I. Verhalten als Reaktion
Literatur: George Caspar Homans, Elementarformen sozialen Verhaltens, 2. Aufl. 1972; ders., Status Among Clerical Workers, Human Organization 12, 1953, 5-10; ders., Social Behavior as Exchange, American Journal of Sociology 63, 1958, 597-606.
1. Lerntheorie im Tierexperiment
Die kleinste Einheit, auf die Soziologie zurückgehen kann, ist menschliches Verhalten im Sinne eines Reagierens auf Stimuli, d. h. auf Reize wie Wärme, Kälte, Nahrung oder Schmerz, Belohnung oder Bestrafung, die mit einem bestimmten Verhalten beantwortet werden. Die Stimulus-Response-Lerntheorie ist an Tieren entwickelt worden. Bekanntlich gelang es zuerst dem russischen Psychologen Pawlow (1849-1936), seinen Hunden einen bedingten Reflex anzutrainieren. Jedes Mal, kurz bevor er ihnen Futter anbot, ließ er ein Klingelzeichen ertönen. Nach etlichen Wiederholungen konnte er beobachten, dass der Speichelfluss auch dann einsetzte, wenn die Hunde nur das Klingelzeichen hörten. Das Einsetzen des Speichelflusses beim Anblick des Futters ist ein angeborener (phylogenetisch erworbener) Reflex, der durch Pawlows Versuchsanordnung einen neuen künstlichen Auslöser erhalten hatte und dadurch zum bedingten Reflex geworden war[1].
Den nächsten Schritt, der die Anwendung der Lerntheorie auch auf soziales Verhalten möglich machte, fand der amerikanische Psychologe Skinner[2]. Sein Versuchstier war die Ratte, die in der Skinner-Box solange herumprobieren musste, bis sie per Zufall den Hebel fand, dessen Betätigung das Futter freigab. Hier geht es nicht mehr um die Auslösung eines angeborenen Reflexes, sondern ungerichtetes Suchverhalten führt erstmals zufällig zu einem Erfolg. Auch bei den ersten Wiederholungen mag der Erfolg noch zufällig eintreten. Aber dann beginnt der Erfolg als Verstärker zu wirken, er zieht die Wiederholung der auslösenden Handlung nach sich. Bleibt die Verstärkung allerdings dauerhaft aus, so wird das erlernte Verhalten wieder ausgelöscht. Das Tier lernt durch Versuch und Irrtum.
Als in Tierversuchen gut belegte Ergebnisse der Lerntheorie gelten die folgenden Sätze, die hier in der von schon Homans (1972 S. 45 ff.) vorgenommenen Übertragung auf menschliches Verhalten wiedergegeben werden
- Verstärkungsprinzip: Je öfter eine Person innerhalb einer gewissen Zeitperiode die Aktivität einer anderen Person belohnt, desto öfter wird jene sich dieser Aktivität zuwenden.
- Motivationsprinzip: Je wertvoller für eine Person eine Aktivitätseinheit ist, die sie von einer anderen Person erhält, desto häufiger wird sie sich Aktivitäten zuwenden, die von der anderen Person mit dieser Aktivität belohnt wurden.
- Sättigungsprinzip: Je öfter eine Person in jüngster Vergangenheit von einer anderen Person eine belohnende Aktivität erhielt, desto geringer wird für sie der Wert jener Aktivität sein.
- Generalisierungsprinzip: Wenn die Aktivität einer Person früher während einer bestimmten Reizsituation belohnt wurde, wird diese sich jener oder einer ähnlichen Aktivität umso wahrscheinlicher wieder zuwenden, je mehr die gegenwärtige Reizsituation der früheren gleicht.
Die vier Grundthesen der Lerntheorie werden ergänzt durch eine fünfte, die als Frustrations-Aggressionsthese bekannt ist.[3] Sie lautet:
- Wenn eine erwartete Belohnung ausblieb oder eine unerwartete Bestrafung erfolgte, ist Frustration die Folge. Frustrierte Personen empfinden Aggression als Belohnung.
