I. Theorien und Metatheorien, Hintergrundtheorien und Ideologiekritik
Um das Phänomen der Gesellschaft im Hinblick auf das Recht näher zu beschreiben und zu analysieren, benötigt man einen theoretischen Bezugsrahmen. Welche Theorien werden zu diesem Zweck von der Soziologie angeboten und welche eignen sich am besten für die Rechtssoziologie?
Kapitel 3 diente dazu, die Rechtssoziologie mit Hilfe epistemologischer Überlegungen insbesondere von der Rechtswissenschaft abzugrenzen. Insoweit kann man von einer Metatheorie der Rechtssoziologie sprechen. Kapitel 5 behandelt dagegen Theorien, die Sachaussagen über die Gesellschaft insgesamt oder über Teilbereiche, insbesondere über ihr Recht, machen. In § 24 war zunächst von Biologie und Neurosoziologie die Rede, um die Eigenständigkeit der Soziologie hervorzuheben. Noch vor allen Sachaussagen, die Gegenstand der nachfolgenden Kapitel sind, gibt es in der Soziologie eine große Diskussion darüber, wie und wo denn die Theorie des Faches überhaupt ansetzen kann. Die wichtigsten Kandidaten sind individuelle Handlungen, gesellschaftliche Strukturen und Prozesse. Um diese geht es in den folgenden Abschnitten dieses Paragraphen.
Jenseits aller expliziten Theorie stößt man auf eine Ebene mehr oder weniger unbewusster Vorannahmen, die als Hintergrundtheorien bezeichnet werden können. Die vielleicht allgemeinste Orientierung dieser Art richtet sich an einem freundlichen oder unfreundlichen, positiven oder negativen, optimistischen oder pessimistischen, humanistischen oder tragischen Menschenbild aus. Für die einen sind die Menschen grundsätzlich gesellig, friedliebend und kooperativ, und es kommt darauf an, diese Eigenschaften zu pflegen und zu schützen. Für die anderen ist das Böse in der Welt; die Menschen sind ungesellig, und das gilt es zu bekämpfen. Auch ausgearbeitete theologische, philosophische Systeme oder soziologische Theorien haben mehr oder weniger deutlich einen solchen Ausgangspunkt.
Die Königsdisziplin der Soziologie ist die Erforschung sozialer Ungleichheit. Sie steht unter der Prämisse, dass Ungleichheit ungerecht sei, einer Prämisse, die oft gar nicht aus-gewiesen oder gar begründet wird, obwohl sie keineswegs selbstverständlich ist[1].
Feminismus und postkoloniale Theorien betrachten Wissenschaft als Wissensproduktion, die in Herrschaftsverhältnisse eingebettet ist. Sie werde von europäischen und amerikanischen Universitäten dominiert. Ohne Bezug auf Maskulinismus, Kolonialismus und Rassismus, ohne Berücksichtigung lokaler Kontexte neigten sie dazu, den eurozentristischen Charakter ihrer Grundannahmen über Staat und Recht zu verkennen und aus einer privilegierten Position heraus einen Universalismus der Rechte zu propagieren.[2]
In der Sprache der Kulturwissenschaften heißen Hintergrundtheorien kulturelle Codes. Zu jeder Kultur gehört ein eigener cultural code, der als eine Art Grammatik die Dinge zusammenhält und eine Weltsicht vermittelt. Zum Code wird alles, was als selbstverständlich, natürlich und unvermeidlich erscheint, wiewohl es doch kontingent ist. Logozentrismus, Objektivismus, Phallozentrismus, heterosexuelle Matrix, Ethnozentrismus, Eurozentrismus, (methodologischer) Etatismus und Nationalismus und die diversen binären Codes der sozialen Systeme – wir sind von Codes umzingelt.
Die Hintergrundtheorien, um die es hier geht, laufen oft nur als implizite Deutungen der Gesellschaft mit. Aber auch ausgearbeitete Sozialtheorien entfalten ihre Wirkung als konservativ oder liberal, harmoniebetont oder konfliktfreudig oft in undifferenzierten Vulgärversionen durch die Formierung entsprechender Mentalitäten. Solange die Theorien nicht ausformuliert werden und im Hintergrund bleiben, fallen sie unter die Begriffe des Vorverständnisses oder der Perspektivität und geben Anlass zur Ideologiekritik.
