeln konnte; sondern daß sie dank einem ganzen Spiel von Beziehungen erschienen sind, die die diskursive Ebene charakterisieren; daß sie, anstatt zufällig erscheinende und ein wenig planlos auf stumme Prozesse gepfropfte Gestalten zu sein, gemäß spezifischen Regelmäßigkeiten entstehen; kurz, daß man, wenn es gesagte Dinge gibt – und nur diese nicht die Dinge, die sich darin gesagt finden, oder die Menschen, die sie gesagt haben, sondern das System der Diskursivität und die Aussagemöglichkeiten und -Unmöglichkeiten, die es ermöglicht, nach dem unmittelbaren Grund dafür befragen muß. Das Archiv ist zunächst das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse beherrscht. Aber das Archiv ist auch das, was bewirkt, daß all diese gesagten Dinge sich nicht bis ins Unendliche in einer amorphen Vielzahl anhäufen, sich auch nicht in eine bruchlose Linearität einschreiben und nicht allein schon bei zufälligen äußeren Umständen verschwinden; sondern daß sie sich in distinkten Figuren anordnen, sich aufgrund vielfältiger Beziehungen miteinander verbinden, gemäß spezifischen Regelmäßigkeiten sich behaupten oder verfließen … « (Archäologie S. 187)

Was die Methode der Diskursanalyse betrifft, geht man nicht fehl anzunehmen, dass Foucault etwas anderes wollte, als die Philosophen, Theologen, Juristen und Literaturwissenschaftler mit ihrer Hermeneutik.[5] Relativ deutlich erfährt man, dass Diskursanalyse kein linguistisches Verfahren ist. Die Aufgabe der Diskursanalyse besteht darin,

»nicht – nicht mehr – die Diskurse als Gesamtheiten von Zeichen (von bedeutungstragenden Elementen, die auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen), sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen.« (Archäologie S. 74)

Positiv heißt es etwas rätselhaft: »So erscheint das Vorhaben einer reinen Beschreibung der diskursiven Ereignisse als Horizont für die Untersuchung der sich darin bildenden Einheiten.« (Archäologie des Wissens, S. 41). Gemeint ist wohl vor allem, dass »im Unterschied zur Ideengeschichte wissensbezogen auf jegliche Unterstellung von Fortschrittslogiken verzichtet werden sollte.« (Keller a. a. O.) Den Diskurs zu »beschreiben« heißt dann, die Aussagen werden nicht historisch nach außerhalb des Diskurses zurückverfolgt und auch nicht hermeneutisch interpretiert, sondern in ihrer »Positivität« hingenommen:

»Eine Menge von Aussagen nicht als die geschlossene und übervolle Totalität einer Bedeutung zu beschreiben, sondern als eine lückenhafte und zerstückelte Figur; eine Menge von Aussagen nicht als in bezug zur Innerlichkeit einer Absicht, eines Gedankens oder eines Subjekts zu beschreiben, sondern gemäß der Streuung einer Äußerlichkeit; eine Menge von Aussagen zu beschreiben, nicht um darin den Augenblick oder die Spur des Ursprungs wiederzufinden, sondern die spezifischen Formen einer Häufung, bedeutet gewiß nicht das Hervorbringen einer Interpretation, die Entdeckung einer Fundierung, die Freilegung von Gründungsakten. Es bedeutet auch nicht die Entscheidung über eine Rationalität oder das Durchlaufen einer Teleologie, sondern die Feststellung dessen, was ich gerne als eine Positivität bezeichnen würde. Eine diskursive Formation zu analysieren, heißt also, eine Menge von sprachlichen Performanzen auf der Ebene der Aussagen und der Form der Positivität, von der sie charakterisiert werden, zu behandeln; oder kürzer: es heißt den Typ von Positivität eines Diskurses zu definieren. Wenn man an die Stelle der Suche nach den Totalitäten die Analyse der Seltenheit, an die Stelle des Themas der transzendentalen Begründung die Beschreibung der Verhältnisse der Äußerlichkeit, an die Stelle der Suche nach dem Ursprung die Analyse der Häufungen stellt, ist man ein Positivist, nun gut, ich bin ein glücklicher Positivist …« (Archäologie des Wissens S. 182)

Diese viel zitierte Stelle vom glücklichen Positivisten hat sich mir aber doch nicht ganz erschlossen.

3.      Die »Genealogie« des Diskurses

Die »Archäologie« befasst sich mit der Binnenwelt der Diskurse. Es geht um

»Interne Prozeduren, mit denen die Diskurse ihre eigene Kontrolle selbst ausüben; Prozeduren, die als Klassifikations-, Anordnungs-, Verteilungsprinzipien wirken.« (Die Ordnung des Diskurses S 17.)

Diese Regeln bestimmen, wie sich einige Aussagen als zulässig oder gar als »wahr« etablieren, während andere unangemessen, falsch oder unsagbar werden. Die »Genealogie« der Diskurse soll dagegen ihre »niederen Ursprünge« herausarbeiten.