Diese These darf nicht dahin verstanden werden, dass Aggression nur durch Frustration verursacht werden könnte und Frustration immer Aggression zur Folge hätte. Aggression kann andere Ursachen haben. Das hat Milgram in seinen berühmten Laborexperimenten gezeigt, bei denen er die Versuchspersonen durch normativ gestützte Autorität zu massiven Aggressionen gegen Dritte veranlassen konnte, von denen sie in keiner Weise frustriert worden waren.[4] Aggression kann auch durch Nachahmung gelernt werden (§·28, 3b). Auf der anderen Seite kann Frustration auch andere als aggressive Reaktionen auslösen. Je nach der kognitiven Verarbeitung der Situation, und zwar vor allem der Bedrohung durch die Frustrationsquelle, können Ärger und Furcht auftreten. Allerdings kann man Ärger als eine mildere Vorform der Aggression verstehen, denn er kann in eine aggressive Reaktion ausmünden, wenn er eine gewisse Intensität erreicht und außerdem ein geeignetes Aggressionsobjekt vorhanden ist.[5]
1. Übertragung der Lerntheorie auf menschliches Verhalten
Der amerikanische Soziologe George C. Homans hat die aus Tierexperimenten gewonnene Lerntheorie auf menschliches Verhalten übertragen und zu der von ihm sogenannten Austauschtheorie ausgebaut. Er nimmt an, dass Aktivitäten einer Person (Ego), die auf eine andere Person (Alter) gerichtet sind, von dieser als nützlich oder schädlich, als Belohnung oder Bestrafung, empfunden werden mit der Folge, dass Ego zur Wiederholung von Aktivitäten tendiert, die bei Alter eine belohnende Reaktion ausgelöst haben, und andere Aktivitäten vermeidet, auf die Alter negativ erwidert hat.
Die Übertragbarkeit der behavioristischen Lerntheorie auf menschliches Verhalten ist in vieler Hinsicht problematisch. Das zeigt sich bei der Frage, was überhaupt als Belohnung in Betracht kommt. Die Antwort ist viel komplizierter als das einfache Stimulus-Response-Modell des Verhaltens ahnen läßt. Wahrscheinlich gibt es einige Reize, deren Belohnungscharakter biologisch und damit in gewisser Weise absolut ist: Wärme, Nahrung, sexuelle Befriedigung. Aber in den meisten Fällen ist die positive oder negative Billigung eines Reizes keine Konstante. Dazu brauchen wir nicht einmal so abseitige Beispiele wie den Masochisten heranzuziehen, der Schläge als Belohnung empfindet. Um die Ambivalenz von Reizen zu erkennen genügt es, an jene afrikanischen Stämme oder studentischen Verbindungen zu denken, die Schmucknarben für erstrebenswert halten. Sogar für Austern, Kaviar oder Marihuana gilt, dass man erst lernen muss, diesen Dingen Geschmack abzugewinnen. In aller Regel ist der positive oder negative Wert eines Reizes sozial determiniert. Wie anders könnte man die biologisch höchst unwahrscheinliche Tatsache erklären, dass es Menschen gibt, die die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes als einen positiven Reiz empfinden?
Eine weitere Komplikation tritt dadurch ein, dass die wenigsten Aktivitäten mit einem einzigen Reiz beantwortet werden, der dann eindeutig als positiv oder negativ empfunden wird. Die Regel ist vielmehr, dass schon die einfachsten Tätigkeiten gleichzeitig positive und negative Effekte haben, so dass der Belohnungscharakter als Nettowert, als Differenz zwischen Kosten und Nutzen, erscheint, wobei die Maßstäbe einer solchen Nutzenschätzung erst recht nicht nur individuell verschieden, sondern auch kulturell relativ sind.
So schwierig danach das lerntheoretische Modell menschlichen Verhaltens für alle nicht ganz simpel strukturierten Situationen zu handhaben ist, so behält es doch prinzipiell seine Gültigkeit und liegt explizit oder implizit als Hintergrundtheorie vielen soziologischen Erklärungsversuchen zugrunde.Der Schritt von der Psychologie zur Soziologie besteht darin, dass man an Stelle bloßer »Reize« die (symbolische) Kommunikation zwischen den Beteiligten in den Blick nimmt.