II. Theoriepluralismus
Literatur: Alfons Bora, Responsive Rechtssoziologie – Theoriegeschichte in systematischer Absicht, 2023; Norman Braun, Theorie in der Soziologie, Soziale Welt, 59, 2008, 373–395; James Samuel Coleman, Foundations of Social Theory, 1990; Hartmut Esser, Über einige – gute – Gründe für eine (bestimmte) mikrosoziologische Revolution in der Soziologie, in: J. Friedrichs (Hg.), 23. Deutscher Soziologentag 1986: Sektions- und Ad-hoc-Gruppen, S. 338-342; Michael Hagner, Vom Aufstieg und Fall der Kybernetik als Universalwissenschaft, in: ders./Erich Hörl (Hg.), Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, 2008, S. 38-71; Talcott Parsons, The Social System, 1951; Uwe Schimank, Gesellschaft, 2013; Annette Treibel, Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart, 7. Aufl. 2006; Norbert Wiener, Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine. MIT Press (deutsche Ausgabe: Kybernetik. Regelung und Nachrichten-übertragung im Lebewesen und in der Maschine, 1948).
Von Zeit zu Zeit gab und gibt es den Versuch, alles Wissen über die Gesellschaft in einer einzigen Großtheorie zu konsolidieren. Ein frühes Beispiel bot die marxistische Klassentheorie. Immer noch zitiert, aber kaum genutzt wird die Systemtheorie von Talcott Parsons. Aber charakteristischer für die moderne Soziologie ist doch der Verzicht auf die »grand unified theory«. Esser spricht geradezu von einer »mikrosoziologischen Revolution«. Sie zeigt sich etwa in Dominanz der Umfrageforschung. In der Rechtssoziologie äußert sie sich in dem Vordringen konstruktivistisch orientierter wissenssoziologischer Ansätze in Konversationsanalysen und ethnographischen Untersuchungen.
Für die Naturwissenschaften ist es mehr oder weniger selbstverständlich, dass sich alle Theorien in ein großes Theoriegebäude einfügen sollten. Wenn und soweit Theorien sich widersprechen, wächst daraus die Aufgabe, eine von beiden oder gar eine dritte als die bessere zu bestätigen. Auch in den Sozialwissenschaften hat es mit der General Systems Theory von Parsons den Versuch gegeben, eine allgemeine Theorie zu entwerfen, die alle anderen in sich aufnehmen kann. Die Kybernetik war sogar angetreten, Natur- und Sozialwissenschaften in einem einzigen allgemeinen Theorierahmen zu vereinigen. Ihr prominentester Vertreter war Norbert Wiener. Er beobachtete nach 1945 die zunehmende Automatisierung der Produktionsprozesse und die Entstehung des Computers. 1948 veröffentlichte er ein Buch über »Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine« und nannte diesen Ansatz Kybernetik (Steuerungswissenschaft). Vordergründig erscheint das Vorhaben, eine allgemeine Theorie für die Steuerung von Maschinen und Menschen, Organisationen und ganzen Gesellschaften zu entwickeln, als technokratisch. Hagner sagte von der Kybernetik, sie ihren Aufstieg als Nachkriegswissenschaft erlebt und sei als Universalwissenschaft danach »sang- und klanglos in den Kellerräumen der Wissenschaftsgeschichte« verschwunden. Nach den großen Fortschritten künstlicher Intelligenz in den letzten Jahren würde er dieses Urteil vielleicht ändern, scheint sich doch mit der neuen KI der Anspruch der Kybernetik zu verbinden, das Gehirn des Menschen mit der Maschine nachbilden zu können.
Mit der Postmoderne gab es vor der Jahrtausendwende in der Soziologie eine Strömung, die verallgemeinernde Theorien zurückwies und alle empirischen Aussagen zeitlich und örtlich relativieren wollte. Speziell die Rechtssoziologie hat dazu einen Beitrag geleistet, indem sie sie die Kontingenz und kulturelle Vielfalt rechtlicher Kommunikationen aufgezeigt hat. So lässt sich aber die Forderung nach einer generalisierenden Theorie nicht zurückweisen. Eine allgemeine Theorie sucht nach den Regeln, die genau diese Vielfalt bestimmen. Empirische Forschung zeigt nicht nur Vielfalt, sondern auch immer wieder Muster. Aus der Biologie wissen wir, kein Individuum gleicht dem anderen. Warum sollte es in der Gesellschaft anders sein. Doch so wie die Biologie nicht bei der Beschreibung der Vielfalt aufhört, sondern nach Ähnlichkeiten sucht, darf auch die Soziologie nicht dabei stehen bleiben, die Diversität der Gesellschaft zu bestaunen, sondern kann und muss bei aller Verschiedenheit nach Ähnlichkeiten und Transformationsregeln Ausschau halten. Die empirische Forschung zeigt gerade auch bei ihrer Entdeckung der kulturellen Divergenz eine erstaunliche Konvergenz. Man sollte also nicht von vornherein auf die Suche nach einer übergeordneten Theorie verzichten. Aber eine solche ist nicht in Sicht.