»Kurz gesagt wäre die Archäologie die der Analyse der lokalen Diskursivitäten entsprechende Methode und die Genealogie die Taktik, ausgehend von den solchermaßen beschriebenen lokalen Diskursivitäten, die sich auftuenden und aus der Unterwerfung befreiten Wissen spielen zu lassen.« (In Verteidigung der Gesellschaft S. 26)

Damit gerät der Diskursbegriff der »Archäologie« in Aufruhr. Von Diskursen geht nunmehr Macht und Gefahr aus und sie sind ihrerseits Schauplatz von Machtkämpfen. Die »Genealogie des Wissens« ist eine kritische Methode, die historisch die »Kämpfe« vergegenwärtigt, in denen lokales Wissen »tyrannisch übergreifenden Diskursen« ausgesetzt ist, die von Wissenschaften wie Marxismus und Psychoanalyse beherrscht werden. Die Genealogie probt sozusagen den »Aufstand der Wissen gegen die Institution und die Wissens- und Machteffekte des wissenschaftlichen Diskurses« (In Verteidigung S. 28). Mit anderen Worten: Genealogie sucht nach Machtpraktiken, die auf Diskurse einwirken.

Drei dieser Praktiken hat Foucault als »Ausschließungssysteme« beim Namen genannt:

»Drei große Ausschließungssysteme treffen den Diskurs: das verbotene Wort; die Ausgrenzung des Wahnsinns; der Wille zur Wahrheit. Vom letzten habe ich am meisten gesprochen. Denn auf dieses bewegen sich die beiden anderen seit Jahrhunderten zu; immer mehr versucht es, sie sich unterzuordnen, um sie gleichzeitig zu modifizieren und zu begründen. Während die beiden ersten immer schwächer werden, und ungewisser, sofern sie vom Willen zur Wahrheit durchkreuzt werden, wird dieser immer stärker, immer tiefer und unausweichlicher.« ((Die Ordnung des Diskurses S. 16.))

Der »Wille zur Wahrheit« wird damit zum zentralen »Ausschließungssystem«, was wohl heißen soll, das Diskursbeiträge ein gewisses Niveau haben müssen, um »wahr« sprechen zu können. Hier zeigt sich die zunehmende Verwissenschaftlichung der Diskurse. Eine Folge sind subjektive Zugangsbarrieren, die zur »Verknappung« des Diskurses beitragen.

4.      Die Wahrheit der Diskursanalyse

Hinter dem »Willen zur Wahrheit« steckt der »Wille zur Macht«. Christian Schauer spricht vom »Rückgriff auf einen entstellten Nietzsche«.[6] Kampf war der Diskurs immer schon. Aber beim Übergang zur griechischen Klassik zwischen Hesiod und Platon, sei der »Wille zum Wissen« in den Diskurs eingezogen. Nunmehr seien vor allem »wahre Diskurse« zu beobachten, das heißt solche, in denen explizit nach Wahrheit gesucht und dabei – natürlich vergeblich – unterstellt werde, die Suche nach Wahrheit fordere den Verzicht auf Macht. Der »wahre Diskurs«, der sich von der Macht distanziere, sei aber »außerstande, die Macht zu erkennen, die in ihm selbst am Werk« sei. (Die Ordnung des Diskurses S. 17 mit Nachhilfe von Schauer S. 211f, 219, 221.)

»Wenn der wahre Diskurs seit den Griechen nicht mehr derjenige ist, der dem Begehren antwortet oder der die Macht ausübt, was ist dann im Willen zur Wahrheit, im Willen, den wahren Diskurs zu sagen, am Werk – wenn nicht das Begehren und die Macht? Der wahre Diskurs, den die Notwendigkeit seiner Form vom Begehren ablöst und von der Macht befreit, kann den Willen zur Wahrheit, der ihn durchdringt, nicht anerkennen; und der Wille zur Wahrheit, der sich uns seit langem aufzwingt, ist so beschaffen, daß die Wahrheit, die er will, gar nicht anders kann, als ihn zu verschleiern.« (Die Ordnung des Diskurses S. 17)

Das bedeutet wohl, dass der »Wille zur Wahrheit« sich nicht von dem »Willen zur Macht« befreien kann, dass folglich die Frage nach der Wahrheit nicht objektiv zu beantworten ist, sondern immer nur als Machtfrage entschieden werden kann, mag sich diese Entscheidung auch als Diskurs verkleiden.

Der naive Foucault-Leser gerät damit gleich doppelt in die Bredouille. Erstens geht er davon aus, dass Foucault selbst für seine Analysen eine machtfreie Wahrheit in Anspruch nimmt. Zweitens fragt er sich: Wenn Macht sich immer im Medium der Wahrheit zeigt, wie lässt sich Macht dann überhaupt als solche erkennen? Deshalb wird es notwendig, noch einmal etwas näher auf die Wahrheitstheorie Foucaults einzugehen. Es ist ganz unproblematisch, Foucault als Sozialkonstruktivisten einzuordnen. Spätestens Berger und Luckmann haben mehr oder weniger alle zum Sozialkonstruktivismus bekehrt (und die Foucaultisten haben sich diesen als »diskursive Konstruktion von Wirklichkeit« angeeignet.[7] Die Frage ist aber, ob Foucault ein epistemologischer (= kognitiver oder radikaler) Konstruktivist war. Viele Formulierungen in seinen eigenen Texten sprechen dafür. Auch die Sekundärliteratur neigt zu dieser Einschätzung. Ein Handbuch-Artikel[8] referiert die Position Foucaults so:

»Identitäten und Objekte sind dann ihrer jeweiligen Beschreibung nicht vorgängig oder mit ihrer Bezeichnung eindeutig identisch. Sie werden vielmehr im Akt dieser Beschreibung oder Bezeichnung erzeugt, wobei dieser Akt keine einmalige Bedeutungsfestlegung ist, welche dann unverändert wiederholt werden könnte, sondern in ständigen Aktualisierungen bestätigt werden muss und sich wandeln kann. Sie werden so zu kontingenten Einheiten der Analyse, die ihrer Untersuchung nicht vorgelagert sind, sondern durch Prozesse der Bedeutungszuschreibung hervorgebracht werden.«

Das klingt wie eine Zurückweisung repräsentationaler oder objektivistischer Beschreibungsmöglichkeiten.

