§ 24 Der Mensch als soziale Person

I. Die anthropologische Grundlage

Literatur: Buytendijk, Mensch und Tier, 1958; Eibl-Eibesfeld, Menschenforschung auf neuen Wegen – Die naturwissenschaftliche Betrachtung kultureller Verhaltensweisen, 1976; Gadamer/Vogler, Neue Anthropologie, Bd. 2 (Biologische Anthropologie), 1972; Gehlen, Der Mensch, 8. Aufl. 1966; ders., Urmensch und Spätkultur, 1956; Lampe (Hg.), Beiträge zur Rechtsanthropologie, ARSP Beiheft 22, 1985; Lorenz, Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, 1963; ders., Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, München 1973; ders., Das Wirkungsgefüge der Natur und das Schicksal des Menschen. Gesammelte Arbeiten, 1978; ders., Der Abbau des Menschlichen, 1983; Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, 2. Aufl. 1965; Portmann, Zoologie und das neue Bild des Menschen, 5. Aufl. 1962; Rottleuthner, Biologie und Recht, ZfRSoz 6, 1985, 104ff.; Tinbergen, Instinktlehre, 1956

Menschen sind zur Selbsterhaltung, mindestens aber zur Erhaltung der Art aufeinander angewiesen. Erst recht sind die erstaunlichen Leistungen von Kultur und Zivilisation nur als Ergebnis eines geordneten Zusammenwirkens vieler vorstellbar. Diese gegenseitige Abhängigkeit begründet die Tatsache der Gesellschaft, die Tatsache, dass sich jeder Mensch in seinen Handlungen und Gedanken auf andere Menschen einstellen muss. Der Mensch, so sagt man, ist ein soziales Wesen. Dieser Satz ist hier als eine empirische Feststellung gemeint, nicht als Zielbestimmung i. S. des Aristoteles (vgl. §·3, 1).

Schon vorwissenschaftlicher Erfahrung ist es eine Selbstverständlichkeit, dass soziales Handeln nicht dem Zufall überlassen bleibt, sondern im Großen und Ganzen einer bestimmten Ordnung folgt. Ordnungen, Gesetzmäßigkeiten sind der Gegenstand aller Wissenschaften. Um die Besonderheit der sozialen Ordnung etwa gegenüber physikalischen oder chemischen Gesetzen deutlich zu machen, ist es nützlich, sich die anthropologische Grundlage des Sozialen zu vergegenwärtigen.

Der Mensch muss vom Standpunkt der naturwissenschaftlichen Menschenkunde (Anthropologie) zuerst einmal als bloßes Naturwesen, als Tier innerhalb der Tierreihe gedacht werden, damit sein soziales Verhalten mit dem der Tiere verglichen und in seiner Besonderheit erkannt werden kann. Die empirische Grundlage für diesen Vergleich liefert die Tierverhaltensforschung (Ethologie), die durch Namen wie Portmann, Tinbergen, Lorenz und Eibl-Eibesfeld bekannt geworden ist. Die Ethologen haben ermittelt, dass es bei Tieren zahlreiche Bewegungsabläufe gibt, die einem starren Muster folgen, das sie nicht erst von ihren Artgenossen lernen müssen. Lorenz sprach in einem bahnbrechenden Aufsatz von den angeborenen Formen der Erfahrung. Als Beispiele werden etwa Balz- und Nestbaubewegungen, Fluchtreaktionen oder die Demutshaltung der im Kampf unterlegenen Raubtiere genannt, die beim artgleichen Sieger eine Tötungshemmung auslöst. Mit solchen Automatismen werden bestimmte selbst- oder arterhaltende Zwecke erreicht, ohne dass sie final angestrebt werden. Tiere bringen also in Gestalt von Trieben und Schemata (Instinkten) einen genetisch verankerten sozialen Handlungsplan mit zur Welt. Zwar reicht dieser schon bei höheren Vögeln und Säugern längst nicht mehr aus, um das Verhalten zu steuern. Viele Arten verfügen bereits über Formen des sozialen Zusammenlebens, die nicht mehr durch Instinkte, sondern durch Erfahrung und Gewöhnung geprägt werden. Dennoch ist überall im Tierreich eine biologische Programmierung die entscheidende Grundlage des Zusammenlebens und damit der Selbst- und Arterhaltung.

Die besondere biologische Situation des Menschen besteht darin, dass Triebe und Handlungsschemata bei ihm bis auf Restbestände abgebaut sind, dass er also ohne einen biologisch festgelegten Handlungsplan zur Welt kommt. Das bedeutet aber keineswegs, dass der einzelne über sein Denken und Handeln selbst entscheiden könnte und müsste. Vielmehr ist auch menschliches Handeln weitgehend programmiert. Nur die Informationsträger und Speicher sind von anderer Art als im Bereich instinktgeprägten Verhaltens. Der Mensch empfängt seine sozialen Handlungsantriebe und Wertvorstellungen erst aus dem verstehenden Zusammenleben mit anderen.

Darin liegt auf den ersten Blick ein Widerspruch zu unserem Lebensgefühl, nach dem wir unser Verhalten weitgehend bewusst zu steuern vermögen. Unser Selbstverständnis geht aus von der elementaren Fähigkeit, sich unter gedanklicher Vorwegnahme der Zukunft gewisse Ziele zu stecken, an ihnen auch gegenüber Enttäuschungen festzuhalten und ihre Verwirklichung auf den unterschiedlichsten Wegen zu versuchen. Das gilt sowohl für relativ konkrete, kurzfristig realisierbare Ziele als auch für abstrakte Leitvorstellungen oder Ideen, an denen ein Mensch über viele Jahre hinweg festhalten kann und die sein gesamtes Verhaltensprofil bestimmen können. Aber unsere Ziele und die Wege, auf denen wir sie ansteuern, sind selten wirklich neu und originell. In der normalen Reizsituation sind es die in einer bestimmten historischen Gesellschaft herrschenden sozialen Normen und Werte, die für den einzelnen denken und durch ihn hindurch handeln:

»Kein Mensch produziert die Masse seiner Denk- und Handlungsinhalte selbst, kein einzelner vermöchte jemals den Weg von der Einzelerfahrung bis hin zum sinnvollen Handeln für sich allein zurückzulegen. Gewöhnlich wendet man nur die Sozialvorstellungen der Allgemeinheit auf den Einzelfall an.«[1]

Allerdings leben Menschen den gesellschaftlichen Vorstellungen und Vorbildern immer nur unvollkommen nach. Das hat die verschiedensten Gründe. Die gesellschaftlich geprägten Verhaltensmuster sind oft undeutlich, nicht selten widersprüchlich und ständig in Bewegung. Sie werden vom Individuum oft mangelhaft erlernt und passen häufig nur teilweise auf die jeweilige Situation. Dadurch entsteht der Eindruck, das Verhalten des einzelnen sei durch soziale Verhaltensmuster nur unvollkommen determiniert. Dem Individuum verbleibt ein gewisser Spielraum. Man ist leicht geneigt, diesen Spielraum mit einer freien und verantwortlichen Person auszufüllen. Niemand kann beweisen, dass das falsch wäre. Dennoch muss diese Lösung den Philosophen vorbehalten bleiben. Der Soziologe muss zunächst von der Hypothese des Indeterminismus ausgehen (wenn auch nicht unbedingt bei ihr stehen bleiben). Für ihn ist die Freiheit des Menschen der Bereich, in dem die kausalen Verknüpfungen so komplex und kompliziert werden, dass sie sich nicht mehr entwirren lassen. Für ihn fungiert die Person sozusagen als Zufallsgenerator. Freiheit äußert sich soziologisch darin, dass soziale Gesetzmäßigkeiten im Gegensatz zu den, jedenfalls außerhalb der Mikrophysik, streng deterministischen Naturgesetzen (wenn x eintritt, ist stets y die Folge) nur stochastische Geltung beanspruchen können (wenn x eintritt, folgt mehr oder weniger wahrscheinlich y). Diese Abschwächung der Kausalbeziehung zu statistischer Regularität tut zwar der Exaktheit soziologischer Aussagen erheblichen Abbruch. Sie ändert aber nichts an der Tatsache, dass man Soziologie als empirische Wissenschaft betreiben kann, als eine Wissenschaft, die darauf abzielt, alle ihre Theorien an der Erfahrung zu überprüfen.