In jüngerer Zeit sind zwei Theorien mit dem Anspruch aufgetreten, als allgemeine Theorie der Gesellschaft zu taugen, nämlich Netzwerktheorie (u. § 56) und Systemtheorie (u. Kapitel 13). Beide haben sich mit diesem Anspruch nicht durchgesetzt. Tatsächlich ist die Soziologie und mit ihr die Rechtssoziologie weit von einer konsolidierten Theorie entfernt[3], soweit, dass oft eine Aufzählung der Klassiker als Ersatz für eine Systematik dient.[4] Immerhin lassen sich einige Theoriegruppen unterscheiden. Sie geben die Gliederung für die nachfolgenden Kapitel 6 bis 15 vor. Da diese zehn Kapitel jeweils keine konsolidierten Theorien, sondern wie gesagt »Theoriegruppen« behandeln, spreche ich von »Ansätzen«. Andere sprechen von Forschungsparadigmen.
Kapitel 6 Verhaltenstheoretische Erklärungsansätze
Kapitel 7 Handlungstheoretische Erklärungsansätze
Kapitel 8 Wissenssoziologische Erklärungsansätze
Kapitel 9 Normtheoretische Erklärungsansätze
Kapitel 10 Soziale Rollen, Gruppen und Netzwerke
Kapitel 11 Schichten- und klassentheoretische Erklärungsansätze
Kapitel 12 Institutionstheoretische Erklärungsansätze
Kapitel 13 Systemtheoretische Erklärungsansätze
Kapitel 14 Organisationstheoretische Erklärungsansätze
Kapitel 15 Der konflikttheoretische Ansatz.
In Kapitel 16 werden im Querschnitt »Große Hypothesen der Rechtssoziologie« aufgenommen, und das Schlusskapitel 17 versucht, mit der Stimme der Rechtssoziologie dem Recht auf dem Wege zur Weltgesellschaft zu folgen.
Die vielen Theorien oder Ansätze lassen sich grob auf drei Achsen verorten:
Individuum und Gesellschaft,
Ordnung und Konflikt,
Struktur und Prozess.
Diese Achsen mit ihren Polen werden in den folgenden Abschnitten dieses Paragrafen angesprochen. Die These dahinter lautet: Ganz gleich, von welchem Ende her man beginnt, die Gesellschaft zu analysieren, muss man doch zu gleichen Ergebnissen kommen, wenn man methodisch einwandfrei und konsequent verfährt. Ich baue also auf eine Konvergenztheorie, wie sie vor langer Zeit der amerikanische Philosoph Charles S. Peirce vorgeschlagen hat.[5]
III. Individuum und Gesellschaft
Literatur: Gerald A. Cohen, Karl Marx’s Theory of History: A Defence, 2000 [1978]; Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, 1965; Émile Durkheim, Regeln der soziologischen Methode, 3. Aufl. 1970; Jon Elster, Making Sense of Marx, 1975; Rainer Greshoff/Uwe Schimank, Integrative Sozialtheorie? – Esser – Luhmann – Weber, 2006; George C. Homans, Was ist Sozialwissenschaft?, 1969; ders., Elementarformen sozialen Verhaltens, 2. Aufl. 1972; Hans-Joachim Hummell/Karl-Dieter Opp, Die Reduzierbarkeit von Soziologie auf Psychologie, 1971; Dirk Käsler, Wege in die soziologische Theorie, 1974; Reinhard Neck, Der methodologische Individualismus, in: Giuseppe Franco (Hg.) Handbuch Karl Popper, 2019, 447–462; Thomas Schwinn/Clemens Kroneberg/Jens Greve, Soziale Differenzierung, Handlungstheoretische Zugänge in der Diskussion, 2011; Viktor Vanberg, Die zwei Soziologien, 1975.