Foucaults eigene Diskursanalysen betreffen sämtlich Bereiche, die er als »Episteme« gekennzeichnet hat. Stets geht es um Thematiken aus den »Humanwissenschaften«, und es ist gar keine Frage, dass »die Wissenschaften« zentrale Bedeutung für die Affirmationskraft von Diskursen haben. Die Frage ist aber die nach dem Status der Aussagen Foucaults über Diskurse. Foucault hat sich selbst von dem Wahrheitswillen, den er überall diagnostiziert, nicht freigezeichnet. Und hinter diesem Wahrheitswillen steckt mindestens die Idee einer definitiven Wahrheit. Es ist deshalb schwer vorstellbar, dass er für seine Aussagen über die sozialkonstruktive Funktion von Diskursen nicht mehr in Anspruch genommen hätte, als dass diese Aussagen ihrerseits Konstruktionen des zeitgenössischen philosophischen Diskurses seien. Aber da der Wille zur Wahrheit immer mit dem Willen zur Macht gekoppelt ist, ist ein »objektiver« Metadiskurs eigentlich nicht möglich.

Dahinter steckt der berüchtigte Zirkel, in dem jeder Versuch einer Letztbegründung epistemologischer Positionen landet. Aus dieser Verlegenheit sucht sich der naive Leser einen Ausweg mit Hilfe eines objektivistischen Metacodes.[9] Die diskursiv produzierte Wahrheit ist eben keine Wahrheit, sondern gilt als Wahrheit und hat deswegen die Wirkung »objektiver« Wahrheit, das heißt, dass man sich ihr nicht widersetzen kann. Juristen fällt es relativ leicht, diesen Ausweg zu finden, denn sie sind mit dem Gedanken vertraut, dass Gegenständen, die eigentlich nicht wahrheitsfähig sind, nämlich Rechtsnormen, wahrheitsanaloge Geltung vindiziert wird. So beziehen sich denn auch die Wissen und Wahrheiten, von denen bei Foucault immer wieder (im Plural) die Rede ist, vor allem auf das, was ich den normativen Überschuss der Humanwissenschaften nennen würde. In diesem Sinne behandelt Foucault die Humanwissenschaften (besonders im letzten Kapitel der »Ordnung der Dinge«) als Produzenten von Wahrheiten und nimmt für diese Diagnose Wahrheit in Anspruch. Seine Diskursanalyse liegt auf der quasi-objektiven Ebene eines Metadiskurses. Auch auf dieser Ebene bleibt insofern ein Rest von Relativismus oder Perspektivismus, als sich stets herausstellen kann, dass der Metadiskurs der Diskursanalyse auch nur ein gewöhnlicher war.

5.      Dispositivanalyse

Der Begriff des Dispositivs ist eher noch schwieriger als derjenige des Diskurses. Aber die Foucaultisten wollen nicht darauf verzichten, obwohl genügend Alternativen zur Verfügung stehen.

III. Analyse von Narrativen

Literatur: Shulamit Almog (2007) How Digital Technologies Are Changing the Practice of Law, 2007 (Kapitel 2: Cyberspace, Narrative and Law, S. 75-117); W. Lance Bennett (1978) Storytelling in Criminal Trials: A Model of Social Judgement, The Quarterly Journal of Speech 64, 1-22; ders. (1979) Rhetorical Transformation of Evidence in Criminal Trials: Creating Grounds for Legal Judgement, The Quarterly Journal of Speech 65, 311-323; W. Lance Bennett/Martha S. Feldman (1981) Reconstructing Reality in the Courtroom, 1981; David M. Engel (1993) Origin Myths. Narratives of Authority, Resistance, Disability, and Law, LSR 27, 785-826; Patricia Ewick/Susan Silbey (1995) Subversive Stories and Hegemonic Tales: Toward a Sociology of Narrative, LSR 29, 1995, 197-226; dies. (1998) The Common Place of Law; Benjamin Fleury-Steiner (2002) Narratives of the Death Sentence: Toward a Theory of Legal Narrativity, LSR 36, 549-576; Rebecca R. French, Of Narrative in Law and Anthropology, LSR 30, 1996, 417-435 (Rezension von Martha Minow u.a. (Hg.), Narrative, Violence, and the Law. The Essays of Robert Cover, 1993; Robin West, Narrative, Authority, and Law, 1993, und Lila Abu-Lughod, Writing Women’s Worlds: Bedouin Stories, 1993); Paul Gewirtz, Narrative and Rhetoric in Law, in: Peter Brooks/Paul Gewirtz (Hg.), Law’s Stories, Narrative and Rhetoric in the Law, 1996, 2-13; Bernard S. Jackson (1988) Law, Fact and Narrative Coherence; ders. (1995) Making Sense in Law. Linguistic, Psychological and Semiotic Perspectives; ders. (1996) Making Sense in Jurisprudence; Douglas W. Maynard (1988) Narratives and Narrative Structure in Plea Bargaining, LSR 22, 449-481; Christian Salmon, »Storytelling«. La machine à fabrique des histoires et à formater les esprits, 2007; Jörg Schönert, Was ist und was leistet Narratologie?, Rezensionsforum Literaturkritik.de, 2006.

Internetquellen: Das Interdisziplinäre Centrum für Narratologie (ICN); European Narratology Network.