II. Belohnung und Strafe als Mittel der Verhaltenssteuerung
Hier interessieren besonders spezifische Anwendungsmöglichkeiten in der Rechtssoziologie. Die wichtigste ist in der Ausprägung der Austauschtheorie als Equity-Theorie zu finden (§·27). Zunächst sollen jedoch einige Schlussfolgerungen angeführt werden, die Homans im Hinblick auf den Einsatz von Belohnung und Strafe als Mittel der Verhaltenssteuerung gezogen hat.
Wenn im lerntheoretischen Zusammenhang von Belohnungen und Strafen die Rede ist, dienen diese Ausdrücke ganz allgemein zur Kennzeichnung positiver und negativer Reize. Das Recht hat wenig Belohnungen zu bieten. Aber jedenfalls sind Rechtsstrafen in diesem Sinne negative Reize, so dass die Frage entsteht, ob sich aus der Lerntheorie Aussagen über die Wirkungsweise von Rechtsstrafen ableiten lassen.
Homans bietet eine lernpsychologische Erklärung dafür an, dass die Strafe ein so unbefriedigendes Mittel der Verhaltenskontrolle ist (1972 S. 22 f.). Die Bestrafung einer bisher belohnten Aktivität führt in Tierversuchen nur zu einem kurzlebigen Intensitätsabfall. Homans meint, das sei kaum überraschend, da ein Tier in seiner natürlichen Umgebung kaum überleben könne, wenn gelegentliche Strafen es davon abschreckten, sonst lohnende Aktivitäten weiter zu verfolgen. Wird die Bestrafung aufgehoben, kehrt die Aktivität schnell wieder zu ihrer ursprünglichen Emissionsrate zurück. Nachhaltig wirkt nur der Mechanismus der Auslöschung, der einsetzt, wenn die Belohnung einer Aktivität dauerhaft ausbleibt. Hilfreich ist dabei die Belohnung zur Verstärkung einer alternativen (erwünschten) Aktivität:
»Wenn ein Kind schreit, um Aufmerksamkeit zu erregen, sollten wir darauf achten, dass es keine erhält, obwohl wir dabei bestimmte Risiken eingehen. Oder wir sollten eine alternative Aktivität belohnen; wir sollten es dafür belohnen, dass es nicht schreit, anstatt es dafür zu bestrafen, dass es schreit.« (1972 S. 23)
Homans ist jedoch realistisch genug, um anzumerken, dass Kontrolle auch in solchen Fällen notwendig sein kann, in denen das einzig verfügbare Kontrollmittel die an sich unbefriedigende Strafe ist. Er schränkt nur ein, dieses könne seltener der Fall sein, als oft angenommen werde. Unbefriedigend ist die Strafe aber nicht nur deshalb, weil der Lerneffekt gering ist, sondern weil der Tausch von Strafen auch zur Instabilität einer Beziehung führt. Während der Tausch von Belohnungen eher zur Folge hat, dass die Interaktion fortgesetzt wird, führt die Strafe leicht zum Rückzug des Betroffenen aus der sozialen Beziehung (1972 S. 49).
III. Die Austauschtheorie sozialen Handelns
Literatur: Peter M. Blau, Exchange and Power in Social Life, 1962; Georg Elwert, Gabe, Reziprozität und Warentausch. Überlegungen zu einigen Ausdrücken und Begriffen, in: Eberhard Berg u.a. (Hg.), Ethnologie im Widerstreit, 1991, 159-177; Alvin W. Gouldner, The Norm of Reciprocity, ASR 25, 1960, 161-178, Deutsche Übersetzung in ders., Reziprozität und Autonomie. Ausgewählte Aufsätze, 1984, 79-117; ders., Reziprozität und Autonomie in der funktionalen Theorie, in: Hartmann, Moderne amerikanische Soziologie, 1967, 293-309; Anthony Heath, The Principle of Exchange as a Basis for the Study of Law, in: Adam Podgorecki/Christopher J. Whelan, Sociological Approaches to Law, 1981, 131 ff.; Frank Hillebrandt, Praktiken des Tauschens. Zur Soziologie symbolischer Formen der Reziprozität, 2009; Richard Hyland, Gifts. A Study in Comparative Law, Oxford 2009 (rechtsvergleichende Untersuchung, die im ersten Kapitel ausführlich auf die historischen, sozialen, anthropologischen und wirtschaftlichen Hintergründe der Schenkung eingeht); Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, 1962 (vielfach nachgedruckt); Klaus F. Röhl, Über außervertragliche Voraussetzungen des Vertrages, in: FS Schelsky, 1978, 435-480; Marshall d. Sahlins, Zur Soziologie des primitiven Tauschs, Berliner Journal für Soziologie, 1999, 149-178; Christian Stegbauer, Reziprozität, Einführung in soziale Formen der Gegenseitigkeit, 2. Aufl. 2011; Richard Thurnwald, Werden, Wandel und Gestaltung des Rechtes im Lichte der Völkerforschung, 1934; ders., Gegenseitigkeit im Aufbau und Funktionieren der Gesellungen und deren Institutionen, Bd. 2, 1957 [1936], 82-103.