In § 24 wurden zunächst der Biologismus Lombrosos und die umfassenden Ansprüche der Soziobiologie und der Neurosoziologie abgewiesen. Näher liegt heute die Annahme, dass soziale Phänomene letztlich auf psychische reduziert werden können. Sie wird in den USA etwa von dem einflussreichen Soziologen George C. Homans und in Deutschland von H.J. Hummell und Opp nachdrücklich vertreten. Diese und viele andere Autoren sind Anhänger des methodologischen Reduktionismus, d. h. der Auffassung, dass alle komplexeren Sachverhalte restlos auf einfachere Phänomene zurückgeführt werden könnten, womit dann auch Soziologie in Sätze der Psychologie auflösbar wäre.
Diese Annahme liegt implizit oder explizit den verschiedenen verhaltens- oder handlungstheoretischen Ansätzen zugrunde. Sie bauen von der Handlung der einzelnen Akteure her auf und fragen, wodurch Handlungen einzelner sich gegenseitig beeinflussen. So wird das ganze soziale System in seine kleinsten Einheiten zerlegt und von daher wieder zusammengesetzt. Man kann deshalb auch sagen, dieser Ansatz sei atomistisch oder jedenfalls individualistisch. Seit Durkheim die Autonomie der Soziologie gerade auch gegenüber der Psychologie postulierte, sind führende Soziologen jedoch überwiegend der Meinung, dass das Soziale eine Eigenexistenz nicht nur neben dem Biologischen, sondern auch neben dem Psychischen habe. So schreibt etwa Dahrendorf:
»Von dem, was der einzelne tut oder selbst regelmäßig tut, führt kein Weg zu der prinzipiell unabhängig vom einzelnen bestehenden Tatsache der Gesellschaft. Die Summe und der Durchschnitt des Handelns von einzelnen vermögen ebenso wenig wie ein durch Befragung ermittelter Konsensus die Wirklichkeit von Gesetz und Sitte zu erklären«.
Durkheims Anhänger fordern daher, sogleich bei den soziologischen Tatbeständen zu beginnen, die sich nicht restlos in individuelle Handlungen auflösen ließen, also etwa bei Normen und Institutionen oder gar bei der Gesamtgesellschaft. Man kann daher alle soziologischen Theorien danach, ob sie vom Individuum oder vom Ganzen der Gesellschaft her die soziale Wirklichkeit zu erfassen suchen, auf einer Art Ordinalskala ordnen. Auf dieser Skala bilden die handlungstheoretischen Ansätze den einen, individualistischen Endpunkt, während die Systemtheorie, die die Gesamtgesellschaft als ein – vielfach gegliedertes – System versteht, den strukturtheoretischen Gegenpol abgibt. Theorien, die bei Normen, Rollen oder Gruppen ansetzen, erscheinen auf dieser Skala als intermediär (Käsler, S. 24 ff.).
Es lohnt sich nicht, das Problem des Reduktionismus ausführlicher zu erörtern. Letztlich dürfte es sich um ein Scheinproblem handeln, das zudem, wie die verbreitete Benennung der strukturtheoretischen Ansätze als »kollektivistisch« zeigt, noch weltanschaulich belastet ist. Das Problem löst sich auf, wenn man zwischen ontologischem und methodologischem Reduktionismus unterscheidet. Wenn man das Verhältnis von Physik und Chemie zur Biologie bedenkt, ist die Annahme des Reduktionismus durchaus plausibel. Methodisch kann der Biologe Physik und Chemie über lange Strecken vergessen und biologische Prozesse als autonom behandeln. Dennoch bezweifelt kaum jemand, dass sie sich (ontologisch) auf chemische und physikalische und letztlich auf atomphysikalische Vorgänge zurückführen lassen. Ähnlich ist es für viele Themen sinnvoll, das Soziale (methodisch) als autonomen Wirklichkeitszusammenhang zu verstehen. Das schließt aber nicht aus, dass man an geeigneten Stellen die sozialen Tatbestände in individualpsychische auflöst. Den Weg von der sozialen Handlung zum sozialen Tatbestand versucht § 35 I nachzuzeichnen.
Die Vielzahl der theoretischen Ansätze, die alle auch in der Rechtssoziologie Verwendung finden, bleibt verwirrend. Man muss sich klarmachen, dass es sich dabei gar nicht um Theorien im strengen Sinne, also um Theorien im Sinne des HO-Schemas (§ 11, 2) handelt, sondern um begrifflich-sprachliche Ansätze, mit denen man sich der Wirklichkeit nähert. Deshalb wäre es auch verfehlt, nach richtig oder falsch zu fragen. Solche begrifflichen Konzeptualisierungen sind allenfalls mehr oder weniger zweckmäßige Werkzeuge des Denkens. Wenn sie nur konsequent gehandhabt werden, müssten alle Ansätze nicht nur zu einwandfreien, übereinstimmenden Ergebnissen führen, sondern sich selbst am Ende gegenseitig aufnehmen.