»Metaphern und Geschichten sind (leider) viel stärker als Ideen. Außerdem kann man sie leichter behalten und es macht mehr Spaß, sie zu lesen. … Ideen kommen und gehen, Geschichten bleiben bestehen.« (Taleb, Der Schwarze Schwan, S. 13).

Narratologie oder Erzählforschung hat als philologische Methode zum Umgang mit literarischen Texten begonnen. Doch erzählt wird überall, nicht nur in der Literatur, sondern auch und vor allem im Alltag, bei der Begegnung mit Institutionen, also bei Gericht, beim Arzt, in den Medien und sogar in der Wissenschaft. Daher ist die Erzählforschung über den ursprünglichen Gegenstandsbereich hinaus zu einer Methode der Volkskunde, Ethnologie und schließlich auch der Soziologie geworden. Sie geht davon aus, dass »Geschichten«, nämlich verknüpfende Darstellungen von Zustandsveränderungen, ein Grundmuster der Kommunikation bilden, mit dem sich die Menschen in der Welt orientieren und Sinn erzeugen. Aufgabe der Forschung ist es dann, typische Erzählmuster zu beschreiben und der Wirkung bestimmter Erzählungen nachzugehen. Eine beträchtliche Anzahl rechtssoziologischer Arbeiten baut auf die Annahme, dass Menschen den Zugang zum Recht über Narrative finden und dass die Erforschung von Narrativen daher auch einen Zugang zum Rechtsbewusstein der Menschen eröffnet. Das Recht ist von Erzählungen umgeben, die Institutionen des Rechts gewinnen für den Einzelnen Gestalt, indem sie Teil seiner eigenen Geschichte werden. Im Recht konkurrieren Narrative mit analytischen Diskursen.

»I think a fundamental distinction can be drawn between the mind that tells a story and the mind that gives reasons: one finds its meaning in representations of events as they occur in time, in imagined experience; the other in systematic or theoretical explanations, in the exposition of conceptual order or structure. One is given to narrative, the other to analysis.« (James Boyd White, The Legal Imagination, 1973, 859)

Die Erzählforschung ist nicht bloß ein theoretischer Ansatz zur Analyse des Rechts, sondern auch Grundlage für einen kritischen Aktivismus. Die Vertreter dieses Ansatzes wollen den juristischen Fachdiskurs anreichern, indem sie die Gefühle und Wünsche der Betroffenen durch eine »dichte Beschreibung« einbringen. Erzählforschung soll insbesondere dazu dienen, den spezifischen Erfahrungen von Frauen in einer von Männern geprägten Umgebung oder von Farbigen in einer »weißen« Umwelt Gehör zu verschaffen.

Das große Interesse, das die Erzählforschung hat zur Mode werden lassen, war wohl eine Reaktion sowohl auf den abstrakt politisierenden Ansatz der Critical Legal Studies als auch auf den scientistischen Ansatz der Ökonomischen Analyse des Rechts (Gerwitz1996:13). Und es fügt sich auch in das kulturwissenschaftliche Interesse am Recht. Und wie auch sonst in den Kulturwissenschaftlichen werden vielfach alte Fragen aufgewärmt.

Mit Almog kann man drei typische Narrative unterscheiden:

  1. Gründungsmythen (generative narratives)
  2. strukturierende Erzählungen (conceptualising narratives)
  3. operative Erzählungen (functional narratives).

Zu 1: Gründungsmythen beschreiben den Übergang von einem vorrechtlichen zum Rechtszustand. Die wichtigsten gehören zur religiösen Überlieferung oder zum klassischen Bestand der Weltliteratur, so die Orestie des Äschylos. Auch biblische Geschichten prägen immer noch das Rechtsverständnis. Die prominenteste ist natürlich die Entgegennahme der zehn Gebote durch Moses auf dem Berg Sinai.

Rechtsphilosophie betont immer wieder, dass das Recht nicht seine eigene Geltung begründen könne (es sei denn, man akzeptierte die hochabstrakte Lösung der autopoietischen Systemtheorie). Derrida[10] fragte, wie man zwischen der Gewalt des Rechts als einer legitimen Macht und originären Gewalt, die diese Macht erst begründet hat, unterscheiden könne, und betonte, dass es Gewalt gewesen sein müsse, die das Recht erst hervorgebracht habe. Aber wortlose Gewalt hätte kaum genügt, einen Rechtszustand zu schaffen. Dazu bedarf es der Überzeugungskraft einer Erzählung, die dem Übergang eine moralische Qualität verleiht.

Kritische Beobachter interpretieren auch die Basistheorien der Rechtsphilosophie als Narrative. Um die richtige Interpretation des Rechts konkurrieren danach drei große Mythen. Der Entwicklungsmythos erzählt, wie sich das Recht aus vorrechtlichen Sitten und Gebräuchen entwickelt. Diese Geschichte dient der Legitimation des Rechts, indem sie dieses als bloße Fortsetzung vorrechtlicher gesellschaftlicher Ordnung darstellt, und weil sie zugleich eine Geschichte des Fortschritts ist; denn mit der Veränderung der Gesellschaft entwickelt sich auch das Recht weiter. Die zweite Story ist die Geschichte vom Gesellschaftsvertrag, also die Vorstellung, dass der der Staat das Ergebnis einer freien und vernünftigen Entscheidung seiner Bürger bilde. Der postmoderne Gegenmythos beschreibt das Recht als reine Machtkonstellation. Die Ursprünge des Rechts liegen in Vergewaltigung oder Eroberung. Das Motiv der Mächtigen ist ihr Selbstinteresse, und man gehorcht ihnen aus Furcht und Not. Der Vertragsmythos ist aus dieser Sicht eine Fiktion, der Entwicklungsmythos bloße Spekulation. Doch überall findet der Gewaltmythos Beweise dafür, dass das Recht der Gesellschaft aufgezwungen wird, durch Eroberung oder Kolonialisierung oder durch Machtkämpfe zwischen Nord und Süd, Arm und Reich, Weiß und Schwarz, Mann und Frau. Das Ziel kritischer Wissenschaft besteht deshalb darin, alle Beobachtung über das Recht in diesen Gegenmythos einzupassen.