Die Austauschtheorie, wie sie von Homans konzipiert worden ist, interpretiert alles soziale Handeln als Austausch von positiven und negativen Reizen, von Belohnungen und Strafen. Angenommen, zwei Studenten arbeiten im Seminar an einer Hausaufgabe. Der eine, der hier Ego genannt wird, tut sich mit der Arbeit schwer. Er sieht und hört, dass der andere, Alter, rasch vorankommt, und bittet ihn um Hilfe, die dieser auch gewährt. Als Gegenleistung erhält Alter von Ego Dank und Bewunderung. Sie tauschen also Hilfe gegen soziale Anerkennung. Tatsache ist, dass solche Anerkennung in der Regel von Menschen als Belohnung empfunden wird und damit als Verstärkung wirkt. Damit hat sich die Wahrscheinlichkeit verstärkt, dass Ego und Alter sich künftig in ähnlichen Situationen ähnlich verhalten werden. Die zunächst unbewusst sich vollziehenden Lernvorgänge werden überformt durch das denkende Bewusstsein, das Gewinn- und Verlustchancen antizipiert und über eine Projektion der Vergangenheit in die Zukunft auf Handlungen als Mittel zum Zweck reflektiert.
In der Zweierbeziehung (Dyade) dient jeder dem anderen zugleich als Mittel zum Zweck. Wünscht sich Ego von Alter belohnende Reaktionen, so muss er diese durch Aktivitäten auslösen, die für Alter einen Wert besitzen. Ist der Tausch einmal gelungen, bemühen sich beide, den Austausch zu sichern und auf Dauer zu stellen. Beide hegen Vermutungen über das Verhalten des anderen, und wenn diese Vermutungen wechselseitig verstanden werden, sind sie zu komplementären Erwartungen geworden. Haben sich die Vermutungen über das künftige Verhalten Alters eine gewisse Zeit bewährt, so werden aus den Vermutungen Zumutungen; die Prognose wird zur Norm.
Komplementarität der Erwartungen bezeichnet zunächst nur den Umstand, dass ein von Ego gegen Alter erhobener Anspruch von Alter als Pflicht gegenüber Ego wahrgenommen wird. Davon unterscheidet sich der komplexere Sachverhalt, dass einem Recht des Ego gegen Alter auch eine Pflicht von Ego gegen Alter entspricht und umgekehrt. In diesem Falle ist von Reziprozität die Rede.
Soweit handelt es sich bloß um eine modellhafte Rekonstruktion. Unmittelbar mit solcher Modellbildung arbeiten Spieltheorie und ökonomische Analyse (des Rechts). Die Ökonomische Analyse des Rechts (ÖAR) und von Ökonomen entworfene spieltheoretische Experimente wollen mit Modellkonstruktionen aufzeigen, wie Menschen sich strategisch verhalten müssten, um ihren Gewinn zu optimieren und wie sie in der Praxis davon abweichen (u. § 28). Sie stellen dabei zu ihrer Überraschung fest, dass sich Menschen nicht stets strategisch verhalten, sondern oft von scheinbar irrationalen Gefühlen oder Annahmen leiten lassen. Ohne Psychologie und Soziologie bleiben ihre Modelle daher unbrauchbar.