Wenn man im Gegensatz zu Durkheim bei der Rekonstruktion der Gesellschaft etwa mit Max Weber nicht von der Gruppe, sondern vom Individuum ausgeht, so gelangt man doch alsbald zu der Frage, wie sich die Akteure gegenseitig beeinflussen, insbesondere wie die weitgehende Konformität ihres Handelns zustande kommt. Das ist die Frage nach der sozialen Kontrolle, d. h. nach der Gesamtheit aller sozialen Prozesse und Strukturen, die konformes Verhalten organisieren und abweichendes Verhalten der Mitglieder einer Gesellschaft oder eines ihrer Teilbereiche verhindern oder einschränken. Sie führt zwangsläufig zu den soziologischen Tatbeständen, zu Normen und Rollen, Gruppen und Institutionen. Umgekehrt kann das Studium dieser soziologischen Tatbestände im Sinne Durkheims nicht übersehen, dass letztlich handelnde Menschen beteiligt sind, und muss nach deren Einstellungen, Motiven und Reaktionen fragen. Praktisch ist es allerdings so, dass jeder dieser Ansätze, indem er das komplexe Knäuel der Gesellschaft von einem anderen Ende her zu entwirren versucht, den Blick in eine bestimmte Richtung lenkt und dadurch die Gefahr von Einseitigkeit mit sich bringt. Je nach der Art der Sachprobleme, die man behandeln will, kann es zweckmäßig sein, von der einen oder anderen Seite her, oder auch von beiden, anzusetzen.
IV. Struktur und Prozess
Literatur: Susanne Baer, Recht als Praxis. Herausforderungen der Rechtsforschung heute, Zeitschrift für Rechtssoziologie 36, 2016, 213-232; Jan Haut/Dieter Reicher, Norbert Elias: Figurations- und Prozesssoziologie, in: Heike Delitz u. a. (Hg.), Handbuch Theorien der Soziologie, 2020, 1–20; Frank Hillebrandt, Praxistheorie, in: Heike Delitz u. a., Handbuch Theorien der Soziologie, 2020, 1–27; Andrea Kretschmann, Pierre Bourdieus› Praxistheorie des Rechts, in: dies., Das Rechtsdenken Pierre Bourdieus, 2019, 112-127. Velbrück Wissenschaft. Andreas Reckwitz, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken, Zeitschrift für Soziologie 32, 2003, 282-301; Karl H Hörning/Julia Reuter (Hg.), Doing Culture, 2004.
Wer von Recht redet, geht grundsätzlich davon aus, dass es mehr oder weniger konkrete Normen gibt, und dass man daher sinnvoll über Normkonformität und Normbruch reden kann. Dass sich die Normen laufend wandeln, ist dabei selbstverständlich. Die neuere Soziologie ist von dem Gegensatz zwischen statischen und prozessualen Erklärungen durchzogen. Immer wieder wird betont, es gebe nirgends feste Grenzen. Jede soziale Erscheinung müsse als historisch kontingent behandelt werden. Die Dinge seien ständig im Fluss. Man könne daher nur Prozesse, aber keine Strukturen untersuchen.
Als Klassiker der Prozessanalyse gilt Norbert Elias mit seiner Figurationsanalyse (Figuration, sozialer Prozess und Zivilisation: Grundbegriffe der Soziologie, in: ders., Aufsätze und andere Schriften III, 2006, 104ff). Er betont damit die fluktuierende Interdependenz menschlicher Beziehungen. Was er sagt, ist klug und richtig, hilft aber nicht weiter. Figurationen sind der Versuch, im Prozess nach der Struktur zu greifen.
Solche Auffassungen stützen sich heute auf die Praxistheorie Bourdieus und auf ein postmodernes Kulturverständnis. Es versteht die Kultur als eine performative Praxis, die das ganze Alltagsleben umfasst und damit auch rechtliche Praktiken einschließt. Die Kultur und mit ihr das Recht sind prinzipiell unabschließbar. Rechtliche Praktiken sind eine Erscheinungsform hybrider kultureller Prozesse. Daraus folgt ein alltagspraktisches und dynamisches Rechtsverständnis: Was überhaupt als Recht in Betracht kommt, lässt sich nicht vorab in Definitionen oder Theorien fassen, sondern zeigt sich immer erst in konkreten rechtlichen Praktiken. Dazu etwas näher u. § 35 III.