Wenn Jean-François Lyotard in seiner Studie »Das postmoderne Wissen« (La condition postmoderne, 1979) das »Ende der großen Erzählungen« verkündet, so spricht er damit nicht nur den traditionellen Geschichten, sondern auch den klassischen philosophischen Systemen ihre Fähigkeit ab, als Legitimation zu dienen.

Zu 2: Strukturierende Erzählungen bringen Grundfragen des Rechts ins Bewusstsein, insbesondere den immer wieder aufscheinenden Konflikt zwischen Recht und Gerechtigkeit. Auch diese Geschichten haben oft literarische Quellen. Zu den geläufigsten gehören Kafkas »Prozeß« und die Geschichte, die Heinrich von Kleist in seiner 1810 erschienenen Novelle »Michael Kohlhaas« erzählt.

Zu 3: Operative Erzählungen sind solche auf der Mikroebene des Alltags, mit denen Menschen rechtliche Ansprüche erheben oder abwehren. Wer einen Anspruch erheben will, muss einen Gegner definieren, eine Abfolge von Ereignissen darstellen, die ihn selbst als Opfer erscheinen lassen und seiner Forderung einen moralischen Anstrich geben. Wenn man so will, kann man auch Zeugenaussagen, den Vortrag von Anwalt oder Staatsanwalt oder gar die Begründung des Gerichts als – mehr oder weniger abweichende – Erzählung interpretieren.

»Structural characteristics of stories alert jurors to such things as the sufficiency of an interpretation with the entire body of evidence, the importance of any particular discrepancy, and the degree of doubt attached to an interpretation. Corresponding to these standards of judgment are lawyers’ maxims for employing story structure to develop sufficiency, consistency, and plausibility in their cases. …« (1979:311)

The story perspective suggests that every question and every rhetorical move has a tactical value for the overall strategy of producing a structurally complete and consistent story. … First, each bit of information must be defined in a manner that establishes its place in the story and permits its relationship to other story elements to be assessed for consistency. Second, the basis on which a bit of information is to be connected to other elements must be established. … Finally, each definition must be shown to be a credible symbolic choice from cases in which other definitions could apply to a bit of information and alter its status in the story.« (1979:313)

The story perspective suggests that every question and every rhetorical move has a tactical value for the overall strategy of producing a structurally complete and consistent story. … First, each bit of information must be defined in a manner that establishes its place in the story and permits its relationsship to other story elements to be assesed for consistency. Second, the basis on which a bit of information is to be connected to other elements must be established. … Finally, each definition must be shown to be a credible symbolic choice om casesin which other definitions could apply to a bit of information and alter its status in the story.« (1979:313)

Auf diesem Wege gelangt man in die Mikrosoziologie des Verfahrens.

Ewick und Silbey nutzen sind operative Erzählungen zur Analyse des Rechtsbewusstseins. Sie haben 430 Bürger in New Jersey nach ihren »Geschichten« vom Recht befragt.

»We adopted the concept of narrative because people tend to explain their actions to themselves and others through stories. Rather than offering categorical principles, rules, or reasoned arguments, people report, account for, and relive their acitivities through narratives: sequences of statements connected in such a way as to have both a temporal ad a moral ordering. … stories people tell about themselves and their lives both constitute and interpret those lives.« (S. 29)

Aus den Antworten haben Ewick und Silbey drei typische Narrative herausdestilliert, in denen die Bürger ihr Rechtsbewusstsein zum Ausdruck bringen.

  1. »Vor dem Recht« (before the law)[11]: Dieser Erzähltyp stellt das Recht als überlegene und objektive Autorität dar, die mit dem Alltag keine Berührung hat.
  2. »Mit dem Recht« (with the law): Dieser Erzähltyp stellt das Recht als eine Art Spiel dar, dass man zum eigenen Vorteil beeinflussen kann und mit dessen Hilfe soziale Ressourcen mobilisieren lassen.
  3. »Gegen das Recht« (against the law): Eine dritte »story« zeichnet das Recht als Produkt einer willkürlichen und unberechenbaren Macht. Menschen, die diese Geschichte vorziehen, »talk about the ruses, tricks, and subterfuges they use, to appropriate part of law’s power.« (S. 28).

Es handelt sich bei diesen »Narrativen« nicht eigentlich um Erzählungen, sondern um analytische Typisierungen, mit denen Ewick und Silbey die Erzählungen ihrer Probanden interpretieren.