Die soziologische Analyse kann den Blick zunächst auf einzelne, scheinbar unverbundene und in sich selbst ruhende Tauschakte richten. Insoweit spricht man von Äquivalententausch. Im Gegensatz dazu steht der sogenannte Gabentausch, bei dem Leistung anscheinend ohne Rücksicht auf eine bestimmte Gegenleistung gegeben wird. Man streitet darüber, ob Gabentausch und Äquivalententausch letztlich nur unterschiedliche Ausprägungen der Reziprozitätsphänomens sind. Diese Frage wird sogleich unter V. und VI. positiv beantwortet.
Es liegt auf der Hand, dass sich viele Tauschakte juristisch als Vertrag darstellen. Darauf ist zurückzukommen, wenn in § 64 der Vertrag als Institution behandelt wird. ist. Die Austauschtheorie reicht jedoch viel weiter. Sie versucht, jedenfalls ansatzweise so unterschiedliche Phänomene wie die Sozialversicherung oder das Geschlechterverhältnis zu erklären. Es liegt nahe, etwa auch Vandalismus mit Hilfe der Austauschtheorie zu erklären, nämlich mit der Annahme, dass die Täter Ausgleich suchen, weil sie sich irgendwie zu kurz gekommen fühlen.
IV. Von der Dyade zur Gesellschaft
Gesellschaft war längst vorhanden, bevor der erste Soziologe mit seinen Beobachtungen begann. Alle historischen oder aktuellen Beispiele für Tauschprozesse bilden nicht den Anfang, sondern sind Anwendungsfälle längst eingelebter Prozesse, in denen dem Tausch jeweils schon eine Vorverständigung über die Gegenseitigkeit des Vorgangs vorausgeht. Dennoch sind Modelle und Beispiele nicht ohne Erklärungswert, ist doch diese Vorverständigung nur das Ergebnis eines Lernvorgangs, in dem belohnte Handlungen wiederholt und nicht belohnte vergessen werden. Dieser Lernvorgang ist nie abgeschlossen. In jedem neuen Handlungsvollzug werden Gratifikationen oder ihr Ausbleiben von Individuen aktuell erlebt und Handlungsmuster dadurch verstärkt oder abgeschwächt.
1. Von der Zweierbeziehung zur Institution
Das dyadische Austauschmodell lässt sich so erweitern, dass die Entstehung sozialer Ordnung sichtbar wird. Der Tausch überbrückt die Anfangsphase eines Systems, bis sich Normen und Rollen herausgebildet haben. Innerhalb der Dyade selbst verfestigt sich der Tausch durch zeitliche Erstreckung, Variation der Tauschgegenstände und Habitualisierung bestimmter Tauschformen. Sie reichen von einem punktuellen Austausch – modernes Beispiel wäre Kauf an der Tankstelle – bis zum unbefristeten und auch sachlich unspezifizierten Dauertausch wie in der Ehe. Über die Zweierbeziehung hinaus kommt es zum Wechsel der Tauschpartner – da wäre die Ehe ein schlechtes Beispiel – und der Nachahmung bestimmter Tauschformen durch andere Paare.
Bahnbrechend war der »Essai sur le don« (1923), in dem Marcel Mauss die Bedeutung des Gegenseitigkeitsprinzips als einer allgemeinen anthropologischen Gesetzmäßigkeit herausstellte. Es handelt sich um eine Sekundäranalyse ethnographischer Studien, in der Mauss an einer Fülle von Material die verschiedenen Erscheinungsformen und Formulierungen des Prinzips der Gegenseitigkeit illustriert. Er beschreibt, wie selbst bei anscheinend altruistischen Leistungen noch die Gegenseitigkeit durchschlägt, und er zeigt, dass nicht allein »unser Kauf- und Verkaufssystem auf äußert wirksame Weise durch das der Geschenke und Gegengeschenke« ersetzt wird, sondern eine Vermischung von Personen und Dingen stattfindet: »In den Wirtschafts- und Rechtsordnungen, die den unseren vorausgegangen sind, begegnet man fast niemals dem einfachen Austausch von Gütern, Reichtümern und Produkten im Rahmen eines zwischen Individuen abgeschlossenen Handels. Zunächst einmal sind es nicht Individuen, sondern Kollektive, die sich gegenseitig verpflichten, die austauschen und kontrahieren; die am Vertrag beteiligten Personen sind moralische Personen: Clans, Stämme, Familien, die einander gegenübertreten, seis als Gruppen auf dem Terrain selbst, seis durch die Vermittlung ihrer Häuptlinge, oder auch auf beide Weisen zugleich. Zum anderen sind das, was ausgetauscht wird, nicht ausschließlich Güter und Reichtümer, bewegliche und unbewegliche Habe, wirtschaftliche nützliche Dinge. Es sind vor allem Höflichkeiten, Festessen, Rituale, Militärdienste, Frauen, Kinder, Tänze, Feste, Märkte, bei denen der Handel nur ein Moment und der Umlauf der Reichtümer nur eine Seite eines weit allgemeineren und weit beständigeren Vertrags ist. Schließlich vollziehen sich diese Leistungen und Gegenleistungen in einer eher freiwilligen Form, durch Geschenke, Gaben, obwohl sie im Grund streng obligatorisch sind, bei Strafe des privaten und öffentlichen Krieges.« (1923, 21 f.)