II. Die Autonomie des sozialen Systems

Die soziologische Betrachtung des menschlichen Zusammenlebens befasst sich mit dem Phänomen, dass sich Menschen in vergleichbaren Situationen nicht zufällig verhalten, sondern dass gewisse Gleichförmigkeiten im Handeln und Denken einer mehr oder weniger großen Gruppe von Menschen regelmäßig wiederkehren. Allerdings interessieren in der Soziologie nur solche Regeln, die sozialen Ursprungs sind, die also nicht unmittelbar physiologisch oder biologisch determiniert sind. Eine scharfe Grenze ist nicht erkennbar. Irgendwie, wenn auch meistens ganz unspezifisch, wirken bei allen sozialen Handlungen biologische Bedürfnisse und Mechanismen mit. Trotzdem muss man – jedenfalls gedanklich – eine Grenze ziehen. Sie lässt sich mit Hilfe von Beispielen verdeutlichen: Tägliches Schlafen ist eine physische Notwendigkeit für alle Menschen. Dass man aber einen Schlafanzug oder ein Nachthemd anzieht, dass man ein Bett benutzt, vielleicht sogar ein Doppelbett, dass man sich zu bestimmten Zeiten zum Schlafen legt und wieder wecken lässt, das alles sind sozial geprägte Verhaltensmuster. Ähnlich verhält es sich mit dem Essen. Biologisch programmiert ist daran beinahe nur noch das Kauen und Schlucken. Aber was man isst und wie man es isst, mit Messer oder Gabel, mit Stäbchen oder aus der Hand, vom Teller oder aus der Schüssel, vom Tisch oder vom Boden, das alles hängt von Verhaltensmustern ab, die sich in der Kultur, in der man sozialisiert wurde, entwickelt haben. Alles soziale Verhalten ist unlösbar in biologischen Gegebenheiten verankert. Aber die Dimension des Sozialen lässt sich nicht auf biologische Gesetzmäßigkeiten reduzieren. Das Soziale ist gegenüber dem Biologischen ein autonomes System, dass sich in gewissen Grenzen unabhängig von der biologischen Basis selbst regulieren und fortentwickeln kann. Das wird noch deutlicher an Hand eines kleinen Exkurses in die Kriminologie, die ihren Ausgang einmal von der sog. Kriminalbiologie genommen hat.

III. Exkurs: Kriminalbiologie

Die kriminalbiologische Schule wurde durch den italienischen Militärarzt Cesare Lombroso (1836-1909; vgl. auch §·3) begründet.[2] Man kann sie als Reaktion auf die idealistische Vorstellung erklären, dass Menschen im Großen und Ganzen rational handelten und einen freien Willen hätten. Diese Vorstellung ging davon aus, dass ein Mensch die Vor- und Nachteile jedes Handlungsablaufs berechne und freiwillig die Möglichkeit auswähle, deren Vorteile die Nachteile überwögen. Da die Menschen sich in dieser Hinsicht nicht merklich voneinander unterschieden, lägen die Ursachen für die Unterschiede in ihrem Handeln hauptsächlich in der Handlungssituation, besonders aber in den von den Handelnden antizipierten Belohnungen und Strafen. Hieraus ergibt sich für gesellschaftliche Maßnahmen die Folgerung, dass soziale Kontrolle am wirksamsten wäre, wenn man ausreichend schnelle, sichere und harte Bestrafungen einführte, die ein Gegengewicht gegen die von den Verstößen erwarteten Vorteile bilden sollten. Das Ergebnis war die von Feuerbach formulierte Theorie der Androhungsgeneralprävention.[3]

Die Kriminalbiologen setzten dieser Theorie einen strengen Determinismus entgegen: Die biologisch und von ihrem sozialen Milieu auf bestimmte Weise geprägten Menschen werden widerstandslos zu ihren Handlungen getrieben. Sie gleichen sich nicht, sondern fallen unter verschiedene Typen, von denen jeder eine bestimmte angeborene Neigung zur Tugend oder zum Laster aufweist. Es kommt darauf an, die verschiedenen Typen zu bestimmen und die Kräfte, die sie hervorbringen, zu entdecken. Daher kann eine Kontrolle abweichenden Verhaltens auch nicht durch Appelle an die Moral oder durch Strafdrohung erreicht werden, die sich an den rational kalkulierenden Intellekt wenden. Eine Kontrolle der Menschen ist vielmehr nur durch individuell zugeschnittene Maßnahmen zu erreichen, die auf die Besonderheiten eines jeden Täters und die Umstände, die ihn bestimmen, abgestellt sind.

Diese positivistische Position wurde in den Jahren nach 1870 zum ersten Mal von Lombroso systematisch dargelegt. Auf der Grundlage von Messungen an den Insassen italienischer Gefängnisse beschrieb er den geborenen Verbrecher, den er sich als eine atavistische Entartung der Species Mensch vorstellte. Unter einem Atavismus verstand Lombroso das Hervortreten charakteristischer Züge einer primitiven biologischen Entwicklungsstufe der menschlichen Rasse. Kurz vor seinem Tode schrieb Lombroso seine Erinnerung an die Sezierung des Schädels eines bekannten Raubmörders nieder:

»… bei der Öffnung des Schädels fand ich am Hinterkopf genau dort, wo bei einem normalen Schädel das Rückgrat ansetzt, eine deutliche Vertiefung, die ich die zentrale Hinterhauptshöhle nannte, weil sie – wie bei niederen Tieren -, besonders bei Säugetieren, genau in der Mitte des Hinterkopfes lag. (Diese Vertiefung war ebenso wie bei Tieren mit einer Hyperthrophie des Vermis cerebellum verbunden, die bei Vögeln als das mittlere Cerebellum bekannt ist). Es war dies nicht lediglich ein Gedanke, sondern eine Erleuchtung. Beim Anblick dieses Schädels schien sich plötzlich das Problem der Natur des Verbrechers wie eine von einem flammenden Himmel erhellte Ebene als das eines atavistischen Wesens zu erkennen, das in seiner Person die wilden Instinkte des primitiven Menschens und der niederen Tiere verkörpert. So konnten anatomisch die riesigen Kinnladen, die hohen Backenknochen, die hervorstehenden Augenwülste, die einzelnen Handlinien, das extreme Ausmaß der Augenhöhlen, die abstehenden oder platt anliegenden Ohren, die man bei Verbrechern, Wilden und Affen findet, die Unempfindlichkeit Schmerzen gegenüber, die außergewöhnliche Sehschärfe, die Tätowierungen, die große Faulheit, die Vorliebe für Orgien, das unermüdliche Streben nach dem Bösen um seiner selbst willen, der Wunsch, nicht nur das Leben des Opfers zu vernichten, sondern den Körper zu verstümmeln, das Fleisch zu zerreißen und das Blut zu trinken, erklärt werden«.[4]

Das Zitat gibt einen Eindruck von Lombrosos Biologismus. Für sich genommen ist es allerdings, wie jedes aus dem Zusammenhang gerissene Zitat, irreführend. Während der 35 Jahre, in denen er die europäische Kriminologie beherrschte, wandelte sich Lombrosos Position unter dem Einfluss heftiger Kritik. Es wird jedoch auch aus seinen späteren Schriften deutlich, dass er der biologischen Veranlagung weiterhin zentrale Bedeutung zumaß.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Kriminologie Lombrosos heftig angegriffen. Diese Angriffe erreichten mit der vernichtenden Kritik des englischen Gefängnisarztes Charles Goring ihren Höhepunkt.[5] Goring verglich eingehend umfangreiche Stichproben englischer Gefängnisinsassen mit nichtkriminellen Kontrollgruppen in Hinsicht auf die verschiedenen von Lombroso als Stigmata des Atavismus und der Degeneration angesehenen Merkmale. Er kam zu dem Schluss, dass es für einen besonderen kriminellen Typ keinerlei Beweise gebe. Seine Arbeit wird von den meisten Kriminologen als endgültige Widerlegung der italienischen Schule der Kriminalbiologie anerkannt. Lombroso hatte nämlich den grundlegenden methodischen Fehler gemacht, keine Vergleichsgruppen zu bilden.

Auch später hat man noch viele Versuche unternommen, Kriminalität mit dem Körperbau in Zusammenhang zu bringen. Vor allen Dingen Untersuchungen, in denen eineiige Zwillinge mit zweieiigen verglichen wurden, bei denen das Erbgut unterschiedlich und das Milieu relativ konstant war, sollten den Nachweis erbringen, dass die Kriminalität erblich bedingt sei.[6] Untersuchungen von Familienstammbäumen sollten demselben Ziel dienen. Im Allgemeinen haben sich diese Untersuchungen aber als wenig überzeugend erwiesen. Ein neuerer Versuch dieser Art war die Theorie vom sogenannten Mörder-Chromosom. Aber auch sie hat sich unergiebig gezeigt.[7] Gegen Ende des 20. Jahrhunderts war der kriminalbiologische Ansatz weitgehend durch einen soziologischen verdrängt. Aber dann kamen in den 80er Jahren eine neue Welle der Verhaltensbiologie und gegen Ende des Jahrhunderts große Fortschritte der Neurowissenschaften und damit neue Versuche, soziales Verhalten als biologisch oder – das ist ja nur eine komplexere Ebene des Biologischen – neurologisch determiniert zu erklären. Diese Ansätze führen allerdings über die Kriminologie hinaus.