IV.  Die Fallerzählungen der Juristen

Ministorytelling ist eine juristische Spezialität. Bei der Formierung und Weitergabe juristischen Wissens spielen Fallerzählungen eine große Rolle. Allerdings fehlt den juristischen »Fällen« fehlt oft das Fleisch. Die Akteure sind auf bloße Buchstaben reduziert, sie sind alters- und geschlechtslos, sie leben ohne Bindungen und Verbindungen und handeln jenseits von Raum und Zeit. Die Akteure bekommen nur das Mindestmaß an Attributen zugeteilt, auf das es unter dem Aspekt der erläuterten Normen ankommen soll, etwa nach dem Muster: A will B erschießen. Er verwechselt jedoch C mit B. Fälle dieser Art sind wegen ihrer (beabsichtigten) Lebensfremdheit als »Lehrbuchkriminalität«[12] sprichwörtlich. Ihre Aufgabe besteht darin, bestimmte Normkonstellationen zu verdeutlichen, und dazu sind sie unentbehrlich. Neben solchen Fällen, die von vornherein daraufhin konstruiert sind, eine bestimmte Normkonstellation zu demonstrieren, gibt es andere, die etwas gehaltvoller sind, weil sie sog. »Probleme« verdeutlichen sollen, d. h. Fragen, die sich nicht konstruktiv aus der Anwendung einer Norm oder dem Zusammenwirken mehrerer Normen lösen lassen, sondern zu ihrer Beantwortung einer zusätzlichen Wertung bedürfen. Meistens werden solche Fälle der Rechtsprechung entnommen. Mehr und mehr erhalten diese Fälle heute (nach amerikanischem Muster) als solche einen Namen, der sich als – mehr oder weniger anschauliches – Merkwort eignet, z. B. Maastricht I und II, Kruzifix, Caroline von Monaco.

In der Rechtssoziologie glaubte man zeitweise, mit der Entdeckung der Deformation der juristischen Fallerzählungen einen Ansatz zu Kritik vor allem der juristischen Ausbildung gefunden zu haben. Es ist natürlich richtig, dass die »Fälle« nicht das »wahre Leben« widerspiegeln. Aber das haben eigentlich auch Juristen immer gewusst. Das Problem, wenn es denn hier überhaupt eines gibt, liegt darin, wie die Fallstrukturen im Interesse der Anschaulichkeit und des Unterhaltungseffekts ausgeschmückt werden. In der Präsenzveranstaltung werden sie oft in eine drastische Story eingekleidet, oder die Personen erhalten sinnfällige, nicht immer druckfähige Namen. In solchen an sich überflüssigen Zutaten können sich dann Idiosynkrasien des Fallenstellers zeigen. Besonders sexistisch gefärbte Erzählungen waren sehr verbreitet. Das sollte sich inzwischen geändert haben.

»Storytelling« hat auch eine rechtstheoretische Komponente, denn es beherrscht nicht nur den Alltag und den Rechtsunterricht, sondern ist zu einem strategischen Konzept, zunächst in der Wirtschaft und dann auch in der Politik geworden. Da müssen Geschichten oft die Argumente ersetzen. Das beschreibt Christian Salmon, Storytelling. La machine à fabriquer des histoires et à formater les esprits, 2007. Schon immer gehörte das Storytelling zur Kunst des juristischen Plädoyers. Nun erscheint es in multimedialem Gewand in der Gestalt von Day-in-theLife- oder Victim-Impact Videos. Die juristische Frage lautet also: Können Argumente durch Geschichten ersetzt werden?

V.  Historische Soziologie

Literatur: Hans Albert, Critical Rationalism: The Problem of Method in Social Sciences and Law, Ratio Juris 1988, 1-19; Stephen Daniel, Ladders and Bushes: The Problem of Caseloads and Studying Court Activities over Time, ABF Research Journal 1984, 751-795; Lawrence M. Friedman, Sociology of Law and Legal History, Sociologia del Diritto XVI, 1989, 7-17; James Willard Hurst, The Growth of American Law, 1950; ders., Law and Economic Growth. The Legal History of the Lumber Industry in Wisconsin, 1836-1915, 1964; Robert W. Gordon/Morton J. Horwitz, Law, Society, and History, Themes in the Legal Sociology and Legal History of Lawrence M. Friedman, 2014; Klaus F. Röhl, Wozu Rechtsgeschichte?, Jura, 173-178; Dietmar Willoweit, Anmerkungen zum Verhältnis von Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie, in: Horst Dreier (Hg.), Rechtssoziologie am Ende des 20. Jahrhunderts, 2000, 342-346.

Der größte Erfahrungsschatz liegt in der Vergangenheit. Deshalb ist man stets geneigt zu fragen: Was können wir aus der Geschichte lernen? Unter Historikern ist diese Frage eher verpönt. Für sie ist die Geschichte mehr als eine »moralisch-politische Beispielsammlung« (Savigny). Doch alle anderen bedienen sich der Geschichte gerne als eines Steinbruchs. Bei Bedarf suchen sie nach einem passenden Brocken, nach historischen Beispielen oder Anleitungen, nach kleinen oder großen Erzählungen. Eine juristische Version dieser Steinbruchtheorie ist die historische Auslegung, die von Fall zu Fall die Gesetzesmaterialien bemüht. Solchen Umgang mit der Geschichte hat Savigny verächtlich »in Ermangelung eines anderen Ausdrucks« der von ihm sogenannten »ungeschichtlichen Schule der Rechtswissenschaft« zugeschrieben. Über die richtige Methode streitet man in der Geschichtswissenschaft nicht weniger als in der Jurisprudenz. Das Spektrum reicht vom Historismus über historistische und evolutorische bis zu wertenden Geschichtstheorien und schließt auch eine sozialwissenschaftliche Geschichtsbetrachtung ein.