Tatsächlich sind in vielen Situationen unterschiedliche Normen gleichzeitig am Werk, und der soziale Kontext bestimmt, ob und wie sich die einen oder die anderen durchsetzen. Großen Anklang hat deshalb das von der Anthropologin Sally Falk Moore entwickelte Konzept der Semi-Autonomous Social Fields gefunden (Law and Society Review 7, 1972/73, 719-746). Moore ging es allerdings gar nicht um Rechtspluralismus, sondern um die Frage, ob staatliche Gesetzgebung einen grundlegenden sozialen Wandel herbeiführen kann. Sie schlug deshalb vor, jeweils kleine Ausschnitte aus der Gesellschaft zu wählen und sie mit den Methoden der Anthropologie im Hinblick auf ihre relative Eigenständigkeit zu beobachten. Solche Beobachtung zeigt, dass neben dem offiziellen Recht stets auch andere Normenkomplexe wirksam sind, unter deren Eindruck die Beteiligten konkrete Lösungen aushandeln. Das hat zur Folge, dass die sozialen Beziehungen und mit ihnen das Recht ständig in Bewegung sind, und führt in der Konsequenz zu einer Dynamisierung des Rechtsbegriffs.
Boaventura Sousa de Santos hat den dynamischen Aspekt des Rechtspluralismus auf den Begriff der Interlegalität gebracht:
»Legal pluralism is the key concept in a postmodern view of law. Not the legal pluralism of traditional legal anthropology in which the different legal orders are conceived as separate entities coexisting in the same political space, but rather the conception of different legal spaces superimposed, interpenetrated, and mixed in our minds as much as in our actions, in occasions of qualitative leaps or sweeping crises in our life trajectories as well as in the dull routine of eventless everyday life. We live in a time of porous legality or of legal porosity, of multiple networks of legal orders forcing us to constant transitions and trespassings. Our legal life is constituted by an intersection of different legal orders, that is, by interlegality. Interlegality is the phenomenological counterpart of legal pluralism.« (Law: A Map of Misreading. Toward a Postmodern Conception of Law, Journal of Law and Society 14, 1987, 279-302, S. 297f, ebenso in: Toward a New Common Sense, 2. Aufl. 2002, S.472f).
So kann man die Dinge sehen, sieht dann aber nicht viel. Auch wenn man das Wasser im Fluss nicht greifen kann, so kann man doch den Fluss beschreiben. Für die professionelle Soziologie ist es vollkommen richtig, dass sie ihr Interesse in erster Linie auf das Prozesshafte des Sozialen richtet. Die Rechtssoziologie ist aber eher an Ergebnissen und Strukturen interessiert als an deren Zustandekommen. Sie wird das Prozesshafte des Sozialen nicht leugnen. Im Gegenteil, es ist eine der wichtigsten Einsichten der Rechtssoziologie, dass das Recht im Kleinen wie im Großen dauernd in Bewegung ist. Aber Bewegung lässt sich immer nur vor einem relativ unbewegten Hintergrund beobachten. Deshalb muss es für die Rechtssoziologie gestattet sein, die nicht unmittelbar rechtlich geprägten Variablen als relativ feststehende (unabhängige) zu behandeln.
V. Ordnung und Konflikt
Wenn man Soziologie von den Polen Individuum und Gesellschaft her betreibt, und hier insbesondere Handlungs- oder Systemtheorie gegenüberstellt, kann der Eindruck entstehen, als habe Soziologie die Aufgabe, das Phänomen der sozialen Ordnung zu erklären, d. h. das Phänomen der Herstellung und Wahrung eines bestimmten Grades von Konformität und Integration, das die Tatsache der Gesellschaft ausmacht. In betontem Gegensatz dazu steht eine konflikttheoretische Betrachtungsweise. Sie lässt sich nicht zwischen Mikro und Makro einordnen, sondern weist in eine Dimension, die quer zu dieser Einteilung liegt. Es ist ebenso eine individualistische wie eine strukturale Konflikttheorie denkbar. Als Beispiel für die letztere mag die marxistische Klassentheorie dienen. Eine handlungstheoretische Ausprägung liegt dagegen der von Jhering und Heck begründeten Interessenjurisprudenz zugrunde.
Zwei Gründe gibt es, die konflikttheoretischen Ansätze in einer besonderen Theoriegruppe zusammenzufassen. Der eine hängt mit der speziellen Aufgabe der Rechtssoziologie zusammen. Seit den Anfängen rechtsphilosophischer Reflexion bei Heraklit wird Recht mit Streit zusammen gedacht: »Der Kampf ist der Vater und König aller Dinge … und Recht ist Streit«. Ein Ansatz, der das Recht vor dem Hintergrund von Konflikten in den Blick nimmt, ist daher besonders geeignet, um spezifische Funktionen des Rechts in der Gesellschaft zu studieren.