IV. Biologie und Recht

Literatur: Richard D. Alexander, The Biology of Moral Systems, 1987; Marc Amstutz, Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001; John H. Beckstrom, Sociobiology and the Law: The Biology of Altruism in the Courtroom of the Future, 1983; Mathias Bös, Rasse und Ethnizität, Zur Problemgeschichte zweier Begriffe in der amerikanischen Soziologie, 2005; Franz Boas, Evolution or Diffusion, American Anthropologist 26 , 1924, 340-344; Richard Dawkins, Das egoistische Gen, 1996 [The Selfish Gene, 1976]; Martin Diewald, Zur Bedeutung genetischer Variation für die soziologische Ungleichheitsforschung, Zeitschrift für Soziologie 39, 2010, 4-21; Roger D. Masters, The Ethological Basis of Trust, Property and Competition: An Evolutionary Approach to Comparative Legal Culture, Rechtstheorie 23, 1992, 407; Heinz-Georg Martens, Soziobiologismus. Biologische Grundpositionen der politischen Ideengeschichte, 1983; Steven Pinker, Das unbeschriebene Blatt, 2003/2017 [The blank Slate, 2002]; Hubert Rottleuthner, Argumentation und Korrelation. Zur Soziologie und Neurobiologie richterlichen Handelns, FS Thomas Raiser, 2005, 579; Hans-Walter Schmuhl, Franz Boas und die deutschen Biowissenschaften zur Zeit des Nationalsozialismus. Kulturrelativismus, Antirassismus, Anthropobiologie, in: ders. (Hg.) Kulturrelativismus und Antirassismus, 2009, 9-16; Eckart Voland, Soziobiologie, 4 Aufl. 2013.; ders., Von der Ordnung ohne Recht zum Recht durch Ordnung. Die Entstehung von Rechtsnormen aus evolutionsbiologischer Sicht, in: Ernst-Joachim Lampe (Hg.), Zur Entwicklung von Rechtsbewußtsein, 1997, 111-133; Edward O. Wilson, Die soziale Eroberung der Erde, 2013 [Sociobiology. The New Synthesis, 1975]; Reinhold Zippelius, Erträge der Soziobiologie für die Rechtswissenschaft, ARSP 1987, 386-390.

Ferner auf Rsozblog.de die Einträge Was taugt die neue Rechtsbiologie? (= Kritik der Soziobiologie Teil I); Kritik der Soziobiologie Teil II sowie Kritik der Soziobiologie Teil III.

Die Suche nach biologischen Determinanten für Kultur, Recht und Moral war über Jahrzehnte als Rassismus oder Sozialdarwinismus in Verruf und wurde nur von Außenseitern betrieben.[8] Heute ist Soziobiologie, wohl als Folge der Fortschritte von Neurobiologie und Hirnforschung und des neuen Interesses für Evolutionstheorien, in Mode gekommen. Der Begründer der Soziobiologie, Edward O. Wilson, meinte, die Soziologie zugunsten biologischer Erklärungsmuster abschaffen zu können. Die Autonomie des sozialen Systems – und damit des Rechts – bleibt davon jedoch unberührt. Das zeigt sich, wenn man den verschiedenen Wegen nachgeht, auf denen biologische Konstanten gesucht werden, die für das Recht bestimmend sein sollen.

  • Es werden Verhaltensähnlichkeiten (Homologien) zwischen Menschen und Menschenaffen (Primaten) oder anderen Tieren beschrieben.
  • Man sucht nach Verhaltensähnlichkeiten bei Menschen, die ohne soziale Kontakte aufgewachsen sind. Da heute niemand mehr Caspar-Hauser-Experimente in Betracht zieht, werden blind und zugleich taub Geborene, Geisteskranke, Kleinstkinder oder Zwillinge beobachtet.
  • Man sucht nach universalen Verhaltensweisen, also nach solchen, die ausnahmslos in allen Gesellschaften Geltung haben. Als Beispiel wird das Inzesttabu genannt.
  • Man behauptet eine Beziehung zwischen Rasse und Kultur und folglich auch zwischen Rasse und Recht.
  • Neue Anläufe stützen sich auf Genetik und Hirnforschung.
  • Schließlich wird die Evolutionstheorie herangezogen, um soziales Verhalten zu erklären.

Herausgekommen ist dabei wenig. Fraglos gibt es biologische Grundtatsachen wie Empfängnis, Geburt, Reifung, Altern und Tod. Es gibt auch biologische Bedürfnisse wie Hunger und Durst, Sexualität und Wärmebedürfnis und endogene Antriebsenergien wie Aggression und Angst. Auch einige Merkmale der Mimik und Gestik wie Lachen und Weinen sind universal. Bestimmte Reize wie das Kindchenschema oder sekundäre Geschlechtsmerkmale wirken noch immer als Auslöser. In den letzten Jahrzehnten hat man gelernt, dass es eine Reihe von Reizen gibt, die, anders als das Aussehen, nicht bewusst wahrgenommen werden. Das gilt wohl insbesondere für bestimmte Körpergerüche. Anscheinend gibt es »Bindungsstoffe« und vielleicht auch »Abstoßungsstoffe«, die auf genetischer oder physiologischer Basis ihre Wirkung tun.

Doch bei alledem handelt es sich entweder um Naturgesetzlichkeiten, deren rechtliche Regelung sinnlos wäre wie ein Gesetz, das besagt, dass alle Menschen sterblich sind; regelungsbedürftig, aber biologisch nicht determiniert ist dann nur die Frage, wie Menschen auf solche Gegebenheit reagieren sollen. Oder aber die biologischen Gegebenheiten determinieren das Verhalten nur unvollkommen und verlangen schon deshalb nach einer zusätzlichen, eben nach einer sozialen Regelung. Es lässt sich nicht bezweifeln, dass es körperliche und seelische Anlagen gibt, mit denen sich besondere Fähigkeiten oder Unfähigkeiten verbinden. Und es gibt sicher auch Fälle, in denen körperliche Anlagen einen Krankheitswert haben, an dem eine individuell-psychologische und soziale Einflussnahme scheitert.

Rassenbiologische Ansätze sind weithin tabuisiert, weil sie von der nationalsozialistischen Erb- und Rassenpolitik in unvorstellbarer Weise missbraucht worden sind. Wenn man sich dennoch darauf einlässt, erweisen sie sich schlicht als unergiebig. Einerseits kommt man kaum darum herum, den Rassenbegriff für die Einteilung und Benennung menschlicher Großgruppen zu verwenden. Aber erbfeste und zugleich kulturrelevante »Rassenmerkmale« haben sich nicht identifizieren lassen. Von den wenigen nachweisbaren physischen Rassenmerkmalen wie der Hautfarbe lässt sich nicht auf psychische und kognitive Eigenschaften schließen.

Der deutsche Geograph Franz Boas (1858-1942) wurde, nachdem er auf einer Expedition zur Erforschung der Eisverhältnisse im Baffin-Land mit den Inuit in Berührung gekommen war, zum Experten für die indigenen Völker im Nordwesten Amerikas, zum Begründer der modernen Kulturanthropologie und zum Lehrer so bedeutender Anthropologen wie Edward Sapir, Ruth Benedict und Margaret Mead. 1931 – damals Professor an der Columbia-Universität in New York – hielt er aus Anlass seines fünfzigjährigen Doktorjubiläums in der Universität Kiel einen Vortrag über »Rasse und Kultur« Darin wandte er sich leidenschaftlich gegen die sich in Deutschland breit machende Vorstellung, kulturelle Unterschiede zwischen den Völkern seinen biologisch bedingt und ein Hinweis auf die natürliche Überlegenheit oder Minderwertigkeit einer Rasse. Alle menschlichen Kulturen seien gleichwertig und Reaktionen auf ihre jeweiligen Lebensbedingungen. An seine Zuhörer richtete er die Mahnung:

»Das Verhalten eines Volkes wird nicht wesentlich durch seine biologische Abstammung bestimmt, sondern durch seine kulturelle Tradition. Die Erkenntnis dieser Grundsätze wird der Welt und besonders Deutschland viele Schwierigkeiten ersparen.«