Eine sozialwissenschaftliche Geschichtsbetrachtung begnügt sich nicht damit, die Geschichte als große Erzählung zu begreifen. Am deutlichsten ist das, wenn Geschichte als reines Ursache-Wirkungsgefüge verstanden wird. Dann versucht man einzelne historische Ereignisse kausal zu erklären, also zu fragen, welche Ursache gerade zu diesem bestimmten Verlauf der Geschichte geführt haben können. Ältere Autoren verwiesen dazu auf Geographie und Klima; jüngere bevorzugen ökonomische Erklärungen. Von Montesquieu etwa stammt die Vorstellung, eine Republik könne sich nur auf einem kleinen, dicht bevölkerten Territorium entwickeln. Ein großräumiges dünn besiedeltes Gebilde verlange dagegen nach einer Despotie. In der Mitte zwischen beidem sei eine Monarchie die angemessene Staatsform. So wird die Entstehung der stadtstaatlichen Demokratie des griechischen Altertums aus den landschaftlichen Gegebenheiten Griechenlands erklärt. In dem Streit um die amerikanische Bundesverfassung beriefen sich die Gegner der Republik auf Montesquieu. Auch dem Klima billigte Montesquieu einen erheblichen Einfluss auf die sozialen Verhältnisse einer Gesellschaft zu. Dieser Gedanke wurde im 18. Jahrhundert aufgegriffen um zu belegen, dass das römische Recht für Deutschland unangemessen sei (§ 3 II).

Montesquieu dient hier – ganz im Sinne der Steinbruchtheorie – nur als historisches Beispiel für eine sozialwissenschaftliche Geschichtsbetrachtung. Die Betonung klimatischer oder geographischer Variablen bildet nur einen Extremfall, den wir heute so nicht mehr akzeptieren. Auch rein ökonomische Erklärungen haben mit dem Niedergang des Marxismus ihre Anziehungskraft verloren. Umso beliebter sind heute – unter dem Titel »Historische Institutionenökonomik« (§ 65) – Erklärungen des Wirtschaftsgeschehens mit Hilfe rechtshistorischer Forschung. Überholt sind nur bestimmte Theorien, nicht jedoch die kausale Geschichtsbetrachtung als solche. Sieht man die innerwissenschaftliche Aufgabe der Geschichtswissenschaft darin, Ereignisse der Vergangenheit mit Hilfe gegenwärtig existierender Zeugnisse (kausal) zu erklären, so geht das letztlich nur induktiv, indem man bestimmte Regelmäßigkeiten unterstellt. Dann wird sogar die Methode des Sinnverstehens, die im Kontext des Historismus eher zu einer existentialistischen Hermeneutik gerät, zu einer empirischen und damit zu einer sozialwissenschaftlichen Methode.

Wenn man einer sozialwissenschaftlichen Geschichtsbetrachtung das Wort redet – wie Hans Albert und Lawrence M. Friedman – dann verliert Geschichtswissenschaft ihre Besonderheit und entwickelt sich zu einer rückwärtsgewandten Rechtssoziologie mit der Folge, dass unter Relevanzgesichtspunkten der Schwerpunkt mehr und mehr in die jüngste Vergangenheit rückt.

Die historische Sozialwissenschaft, die in Deutschland vor bald 50 Jahren von damals jüngeren Historikern um Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka in Bielefeld ausgerufen wurde, war ein Gegenprogramm zur narrativen Geschichtsschreibung. Geschichte sollte nicht mehr erzählt werden und schon gar nicht länger auf die Taten großer Männer fixiert bleiben, sondern die Sphären sozialer Ungleichheit ausleuchten und die die damit verbundenen Strukturen aufzeigen. So steckt denn auch Wehlers opus magnum, die fünfbändige deutsche »Gesellschaftsgeschichte« (1987-2008) voller Zahlen und Daten.

Längst gibt es eine stattliche Reihe historisch orientierter Untersuchungen, die der Rechtssoziologie zugerechnet werden können. Meister der historischen Rechtssoziologie war Max Weber. In den USA war James Willard Hurst besonders einflussreich. Sein Motto: »In general the timetable of our legal history teaches … that apart from the toughness of institutional structure, law has been more the creature than the ceator of events.« (1950: 6). Er meinte also, dass die Institutionen des Rechts und das Verhalten seiner Akteure nur wirklich verstanden werden können, wenn sich die Analyse nicht auf die Interna des Rechtssystems beschränkt, sondern den Kontext des Rechts, vor allem auch die wirtschaftliche Entwicklung, einbezieht. Mit dieser These, die damals trotz der Vorarbeit der Legal Realists noch immer fortschrittlich war, inspirierte Hurst an der Law School in Madison/Wisconsin eine ganze Generation von Juristen, die in den 1960er Jahren zum Kern der Law-and-Society-Bewegung wurden (Friedman, Galanter, Macaulay, Trubek).

Einige »Klassiker« seien jedenfalls genannt: Theda Skocpol, States and Social Revolutions, 1979 (über 30 Nachdrucke); dazu die Rezension von Jeff Goodwin, How to Become a Dominant American Social Scientist: The Case of Theda Skocpol, in: Clawson, Required Reading, S. 37; Immanuel Wallerstein: Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert, 2004 (Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century, 1974, mehrfach nachgedruckt); dazu die Rezension von Harriet Friedmann in: Clawson, Required Reading, 1998, S. 149-154.