Der zweite Grund ist allgemeiner Art. Aus konflikttheoretischer Sicht wird immer wieder die Einseitigkeit aller Theorien kritisiert, die das Problem der Ordnung und Integration der Gesellschaft zum Thema machen, und diesem Thema gegenüber, das oft als das Problem der sozialen Kontrolle gekennzeichnet wird, das Phänomen des sozialen Wandels betont. Die Diskussion mündet vielfach in die Proklamation wechselseitigen Ideologieverdachts. Handlungstheoretische und andere Konzepte, die unter dem Aspekt der sozialen Kontrolle die soziale Konformität thematisieren, werden konservativ genannt, erst recht eine Systemtheorie, die die Frage nach dem sozialen Gleichgewicht in den Vordergrund stellt. Dagegen nehmen Theorien, die vor allem auf Konflikte mit der Folge sozialen Wandels sehen, für sich in Anspruch, progressiv zu sein. Zur Illustration braucht man nur die von dem prominentesten Vertreter der (strukturfunktionalen) Systemtheorie, dem amerikanischen Soziologen Talcott Parsons, aufgestellten Grundbedingungen des sozialen Gleichgewichts den vier Grundaxiomen einer konflikttheoretischen Betrachtungsweise gegenüberzustellen, wie sie von Ralf Dahrendorf (Gesellschaft und Freiheit, 1965; 209f) formuliert worden sind:
(1) Parsons: Jede Gesellschaft ist ein (relativ) beharrendes, stabiles Gefüge von Elementen (Annahme der Stabilität).
Dahrendorf: Jede Gesellschaft und jedes ihrer Elemente unterliegt zu jedem Zeitpunkt dem Wandel (Annahme der Geschichtlichkeit).
(2) Parsons: Jede Gesellschaft ist ein gleichgewichtiges Gefüge von Elementen (Annahme des Gleichgewichts).
Dahrendorf: Jede Gesellschaft ist ein in sich widersprüchliches und explosives Gefüge von Elementen (Annahme der Explosivität).
(3) Parsons: Jedes Element in einer Gesellschaft leistet einen Beitrag zu ihrem Funktionieren (Annahme der Funktionalität).
Dahrendorf: Jedes Element in einer Gesellschaft leistet einen Beitrag zu ihrer Veränderung (Annahme der Dysfunktionalität oder Produktivität).
(4) Parsons: Jede Gesellschaft erhält sich durch einen Konsensus aller ihrer Mitglieder über bestimmte gemeinsame Werte (Annahme des Konsensus).
Dahrendorf: Jede Gesellschaft erhält sich durch den Zwang, den einige Mitglieder über andere ausüben (Annahme des Zwanges).
Diese Gegenüberstellung zeigt, dass es sich hier um zwei Positionen mit inhaltlichen Vorgaben handelt, nämlich auf der einen Seite die Sichtweise des Bestandsfunktionalismus, die eher nach Integration, Stabilität, Gleichgewicht, Funktionalität und Konsensus sucht und auf der anderen Seite der konflikttheoretische Ansatz, der demgegenüber den Blick für die Geschichtlichkeit, für Explosivität, Innovation, dysfunktionale Produktivität und Zwang schärfen will. Letztlich handelt es sich jedoch, ähnlich wie bei dem Gegensatz zwischen individualistischen und kollektivistischen Theorien, auch bei der Polarisierung von sozialer Kontrolle und sozialem Wandel um ein Scheinproblem.