Die moderne Rechtssoziologie ist mehr und mehr dazu übergegangen, diskriminierungsrelevante Merkmale als Ergebnis sozialer Prozesse zu erklären. Das gilt insbesondere für Geschlecht, Rasse und Behinderungen. Sie betonen, solche Merkmale seien nicht natürlich vorgegeben, sondern würden in sozialen Prozessen geschaffen, in denen Gruppen definiert und deren Mitglieder dazu gebracht würden, ihre Position in der gesellschaftlichen Hierarchie ist höher oder niedriger anzunehmen. Nicht zuletzt das Recht trage dazu bei, dass solche Differenzierungen dann als selbstverständlich akzeptiert würden.[9]

Ein biologisches Naturrecht gibt es nicht. Mit Rottleuthner, der die Ansätze zu einer Rechtsbiologie einer überzeugenden Kritik unterzogen hat, kann man den Zusammenhang zwischen Biologie und Recht folgendermaßen systematisieren:

(1) Unveränderliche biologische Gegebenheiten fungieren im Recht als Tatbestände. Ob und ggf. welche (sozialen und) rechtlichen Konsequenzen daran geknüpft werden, ist aber biologisch nicht determiniert. Die biologische Tatsache der Abstammung kann Anlass zu familienrechtlichen Regelungen, zu Heiratsverboten oder zur Bestrafung des Inzests geben. Der lange Reifungsprozess, den jedes Kind durchlaufen muss, spiegelt sich in historisch ganz unterschiedlichen Regelungen der Geschäfts- und Schuldfähigkeit. Der biologische Unterschied zwischen Mann und Frau war und ist Anlass zu rechtlicher Diskriminierung der Frau ebenso wie zu Frauenförderungsprogrammen. An »Rassenunterschiede« lassen sich Einwanderungsquoten, Wahlgesetze oder auch Ausrottungs-Programme knüpfen. Andere biologische Gegebenheiten wie Krankheit oder Schwangerschaft können in unterschiedlichem Ausmaß soziale und rechtliche Konsequenzen haben. Das Faktum des Todes schließlich kann Anlass zu erbrechtlichen Regelungen sein.

(2) Eine Reihe biologischer Gegebenheiten erweist sich selbst als änderbar und ist gerade deshalb regelungsbedürftig.

»Geburten können durch empfängnisverhütende Maßnahmen oder Abtreibung verhindert werden. Rechtlich wird dann deren Zulässigkeit geregelt (unter welchen Umständen, bis zu welchem Zeitpunkt, durch wen vorzunehmen etc.). Die medizinische Möglichkeit einer Geschlechtsumwandlung gibt Anlaß zur Regelung rechtlicher Konsequenzen (Transsexuellen-Gesetz). Statt einer normalen Empfängnis gibt es die klassische Lösung der Adoption, heute auch die der heterologen Insemination und der außerkörperlichen Befruchtung – alles Vorgänge, bei denen eine Fülle rechtlicher Probleme zu beachten ist. Die Gen-Technologie eröffnet die Möglichkeit einer Manipulation der genetischen Ausstattung selbst. Das biologisch Substantielle verflüssigt sich in Erwägungen der technischen Machbarkeit, der moralischen Zulässigkeit, der rechtlichen Kriterien, Kompetenzen und Konsequenzen, die wohl einmal in einem Frankenstein-Kodex zusammengefaßt werden. Und statt des Todes …, nein, das ist die Grenze, auch wenn sie angesichts medizinischer Maßnahmen der Lebensverlängerung unscharf geworden ist.« (Rottleuthner, S. 123)

(3) Wo es Reste biologischer Verhaltensprogrammierung gibt, sind (soziale) und rechtliche Regelungen notwendig, weil die biologischen Gegebenheiten versagen können. Sollte es eine Anlage zur Paarbildung geben, so wäre sie doch so plastisch, dass sie von flüchtigen Begegnungen bis zu lebenslanger Einehe verschiedene Formen möglich bleiben und rechtlich geregelt werden können. Ehen scheitern häufig nicht an fehlender, sondern an überschießender Lust zur Paarbildung. Wenn es einen Mechanismus der sozialen Nähe geben sollte, so schützt dieser doch selbst im sozialen Nahbereich nicht vor Aggressivität. Was in diesem Bereich an Aggressivität geduldet wird, ist kulturell variabel. Sonst gäbe es heute keinen Streit um die Strafbarkeit einer Vergewaltigung unter Eheleuten. Das Kindchen-Schema und eine möglicherweise biologisch verankerte Mutter-Kind-Beziehung garantieren nicht, dass Kinder stets versorgt und erzogen werden, ja sie schützen nicht einmal zuverlässig vor Misshandlung. Unterhaltsrecht, Sorgerecht und strafrechtliche Begleitvorschriften sind einerseits notwendig, andererseits inhaltlich aber nicht determiniert und erst recht nicht von Natur aus wirksam. Besitz- und Territorialverhalten oder eine natürliche Rangordnung erübrigen keine sozialen Regeln über Besitz- und Eigentumsschutz oder die Zulässigkeit von Gewalt und Selbsthilfe.

(4) Das Recht kann die menschlichen Grundbedürfnisse nicht abschaffen. Doch sind schon viele Menschen von Rechts wegen im Gefängnis verhungert oder getötet worden. Schon die Bedürfnisse selbst sind keine fixe Größe, sondern ihrerseits kulturell überformt. Das Recht selbst begründet laufend neue Bedürfnisse nach Rechtsstaatlichkeit, sozialer Gerechtigkeit usw. Wie es ihnen Rechnung trägt, ergibt sich jedenfalls nicht aus den Genen.

(5) Biologische Ungleichheit ist eine Tatsache. In ihren körperlichen und geistigen Fähigkeiten sind Menschen schon von Geburt an verschieden. Es ist nicht einfach, darüber unbefangen zu reden, denn die moralisch politische Gleichheitsforderung ist so stark, dass die Frage nach der Erblichkeit von körperlichen und geistigen Fähigkeiten beinahe tabuisiert ist. In der Tat bestehen gute Gründe, mit dieser Frage sehr vorsichtig umzugehen, denn es gibt immer wieder Versuche, soziale Ungleichheit auf eine genetische Veranlagung zurückzuführen und sie dadurch zu rechtfertigen. Noch empörender waren und sind alle Versuche, bestimmten Menschen, insbesondere einer Rasse, eine genetisch bedingte moralische Minderwertigkeit zuzusprechen. Dennoch darf man die Frage nicht völlig verdrängen.

Die beiden größten Aufreger sind Aussagen der Soziobiologie zur Vererblichkeit von Intelligenz und zum Sexualverhalten.

1996 erregte in den USA ein Buch großes Aufsehen, das an den Grundfesten der liberalen Gesellschaftskonzeption rüttelte: Richard J. Herrnstein/Charles Murray, The Bell Curve: Intelligence and Class Structure in American Life. (Bell-Curve ist der englische Ausdruck für die Gauß’sche Glockenkurve = Normalverteilung.) Die Autoren behaupteten eine Korrelation zwischen Intelligenz, Rasse und Erfolg in der Gesellschaft. Aus der genetisch bestimmten Intelligenz soll sich die soziale Position bestimmen. Sozialreformen seien deshalb überflüssig. Gleichheit könne nur von einem autoritären Staat garantiert werden. Wenn nach dem Gesetz für bestimmte Schichten ein anderes Recht gelten solle, führe genetische Ungleichheit zu gewollter Ungleichheit. Ähnliches Aufsehen erregte 2010 der Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin mit seinem Buch »Deutschland schafft sich ab«. Tatsächlich ist der Mensch evolutionsbiologisch betrachtet eine der genetisch homogensten Arten auf der Erde. Jede Volksgruppe oder Rasse hat wohl grundsätzlich das gleiche genetische Potential für Intelligenzleistungen. Die Unterschiede innerhalb einer Rasse oder Volksgruppe sind etwa fünfmal so groß wie zwischen den Gruppen. Wenn trotzdem immer wieder unterschiedliche Intelligenzleistungen gemessen werden, so liegt das daran, dass die Intelligenztests stets auf der Basis eines bestimmten Kulturkreises entwickelt worden sind.

Es lässt sich wohl nicht ausschließen, dass (die Grundlage der) Intelligenz vererblich ist. Aber das Ausmaß der genetischen Vererbung und ihr Gegenstück, der sog. Flynn- Effekt, sind nach wie vor im Streit.