Die Mehrzahl der historisch relevanten Arbeiten ist qualitativer Art. Aber es gibt eine beachtliche Zahl historischer Untersuchungen, die mit Statistiken arbeiten. Sie gelten in erster Linie der Entwicklung von Kriminalität und Prozesstätigkeit, da hierzu in den Archiven beachtliches Material vorhanden ist. Als in den 1970er Jahren der Eindruck entstand, dass die Prozesstätigkeit unaufhörlich anstieg und deshalb von einer Prozessflut die Rede war, fanden historische Untersuchungen große Aufmerksamkeit. Darüber berichtete 1984 Daniels. Der merkwürdige Titel seines Aufsatzes »Ladders and Bushes« deutet auf die Quintessenz all dieser Studien hin: Bei einer langfristigen Beobachtung der Prozesstätigkeit zeigt sich nicht das Bild einer Leiter, auf der es ständig nach oben geht, zu sehen sind nur Häufungen, die wie Büsche aus der Ebene ragen. In Deutschland gab es ähnliche Untersuchungen vor allem von Wollschläger[13], aber auch von Rottleuthner[14] und anderen[15].

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[1] Rüdiger Lautmann, Justiz –  die stille Gewalt, Teilnehmende Beobachtung und entscheidungssoziologische Analyse 1972.

[2] Weitere einschlägige Untersuchungen: J. Maxwell Atkinson/Paul Drew, Order in Court. The Organization of Verbal Interaction in Judicial Settings, 1979; Ludger Hoffmann, Kommunikation vor Gericht, 1983; Michael Becker-Mrotzeck, Kommunikation und Sprache in Institutionen Teil II: Arbeiten zur Kommunikation in juristischen Institutionen, Deutsche Sprache 1991, 270-288 u. 350-372; Fritz Schütze, Strategische Interaktion im Verwaltungsgericht – eine soziolinguistische Analyse zum Kommunikationsverlauf im Verfahren zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer, in: Hoffmann-Riem u. a, Interaktion vor Gericht, 1978, 19 ff.; Hans Georg Soeffner, Strukturanalytische Überlegungen zur gerichtlichen Interaktion, in: Reichertz, Sozialwissenschaftliche Analysen jugendgerichtlicher Interaktion, 1984, 189 ff. [Weitere Untersuchungen nach Stegmaier S. 62 ff.]

[3] Vgl. Pierre Bourdieu, The Force of Law: Toward a Sociology of the Juridical Field, The Hastings Law Journal 38 (1987), 814–853. In einer Einführung (S. 805-813) erläutert der Übersetzer Richard Terdiman die von Bourdieu verwendeten Begriffe. Zu Bourdieus Begriff des symbolischen Kapitals vgl. auch auf Rsozblog.de Männliche Herrschaft als symbolischer Kapitalismus.

[4] Reiner Keller, Die Wissenssoziologische Diskursanalyse als Beitrag zu einer wissensanalytischen Profilierung der Diskursforschung, Forum Qualitative Sozialforschung 8, Mai 2007, Art. 19.

[5] Thomas Lemke, Nachwort zu »Analytik der Macht«, S. 322.

[6] Aufforderung zum Spiel: Foucault und das Recht, 2006, S. 207

[7] Reiner Keller/Andreas Hirseland/Werner Schneider/Willy Viehöver, Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit, in: Reiner Keller u. a. (Hg.), Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit, Zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursforschung, 2005, 7-21.

[8] Sina Farzin, Poststrukturalismus: Foucault, in: Jörn Lamla u. a. (Hg.), Handbuch der Soziologie, 2014, 197-212, S. 198 und gleichlautend S. 202.

[9] Die Begrifflichkeit habe ich von Richard Rottenburg gelernt: Code-Wechsel. Ein Versuch zur Umgehung der Frage: Gibt es eine oder viele Wirklichkeiten?, in: Matthias Kaufmann (Hg.), Wahn und Wirklichkeit – multiple Realitäten. Der Streit um ein Fundament der Erkenntnis, 153-174.

[10] Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, 1991.

[11] »Vor dem Gesetz« ist ein kurzer Text aus dem Neunten Kapitel von Kafkas »Pozeß«, der, anders als das Gesamtwerk, schon vor Kafkas Tod veröffentlicht wurde. Ewick und Silbey zitieren daraus und berufen sich für ihre Wortwahl ausdrucklich auf Kafka (S. 75). Doch die Wahl ist irreführend. In Kafkas Parabel es um den vergeblichen Versuch des Mannes vom Lande, »in das Gesetz« einzudringen. Zwar ist die Interpretation des Kafka-Textes höchst umstritten. Aber es ist klar, dass dem »Mann vom Land« des Gesetz verschlossen bleibt und dass auch der »Türhüter« keine Hilfe bietet. So erscheint das Gesetz eher unwirklich oder gar unheimlich und unvorhersehbar, und als Hilfe kommt es auf jeden Fall zu spät.

[12] Nach Herbert Jäger, Glosse über Lehrbuchkriminalität, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1973, S. 300-306.

[13] Die Arbeit der europäischen Zivilgerichte im historischen und internationalen Vergleich. Zeitreihen der europäischen Zivilprozeßstatistik seit dem 19. Jahrhundert. In: Erhard Blankenburg (Hg.), Prozessflut?, 1989, 21–114. Dort S. 114 sind auch weitere Arbeiten Wollschlägers nachgewiesen.

[14] Hubert Rottleuthner, Verfahrensflut und Verfahrensebbe. Ein Plädoyer für die langfristige Betrachtung gerichtlicher Gezeiten, ZRP 1985, 117-119.

[15] Z. B. Röhl, Erfahrungen mit Güteverfahren, Deutsche Richterzeitung 1983, 90-97.

Stand der Bearbeitung: November 2018