Der Vorwurf des Konservativismus liegt nahe, wenn man die Kernfrage der soziologischen Theorie in dem Problem der sozialen Ordnung sieht. Wenn die Theorie dazu noch den missverständlichen, nur als Terminus technicus erklärbaren Begriff der sozialen Kontrolle verwendet, dann scheint der Ruf nach Law and Order anzuklingen. Aber wer ihn heraushört, hört falsch. Die Wirklichkeit lässt sich sinnvoll nur unter dem Gesichtspunkt der Ordnung verallgemeinernd beschreiben. Auch fehlende Ordnung lässt sich nur in Ordnungsbegriffen ausdrücken. Zugleich ist das Bestehen einer sozialen Ordnung problematisch und kann nicht als selbstverständlich hingenommen werden. Hier liegt das entscheidende Missverständnis des Ideologievorwurfs: Auch wer gegen die Rede von Ordnung allergisch ist, stellt sich im Grunde eine soziale Ordnung vor, nur eben eine andere. Man mag auch darüber streiten, wie viel Konformität unabdingbar, wie viel wünschenswert und wie viel gerade noch erträglich ist. Aber ohne jede Konformität geht es nicht. Das Konzept der sozialen Kontrolle hindert nicht, die Frage, wie Ordnung entsteht und wie sie vergeht, also die Frage des sozialen Wandels aufzugreifen. Auch wird die Antwort auf diese Frage inhaltlich nicht präjudiziert. Man ist in keiner Weise gehindert, eine festgestellte soziale Ordnung nach Inhalt, Umfang und Stabilität zu kritisieren. Das Konzept der sozialen Kontrolle, das auf soziale Integration, d. h. auf Lösung oder Unterdrückung von Konflikten und Verhaltensgegensätzen abstellt, leugnet auch nicht, dass eben diese Kontrolle gleichzeitig immer wieder neue Konflikte schafft, weil mit ihr das Problem der Autorität und Fremdbestimmung aufgeworfen wird. Bevor man aber kritisch an eine Ordnung herangeht, muss man sie beschreiben; und das gelingt nur mit Hilfe von Ordnungsbegriffen.
Ob kritisch oder zustimmend: Niemand kann leugnen, dass das Recht ein Ordnungsphänomen ist. Für die Rechtssoziologie hat es daher Vorteile, wenn man zunächst handlungstheoretisch beginnt, über intermediäre Konzepte bis zu systemtheoretischen Fragestellungen fortschreitet und erst nachträglich konflikttheoretische Aspekte einbringt. Wenn man zunächst den Aspekt des sozialen Wandels weitgehend ausblendet, kann man sich die Arbeit für den Anfang vereinfachen. Zu einem späteren Zeitpunkt muss man allerdings die Frage nach dem sozialen Wandel wieder aufnehmen, die Frage nämlich, warum Rechtsnormen gerade diesen und keinen anderen Inhalt haben, zumal sie sachlich die interessanteste und wichtigste ist. Aber bevor man die Frage nach dem Werden des Rechts, die Frage, wie Normen bestimmten Inhalts entstehen und vergehen, wem sie nützen oder schaden, in Angriff nehmen kann, muss man sich das Rüstzeug verschaffen, um einen bestehenden Rechtszustand soziologisch zu beschreiben. Daher wird hier mit der Darstellung rechtssoziologisch relevanter verhaltens- und handlungstheoretischer Ansätze begonnen. Über verschiedene intermediäre Ansätze führt die Darstellung zur Systemtheorie. Erst danach werden sozusagen im Querschnitt, verschiedene Themen der Rechtssoziologie aus konflikttheoretischer Perspektive erörtert.
[1] Volker H. Schmidt, Ungleichheit, Exklusion und Gerechtigkeit, Soziale Welt 51, 2000, 383-400;
[2] Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: Patrick Williams/Laura Chrisman (Hg.), Colonial Discourse and Post-Colonial Theory, 1994, 66-111; ders., Righting wrong — Unrecht richten. Über die Zuteilung von Menschenrechten, 2008 [2004]; Philipp Dann (Hg.), (Post)Koloniale Rechtswissenschaft, Geschichte und Gegenwart des Kolonialismus in der deutschen Rechtswissenschaft, Tübingen 2022; Patricia Purtschert, Kolonialität und Geschlecht im 20. Jahrhundert. Eine Geschichte der weißen Schweiz, 2019.
[3] Normann Braun/Christian Ganser, Fundamentale Erkenntnisse der Soziologie? Eine schriftliche Befragung von Professorinnen und Professoren der deutschen Soziologie und ihre Resultate, Soziologie 40, 2011, 151–174.
[4] Dirk Kaesler, Klassiker der Soziologie, Bd. 1: Von Auguste Comte bis Alfred Schütz, 7. Aufl. 2020, Bd. 2: Von Talcott Parsons bis Anthony Giddens, 6. Aufl. 2020; Gernot Saalmann, Klassiker als Pioniere, Soziologie 41, 2012, 311-316.
[5] Dazu meine immer noch vorläufige Ausarbeitung über eine Konvergenztheorie des Wissens: Konvergenz in Rechts- und Nachbarwissenschaften und das Internet als Konvergenzmaschine. Drei Thesen und 100 Gründe (2015).