Zitierrekorde hält ein Aufsatz, in dem Robert L. Trivers die evolutionäre Entwicklung des Partnerwahlverhaltens thematisierte.[10] Der Kernsatz:

»The relative parental investment of the sexes in their young is the key variable controlling the operation of sexual selection. Where one sex invests considerably more than the other, members of the latter will compete among themselves to mate with members of the former.«

Damit hatte Trivers das (heute so genannte) Bateman-Prinzip auf den Menschen übertragen, wonach dasjenige Geschlecht, das größere Aufwendungen zur Erzeugung und Aufzucht des Nachwuchses einsetzt, die Partnerwahl bestimmt. Daran schließen die bekannten Thesen an: Männer haben einen stärkeren Sexualtrieb als Frauen[11], sie sind, auch im Umgang mit dem anderen Geschlecht aggressiver; Frauen sind wählerischer, bevorzugen aber aggressive Männer und entscheiden letztlich über die Vereinigung (female choice[12]). Eine ursprüngliche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern muss nicht mit einer genetischen Programmierung zu tun haben, sondern folgt schlicht daraus, dass allein Frauen die Kinder austragen und ihnen anfangs Brustnahrung anbieten können.

(7) Eine wichtige Quelle der Soziobiologie ist die Evolutionstheorie (u. § 90). Sie fragt nach der Fitness von Lebewesen, dass heißt nach ihren Chancen, zu überleben und sich zu reproduzieren. Ein Lebewesen (Organismus) ist ein physisch abgegrenztes Etwas, das seine Grenze gegenüber der Umwelt über eine gewisse Zeit halten und sich während dieser Zeit reproduzieren kann. Alles hängt von der der Entstehung und Änderung, der Speicherung und dem Austausch von Information ab. Für die biologische Evolutionstheorie sind letztlich die in DNA und Chromosomen gebündelten Gene für die Speicherung und Weitergabe der Informationen maßgeblich, die das Leben ausmachen. Die Evolutionstheorie fragt, wie Umwelt und Zufall die Information variieren, selektieren und durch Replikation (Vererbung) stabilisieren.

Von einigem Interesse sind immerhin evolutionsbiologische Versuche zu erklären, wie sich im »Kampf ums Dasein« selbstloses (altruistisches) Handeln etablieren und wie dadurch Kooperationen und schließlich soziale Lebensgemeinschaften entwickeln konnten. Für Charles Darwin war das ein großes Paradox. Man sollte erwarten, dass Lebewesen alle Ressourcen »egoistisch« auf ihr Überleben und ihre Fortpflanzung verwenden. Aber im Tierreich gibt es zahlreiche Beispiele von Verhaltensweisen, die auf den ersten Blick altruistisch wirken, z. B. die Sammeltätigkeit von Arbeitsbienen oder Warnrufe von Vögeln. Die Funktion altruistischer Verhaltensweisen ist daher eines der Rätsel der Evolutionstheorie. Dawkins sagt von seinem Buch:

»My purpose is to examine the biology of selfishness and altruism.«[13]

Diese Frage haben vor ihm schon andere Biologen gestellt und grundsätzlich beantwortet. Im Prinzip werden drei Erklärungen angeboten, die zeigen, dass der Altruismus evolutionär sinnvoll ist, weil er auf Umwegen der Fitness dient: Verwandtenselektion (inclusive fitness[14] oder kin selection[15]), Reziprozität[16] und ESS-Theorie[17].

Der englische Soziobiologe William D. Hamilton formulierte das Großmütter-Paradox: Wieso, fragte er sich, leben Großmütter noch so lange in der Gruppe, obwohl sie für die für die Evolution entscheidende Leistung der Fortpflanzung nicht mehr taugen? Hamilton antwortete mit der Theorie der Verwandtenselektion: Die Großmütter verbessern die Lebenschancen der Enkel und Urenkel und verbessern damit die »Gesamtfitness« der Gruppe (inclusive fitness oder kin selection). Hamilton ging also davon aus, dass dem Reproduktionsimperativ gedient ist, wenn Verwandte überleben und sich reproduzieren, die jedenfalls teilweise die gleichen Gene tragen. Diese Theorie ist aber in den Hintergrund getreten, nachdem man bei Insekten die Entstehung großer sozialer Verbände unabhängig von Verwandtschaft beobachtet hat. Es gilt jedenfalls nicht mehr als ausgemacht, dass soziale Gruppen zuerst in Familien entstanden sind.

Der Reziprozitätsmechanismus besteht darin, dass ein Individuum mit kleinem Einsatz anderen zu größerem Gewinn verhelfen kann und damit die Chance erhält, seinerseits in den Genuss solchen Gewinns zu gelangen. Die ESS-Theorie besagt, dass ein Tit for Tat eine »evolutionär stabilen Strategie« darstellt, eine Strategie, die allen anderen in einer Population vorhandenen Strategien überlegen ist. In populärwissenschaftlichen Darstellungen streitet man darüber, ob die Gene als einzelne oder in ihrer Gesamtheit (das sog. Genom) egoistisch oder kooperativ[18] seien.

Es ist von vornherein verfehlt, auf der Ebene des Genoms mit anthropomorphen Vorstellungen zu arbeiten. Das ist jedoch das Rezept der Soziobiologie. Was immer wir tun, sagt sie, geschieht, um die Chancen zu Reproduktion des eigenen Erbguts zu erhöhen. Darauf habe die Evolution auch die Menschen programmiert, denn nur solche Wesen, die diesem Programm folgen, könnten sich auf Dauer durchsetzen. Doch wo zeigt sich dieses Programm im Sozialverhalten? Die Menschen, welche die meisten Kinder haben, sind – heute jedenfalls – sozial nicht unbedingt die erfolgreichsten. Man mag der Ansicht sein, dass selbst Künstler und Wissenschaftler, Politiker und Manager ihre Leistungen erbringen, um Frauen anzulocken, und dass das sogar umgekehrt für Frauen gelte. Man mag auch die Sexualisierung unserer Kultur als Beleg für die ungebrochene Macht des Fortpflanzungstriebes ausgeben. Die Sexualität hat sich in unserer Gesellschaft von der Fortpflanzung emanzipiert. Auch das lässt sich noch in das Evolutionsschema bringen, mit der Behauptung, eben deshalb habe diese Gesellschaft auf Dauer evolutionsbiologisch keine Überlebenschancen mehr. Derartige Erklärungen sind von solcher Allgemeinheit, dass man sie besser gleich vergisst. Evolutionsbiologische Erklärungen jenseits des Sexualverhaltens folgen etwa dem Muster: Soziale Verbände sind entstanden, weil Kooperationsgewinne die Individuen für ihren Zusammenschluss belohnen. Fremdenfeindlichkeit ist insofern »natürlich«, als die ursprünglichen Jäger- und Sammlergemeinschaften klein und überschaubar waren. Solche Erklärungen sind nicht nur trivial. Sie projizieren vielmehr psychische und soziale Erklärungen auf die Gen-Ebene und übersehen dabei, dass die biologische Evolution primär von zufälligen Mutationen abhängt. Die Frage, ob erlernte oder auf andere Weise erworbene Fähigkeiten oder Eigenschaften dauerhaft vererbt werden können (Epigenese) ist nach wie vor offen.

(8) Mit bildgebenden Verfahren haben die Neurologen Regionen des Gehirns identifiziert, die an Entscheidungsprozessen beteiligt sind und die Impulskontrolle steuern. Doch eine bestimmte Verbindung zwischen der Abweichung von sozialen Normen (Devianz) und neurologischen Strukturen hat sich bisher nicht ergeben.

(9) Mit Kehlkopf und Mund verfügt der Mensch über Sprachwerkzeuge. Aber eine Sprache muss er erst erlernen. Ähnlich liegt es mit den Spiegelneuronen[19], von denen in letzter Zeit viel die Rede ist. Die Beobachtung einer Handlung bei einem anderen Menschen führt zu einer mentalen Simulation dieser Handlung beim Beobachter. Diese Fähigkeit, sich in die Gedanken und Gefühle anderer hineinzuversetzen, wird Empathie genannt. Wer hätte bezweifelt, dass solche Empathie eine neurologische Grundlage hat. Mit den sog. Spiegelneuronen wird diese Grundlage näher benannt und beschrieben. Damit ist aber nicht gesagt, dass Empathie eine angeborene Fähigkeit sei.

V. Neurosoziologie

Literatur wie zu IV.
Internet: The Research Network on Law and Neuroscience: www.lawneuro.org/

1848 schießt dem Eisenbahnarbeiter Phineas Gage bei einem Explosionsunglück ein Bolzen durch das Vorderhirn. Er überlebt mit dem Verlust eines Auges. Doch er ist nicht mehr derselbe. Trotz seiner schweren Verletzung bleiben alle Körperfunktionen in Takt und auch seine kognitiven Fähigkeiten sind unverändert. Aber er ist nicht länger der zuvorkommend höfliche, besonnen und vorausschauend handelnde Vorarbeiter, sondern ein kindischer Radaubruder, ungeduldig, unfähig, vorausschauend zu planen und zu denken, aufbrausend und unflätig in Benehmen und Wortwahl. Die Beobachtung dieser Veränderung machte den tragischen Unfall zum Ausgangspunkt der Hirnforschung, die nunmehr begann, psychische Aktivitäten in unterschiedlichen Hirnarealen zu verorten. Auf diese Weise ist Phineas Gage ganz gegen seinen Willen so berühmt geworden, dass er jetzt im Internet ein Fanclub hat. Mittlerweile ist allgemein geläufig, dass alles menschliche Handeln auf einer neuronalen Grundlage ruht. So weiß man, dass kurzfristige Bedürfnisse wie essen, trinken, schlafen vom sogenannten limbischen System gesteuert werden, während bei längerfristigen Entscheidungen wie Sparen oder Diäten der sogenannte präfrontale Cortex beteiligt ist, und dass auch erlernte soziale und ethische Konventionen verloren gehen, wenn diese Region geschädigt wird. Inzwischen kennt man die Zuständigkeit verschiedener Hirnregionen für körperliche und psychische Aktivitäten recht genau. Am meisten machen bildgebende Verfahren von sich reden, die dazu dienen, neuronale Aktivitäten im Gehirn zu dokumentieren. Dazu werden elektrische Spannungsschwankungen an der Hirnoberfläche gemessen (Elektroenzephalogramm, EEG) oder mittels nuklearmedizinischer Methoden Stoffwechseländerungen in den Nervenzellen erfasst (Positionen-Emissions Tomographie, PET). Am bekanntesten ist wohl die funktionale Magnetresonanztomographie (fMRT; englisch Magnet Resonance Imaging, fMRI). Sie nutzt die magnetischen Eigenschaften des Blutes um zu zeigen, welche Nervenzellen jeweils aktiv sind, wenn der Proband bestimmten Reizen ausgesetzt ist. Die Kosten des fMRT sind enorm. Der Scanner hat einen Preis zwischen 1 und 2 Mill. Euro, die Messung für einen Probanden schlägt mit 300 bis 400 Euro zu Buche. Die Fallzahlen für fMRT-Studien liegen deshalb oft im einstelligen Bereich. Diesen Aufwand leiten sich für theoretische Fragen vor allem Ökonomen und im Anwendungsbereich die Werbewirkungsforschung (Neuromarketing).

Die faszinierenden Hirnbilder zeigen aber nur die höchst triviale Tatsache, dass alle körperlichen und geistigen Aktivitäten im Gehirn materielle Korrelate haben so, als ob das Gehirn wie ein Computer arbeitete.

Eine Schule, die auf Jerry A. Fodor zurückgeht[20] und bald Konkurrenz von Leda Cosmides und John Tooby erhielt[21], sieht in den neuronalen Netzwerken des Gehirns keinen universalen Denkapparat, sondern ein Ensemble von je für sich komplexen Systemen, die von der Evolution für spezifische kognitive Aufgaben entwickelt wurden, etwa für das Sprachvermögen, für Gesichtserkennung[22], Erkennung der Eigengruppe, Partnerwahl, Fluchtverhalten oder sozialen Austausch. Für die verschiedenen Probleme soll es jeweils spezialisierte instinktartige circuits oder Module geben. Es fehlt allerdings ein definitiver Katalog der einschlägigen Module.[23] Der Laie hat daher den Eindruck, wenn immer ein automatischer Prozess im Gehirn vermutet wird, postuliert man ein neues Modul. So schließt Pinker aus Statistiken, nach denen bei Stiefeltern die Wahrscheinlichkeit der Kindesmisshandlung größer ist als bei leiblichen Eltern, auf angeborene Elternliebe. Damit fordert er die Frage nach der Entwicklung von Kindern heraus, die bei gleichgeschlechtlichen Paaren aufwachsen.[24] Wenn es denn Unterschiede gäbe, so ließen sie sich vermutlich auch ohne Rückgriff auf die Biologie erklären.

Die modulare Theorie des Geistes bietet sich an, um zu erklären, warum psychologische Tests eine Reihe von Phänomenen aufzeigen, die anscheinend nicht erlernt sind, ferner, warum sich je nach Sachthema mit Hilfe von EECs und MRT-Scans recht präzise unterschiedliche Gehirnareale als aktiv identifizieren lassen.[25] Es ist aber bisher noch keines der behaupteten Module direkt beobachtet worden. Ihre Existenz wird stets nur aus Reaktionen von Versuchspersonen und peripheren Eigenschaften des Gehirns gefolgert. Die modulare Theorie des Geistes ist daher in der Psychologie keineswegs allgemein akzeptiert[26] (und daher schreibe ich »Module« ab hier in Anführungszeichen). Es bleibt immerhin:

»Das menschliche Gehirn stellt ein komplexes System dar mit hochgradig koordinierten Interaktionen zwischen großen spezialisierten Gruppen von Neuronen, den neuronalen Netzwerken. Die Dynamik und Formbarkeit dieser Netze [wird] oft als Neuroplastizität bezeichnet.«[27]

Neuroplastizität bedeutet wohl, dass es sich um selbstlernende Systeme handelt.

Zu den kognitiv arbeitenden »Modulen« des Geistes treten die Emotionen. Davon gibt es nach Jaak Panksepp[28] genau sieben mit einer neuronalen und damit letztlich genetischen Basis. Die Emotionen lenken den kognitiven Apparat im Sinne evolutionärer Funktionalität:

»An emotion is a mode of operation of the entire cognitive system, caused by programs that structure interactions among different mechanisms so that they function particularly harmoniously when confronting cross-generationally recurrent situations — especially ones in which adaptive errors are so costly that you have to respond appropriately the first time you encounter them.«[29]

Zwei der kognitiven »Module« sind für Juristen besonders interessant, das Sprachvermögen und das Moralvermögen. Ein angeborenes Sprachvermögen hatte bekanntlich Noam Chomski ohne direkte psychologische Grundlage als »generative Grammatik« postuliert, weil er es für ausgeschlossen hielt, dass die strukturellen Gemeinsamkeiten der wohl 6000 unterschiedlichen Sprachen allein durch Lernprozesse erklärbar seien.[30] Steven Pinker spricht von einem Sprachinstinkt.[31] Nachdem John Rawls eine Analogie des sense of justice mit dem Sprachvermögen angedeutet hatte[32], haben Marc Hauser und John Mikhail[33] eine angeborene moralische Grammatik behauptet.

Der Gedanke einer angeborenen moralischen Grammatik ist von dem Züricher Rechtstheoretiker Matthias Mahlmann aufgegriffen worden.[34] Er postuliert eine mentalistische Ethik, die man sich analog zu Chomskys generativer Universalgrammatik und zu bestimmten Strukturen visueller Wahrnehmung als eine natürliche geistige Eigenschaft des Menschen vorstellen soll.[35]

»Zu Kandidaten für die Prinzipien, die der moralischen Urteilsfähigkeit zugrunde liegen, zählen etwa jene Grundsätze, die in der Analytik der Moral als schlechthin konstitutiv ausgezeichnet wurden: die Gerechtigkeitsprinzipien der differenzierten, proportionalen Gleichheit und die Grundsätze des Altruismus.«

Das ist insofern überraschend, als Mahlmann die rechtsbiologischen Ansätze der Soziobiologie, der evolutionären Psychologie und des neuroethischen Emotivismus ausführlich und kritisch referiert.[36] Wieso eine prinzipiengeleitete kognitive Urteilskraft zu den angeborenen Eigenschaften des menschlichen Geistes gehören soll, ist danach schwer verständlich. Zu den angeborenen Eigenschaften menschlichen Geistes gehört wohl sicher die Fähigkeit zur Mustererkennung über die verschiedenen Sinneskanäle. Dass aber auch bestimmte inhaltliche Muster angeboren seien, und zwar nur sprachliche und moralische, nicht aber sonstige Verhaltensmuster, erscheint doch sehr fragwürdig.

Viele Versuche zielen darauf ab, die These vom rational kalkulierenden homo oeconomicus zu widerlegen. Dazu werden die alten Experimente zur psychologischen Gerechtigkeitsforschung aus den 1960er und 70er Jahren unter bildgebenden Verfahren wiederholt. Natürlich stellt sich dabei heraus, dass der homo oeconomicus so nicht funktioniert, dass also etwa das »Belohnungszentrum« einer Versuchsperson, die erfährt, dass eine Person, die für die gleiche Leistung eine höhere Belohnung erhält als eine andere, stärkere Aktivitäten zeigt. Das wird dann dahin verallgemeinert, dass die relative Höhe des Einkommens für die Zufriedenheit wichtiger sei als die absolute. Sie können sich immerhin auf Evolutionstheoretiker stützen, die einen gewissen Altruismus als Anpassungsstrategie annehmen, und auf Psychologen, die in ihren Experimenten immer wieder unerwartetem Altruismus begegnen. Freilich hat man bisher weder ein Sprachgen noch ein Gerechtigkeitsgen gefunden. Gefunden hat man nur bestimmte Erregungsmuster des Gehirns bei der Befassung von Versuchspersonen mit Sprach- oder Gerechtigkeitsaufgaben. In umgekehrter Richtung, also von bestimmten nervösen Erregungsmuster zu inhaltlichen Reaktionen der Versuchspersonen führt keine Verbindung. Auch hier gilt wieder: Es fehlt der direkte Beweis, doch alles klingt plausibel, so plausibel, dass man meint, man hätte es sich selbst ausdenken können. .

VI. Psychologie, Sozialpsychologie und Rechtspsychologie

Literatur: Hans-Werner Bierhoff, Sozialpsychologie, Ein Lehrbuch 2006; Johannes Engelkamp/Hubert D. Zimmer, Lehrbuch der kognitiven Psychologie, 2006; Dieter Frey/Martin Irle (Hg.), Theorien der Sozialpsychologie: Bd 1 Kognitive Theorien, 2. Aufl. 2001; Bd. 2 Gruppen- und Lerntheorien, 2. Aufl., 2002; Bd. 3 Motivations- und Informationsverarbeitungstheorien, 2. Aufl: 2006; 1985; Klaus Jonas u. a. (Hg.), Sozialpsychologie. Eine Einführung, 5. Aufl., 2007; Denis Köhler u. a., Rechtspsychologie, 2014; Rupert M. Kohl u. a., Sozialpsychologie. Eine Einführung 2013; Lioba Werth/Jennifer Mayer, Sozialpsychologie, 2008; Klaus Moser, Lehrbuch Organisationspsychologie 2013; David A. Tobinski, Kognitive Psychologie. Problemlösen, Komplexität und Gedächtnis, 2017; Renate Volbert/Max Steller (Hg.), Handbuch der Rechtspsychologie, 2008.

Fachgruppe Rechtspsychologie in der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, URL: http://www.dgps.de/fachgruppen/rechts/; Fachgruppe Sozialpsychologie in der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, URL: http://www.sozialpsychologie.de

Während Soziologie die Außenlenkung des Menschen durch andere Menschen oder kurz, durch die Gesellschaft behandelt, kümmert sich Psychologie um die Innenansicht menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns. Psychologie untersucht, wie Außenreize wahrgenommen und verarbeitet werden und wie daraus Gefühle, Erwartungen und Handlungen entstehen. Die Erklärung sozialen Verhaltens greift immer wieder auf psychologische Grundlagen zurück. Für die Rechtssoziologie sind etwa lerntheoretische Modelle wichtig, wie sie Homans in die Psychologie eingeführt hat (§ 26 I) oder Theorien über die Bereitschaft zu körperlicher Gewalt, über Heuristiken und kognitive Täuschungen oder über Gerechtigkeitsvorstellungen. Dabei überschneiden sich Psychologie und Soziologie als Sozialpsychologie. Verbindungsglied zwischen Psychologie und Soziologie sind insbesondere sozial geprägte und verbreitete Einstellungen und Erwartungen. Was zur Soziologie noch fehlt, ist der Aspekt der (symbolischen) Kommunikation der Beteiligten. Davon wird insbesondere in §§ 36 und 37 die Rede sein. Die Wissenssoziologie befasst sich mit der Frage, wie individuelle Wissensbestände durch die Gesellschaft geformt werden und auf die Gesellschaft zurückwirken.

Rechtspsychologie ist angewandte Psychologie für den gesamten Bereich des Rechts, in erster Linie aber für das Gerichtsverfahren. Schwerpunkte sind Aussage- und Vernehmungspsychologie sowie psychologische Aspekte der Familie. Dementsprechend sind Rechtspsychologen in einem Berufsverband organisiert. Soweit sie sich wissenschaftlich betätigen, greifen sie, vor allem mit der Kriminalpsychologie, auch in die Sozialpsychologie aus.


[1] Hellmuth Mayer, Strafrechtsreform für heute und morgen, 1962, 12.

[2] Seine Hauptwerke sind: L’Uomo Delinquente, Mailand 1876, deutsch: Der Verbrecher, Bd.1 Hamburg 1887, Bd. 2 Hamburg 1889; Neue Fortschritte in den Verbrecherstudien, 1899. Über Lombroso Marvin E. Wolfgang, Cesare Lombroso, in Mannheim, Pioneers in Criminology, 1960, 168-227. Für eine kritische Stellungnahme vgl. Peter Strasser», Verbrechermenschen, 1984.

[3] Der Strafrechtler Paul Johann Anselm Feuerbach, (1775-1833) ist nicht nur wegen seiner Verdienste um die Abschaffung der Folter in Bayern (1807), wegen seines Entwurfs des Bayerischen StGB von 1813 und wegen der Formulierung des Satzes nulla poena sine lege als Grundregel des Strafrechts bekannt geworden. Er hat vor allem die sog. psychologische Zwangstheorie begründet, die Zweck und Rechtfertigung des Strafrechts in der Androhungsgeneralprävention findet. Immer noch lesenswert Gustav Radbruch, Paul Johann Anselm Feuerbach. Ein Juristenleben, 1956.

[4] Hier zitiert nach Cohen, Abweichung und soziale Kontrolle S. 89f.

[5] Charles Goring, The English Convict, London 1913.

[6] Johannes Lange, Verbrechen als Schicksal. Studien an kriminellen Zwillingen, Leipzig 1929; aus neuerer Zeit Karl O. Cristiansen, A Preliminary Study of Criminality among Twins, in: Sarnoff A. Mednick/Karl O. Christiansen, Biosocial Bases of Criminal Behavior, New York 1977, S. 89-109. Melanie Singh, Der geborene Kriminelle? kriminologisch relevante Befunde der Zwillingsforschung des 20. Jahrhunderts, Holzkirchen/Obb 2016.

[7] Göppinger, Kriminologie, 174ff.; Kaiser, Kriminologie, S. 390.

[8] Erwin Deutsch, Biologische Grundlagen des Rechts, in: W. Schmidt-Hieber/Rudolf Wassermann (Hg.), Justiz und Recht, FS aus Anlaß des 10jährigen Bestehens der Deutschen Richterkademie in Trier, 1983, 87-96; Wolfgang Fikentscher/Michael T. McGuire, A Four-Function Theory of Biology for Law, Rechtstheorie 25, 1994, 291; Edwin S. Fruehwald, An Introduction to Behavioral Biology for Legal Scholars, SSRN 2010; Margaret Gruter, Die Bedeutung der Verhaltensforschung für die Rechtswissenschaft, 1976; dies., Rechtsverhalten. Biologische Grundlagen mit Beispielen aus dem Familien- und Umweltrecht, 1993; dies./Manfred Rehbinder (Hg.), Der Beitrag der Biologie zu Fragen von Recht und Ethik, 1983; dies., Soziobiologische Grundlagen der Effektivität des Rechts, Rechtstheorie 11, 1980, 96-109; ders./Margaret Gruter (Hg.), The Sense of Justice: Biological Foundations of Law, 1992; Roger D. Masters/Michael T. McGuire, The Neurotransmitter Revolution. Serotonin, Social Behavior and the Law, Carbondale, Southern Illinois University Press, 1994; Johannes Kopp, Soziobiologie und Familiensoziologie, KZfSS 44, 1992, 489-502;  Michael Lehmann, Evolution in Biologie, Ökonomie und Jurisprudenz, Rechtstheorie 17, 1986, 463; Erwin Quambusch, Recht und genetisches Programm: Ansätze zur Neubelebung des Naturrechtsgedankens, 1984; Werner Schurig, Überlegungen zum Einfluss biosoziologischer Strukturen auf das Rechtsverhalten, 1983; Gertraud Teuchert-Noodt/Sigrid Schmitz, Neuroethische Grundlagen zur Genese von Rechtsnormen beim Menschen, in: Ernst-Joachim Lampe (Hg.), Zur Entwicklung von Rechtsbewußtsein, 1997, 134-151; Wolfgang Wickler/Wolfgang Fikentscher, System und Außenanbindung epigenetischer Verhaltenssteuerung, Rechtstheorie 30, 1999, 69-77.

[9] Vgl. für »Rassen« Jeannine Bell, Calavita’s Law & Society; (En)racing Law and Society, Law and Social Inquiry 39, 2014, 209-216.

[10] Robert L. Trivers, Parental Investment and Sexual Selection, in: Bernard Campbell, Sexual Selection an the Descent of Man, 1972, 136-179. Ein anderer Autor, der diese Linie verfolgt, ist David M. Buss. Von Buss stammt Die »Evolutionary Psychology. The New Science of the Mind«, 1999, 6. Aufl. 2019. Das Buch enthält ausführliche Kapitel über Challenges of Sex and Mating sowie über Challenges of Parenting and Kinship. 2023 Buss ein »Oxford Handbook of Human Mating« herausgegeben.

[11] Catherine Hakim, Erotic Capital, European Sociological Review 26, 2010, 499-518; dies., Erotic Capital: The Power of Attraction in the Boardroom and the Bedroom, 2011, deutsch als »Erotisches Kapital. Das Geheimnis erfolgreicher Menschen«, 2011; dies., The Male Sexual Deficit: A Social Fact of the 21st Century, International Sociology 30, 2015, 314-335. Referat auf der Tagung der Nordic Association for Clinical Sexology NACS 2012, S. 27.

[12] Diese These wird populärwissenschaftlich ausgebreitet von der Biologin Meike Stoverock, Female Choice, 2021.

[13] Richard Dawkins, The Selfish Gene, 1976, S. 2.

[14] William D. Hamilton, The Genetical Evolution of Social Behaviour, Journal of Theoretical Biology 7, 1964, 1-16 (Teil I), 17-52 (Teil II). Dazu als kurze aktuelle Würdigung: Geoff Wild, Pillars of Biology: »The Genetical Evolution of Social Behaviour, I and II«, Applied Mathematics Publications 7, 2023, https://ir.lib.uwo.ca/apmathspub/7.

[15] Den Begriff hat wohl zuerst John Maynard Smith ins Spiel gebracht: Kin Selection and Group Selection, Nature 201, 1964, 1145-1147. Hamilton sprach zunächst von inclusive fitness.

[16] Robert L. Trivers, The Evolution of Reciprocal Altruism, The Quarterly Review of Biology 46, 1971, 35-57.

[17] Nachweise in Fn. 32.

[18] Diese Ansicht vertritt gegen Richard Dawkins, »Das egoistische Gen« (1996) der Arzt und Psychotherapeut Joachim Bauer in seinen Büchern »Prinzip Menschlichkeit – Warum wir von Natur aus kooperieren« (2006) und »Das kooperative Gen« (2008).

[19] Rizzolatti, Giacomo; Sinigaglia, Corrado; Griese, Friedrich: Empathie und Spiegelneuronen. Die biologische Basis des Mitgefühls, 2008.

[20] Jerry A. Fodor, Modularity of Mind: An Essay on Faculty Psychology, in: Jonathan Eric Adler (Hg.), Reasoning, 2008, 878–914.

[21] Leda Cosmides/John Tooby, From Evolution to Behavior: Evolutionary Psychology as the Missing Link, in John Dupré (Hg.), The Latest on the Best: Essays on Evolution and Optimality, 1987, 276–306; dies., The Psychological Foundations of Culture, in: Jerome H. Barkow/Leda Cosmides/John Tooby, The Adapted Mind: Evolutionary Psychology and the Generation of Culture, 1992, S. 19-136; dies., Cognitive Adaptations for Social Exchange, ebd. S. 163-228; dies., Evolutionary Psychology: A Primer, 1997.

[22] Der Laie würde eher nach einem Modul für Mustererkennung suchen, das ähnlich, wie die selbstlernenden Systeme künstlicher Intelligenz arbeitet.

[23] Wie die Module zusammenarbeiten, erläutert Steven Pinker in seinem Buch »How the Mind Works«, 1997 (Wie das Denken im Kopf entsteht, 1998/2011).

[24] Diese Frage hat Marc Regnerus untersucht (How Different Are the Adult Children of Parents Who Have Same-Sex Relationships? Findings from the New Family Structures Study, Social Science Research 41, 2012, 752-770), Seither gilt Regnerus in LGBT-Kreisen als Anti-Gay-Researcher. Eine Nachuntersuchung der von Regnerus benutzten Daten durch Cheng und Powell kommt zu dem Ergebnis, dass die Unterschiede nur gering seien (Simon Cheng/Brian Powell, Measurement, Methods, and Divergent Patterns: Reassessing the Effects of Same-Sex Parents, Social Science Research 52, 2015, 615-626). Zum Thema Joachim-Müller Jung, Leben Kinder homosexueller Partner schlechter? FAZ 2018.

[25] Als Beispiel sei eine neuere Publikation angeführt: Sabrina Turker u. a., Cortical, Subcortical, and Cerebellar Contributions to Language Processing: A Meta-Analytic Review of 403 Neuroimaging Experiments, (2023) Psychological Bulletin 2023, https://doi.org/10.1037/bul0000403.

[26] Philip Robbins, Modularity of Mind, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2017 Edition); David Pietraszewski/Annie E. Wertz, Why Evolutionary Psychology Should Abandon Modularity, Perspectives on Psychological Science 17, 2022, 465–490.

[27] So formulieren George M. Ibrahim/Michael Taylor, Krebszellen manipulieren Neuronen, Spektrum der Wissenschaft Heft 10, 2023, S. 22.

[28] Affective Neuroscience. The Foundations of Human and Animal Emotions, New York, NY 1998. Für eine im Internet verfügbare Kurzfassung vgl. Jaak Panksepp, The Affective Brain and Core Consciousness: How Does Neural Activity Generate Emotional Feelings?, in: Handbook of Emotions, hg. von Michael Lewis u. a., 2008, 47-67. Panksepp fand im Laufe der Zeit sieben biologisch im Hirn verankerte Emotionen, die er, um sie vom üblichen Sprachgebrauch abzusetzen, in Großbuchtaben schrieb: SEEKING/Expectancy, RAGE/Anger, FEAR/Anxiety, LUST, CARE/Nurturing, PANIC/Sadness Und PLAY/Social Joy.

[29] A. a. O. S. 20.

[30] Noam Chomsky, Knowledge of Language. Its Nature, Origin, and Use, 1986; ders., Aspects of the Theory of Syxntax, 1965. Zu einer kompetenten Stellungnahme zu Chomskys Theorie sehe ich mich außer Stande. Ich orientiere mich bisher an der Stellungname von Günter Dux, Sprache. Ihre Genese als Problem der Erkenntniskritik, in: ders., Die Evolution der humanen Lebensform als geistige Lebensform, 2017, 227–254.

[31] Steven Pinker, Der Sprachinstinkt, 1998 (The Language Instinkt, 1994).

[32] John Rawls, A Theory of Justice, 1971, hier zitiert nach der Auflage von 1999, dort S. 41. Von einem angeborenen Gerechtigkeitsinn ist bei Rawls keine die Rede. Die Seite beginnt mit dem Satz »Let us assume that each peson beyond a sertain aage and possessed of the rquisite intellectual capacity develops a sense of justice unde normal social cirsumstances.« Der letzte Absatz der Seite beginnt dann »A useful comparison hier is with the problem of describing the sense of grammaticalness that we have for the sentences of our native Language.« Eine Fußnote verweist auf Noam Chomsky, Aspects of the Theory of Syxntax, 1965, S. 5-9.

[33] John Mikhail,. Universal Moral Grammar: Theory, Evidence and the Future, Trends in Cognitive Sciences, 11, 2007, 143-152; ders., Elements of Moral Cognition: Rawls’ Linguistic Analogy and the Cognitive Science of Moral and Legal Judgment, 2011; ders./Matthias Mahlmann, Cognitive Science, Ethics and Law, ARSP Beiheft 102, 2005, 95-102. Kritisch: Lando Kirchmair, Morality between Nativism and Behaviorism: (Innate) Intersubjectivity as a Response to John Mikhail’s »universal moral grammar«, Journal of Theoretical and Philosophical Psychology 37, 2017, 230–260.

[34] Mentalistische Perspektiven auf Sprache und Recht, in: Kent D. Lerch, Die Sprache des Rechts Bd. 3: Recht vermitteln, 2005, 209–232; Elemente eines mentalistischen Regelbegriffs, in: Marco Iorio/Rainer Reisenzein, Regel, Norm, Gesetz, 2010, 69–82; Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 7 Aufl. 2023, S. 510ff.

[35] Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 7 Aufl. 2023, S. 512.

[36] Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 7 Aufl. 2023, § 26 (S. 350-360).