Der Ethnologe Richard Thurnwald, der selbst bei Bergstämmen im Inneren Neu-Guineas, die noch nie von Europäern besucht worden waren, Feldforschung betrieben hatte, meinte, dass das Reziprozitätsprinzip in allen menschlichen Gesellschaften spontan verstanden werde. Es sei so grundlegend, dass es für den Forscher, der dieses Prinzip nicht verstehe, lebensgefährlich wäre, einen primitiven Stamm zu besuchen. In Ehe und Familie vermuten Thurnwald und viele andere die älteste Form dauerhafter Gesellung. Zwar fordert allein die wechselseitige Befriedigung der Sexualität noch kein dauerndes Zusammenleben. Aber wechselseitige Fürsorge und eine biologisch determinierte Arbeitsteilung begründen die Stabilität der Paarbildung und schließlich der Familie. Der Austausch insbesondere materieller Güter schafft Kontakte über die Familie hinaus. Innerhalb und außerhalb der Familie erweitert sich die Dyade über eine Art Ringtausch zur Kleingruppe:
»Der Mann A, der (etwa unter den Eskimos) heute einen erbeuteten Seehund nach Hause bringt, gibt an den B und den C je ein Stück ab, nicht weil ihnen allen der Seehund, den A erbeutet hat, gemeinsam gehört, sondern weil B gestern dem A ein Stück von dem durch ihn erlegten Seehund zuteilte, und weil A darauf rechnet, dass C morgen auf die Jagd geht und dann bei der Verteilung der Beute auch seinen Teil zugewiesen erhält. Darum ist es der Stolz eines Mannes, reiche Beute heimzubringen. Denn er verpflichtet sich mit großen Anteilen, die er zu vergeben imstande ist, seine Genossen. Sein Ansehen wächst.«
Malinowski ging noch weiter und erhob die Reziprozität zum Kennzeichen primitiven Rechts.[6] Ihre »bindenden Kräfte« fand er »in der Verkettung der Verpflichtungen, in der Tatsache, daß sie innerhalb einer Kette gegenseitiger Verbindlichkeiten von Geben und Empfangen liegen, die sich über lange Zeitläufe erstreckt und einen weiten Aspekt von Interessen und Tätigkeiten umfaßt.«
Der Ethnologe Claude Lévi-Strauss, der das Reziprozitätsprinzip für die Ethnologie am Beispiel des Frauentausches untersucht und mit der Gravitationstheorie in der Astronomie verglichen hat, spricht von der Situation des generalisierten Austausches.[7] Lévi-Strauss hat in seinem Werk »Les structures élémentaires de la parenté« dargelegt, dass der geregelte Austausch von Frauen zwischen exogamen Gruppen den entscheidenden Übergang von einem Naturzustand zum Kulturzustand darstellt und damit auch den Beginn des Rechts bildet. Die Kehrseite dieser Regel ist das Inzestverbot innerhalb der eigenen exogamen Gruppe. Sie ist viel weniger das Verbot, die eigene Mutter, Schwester, oder Tochter zu heiraten als vielmehr Gebot, Schwester oder Tochter anderen zu geben.
Wenn A die Bedürfnisse von B befriedigt und B diejenigen von C, so kann die Situation stabiler sein als die eines nur auf A und B beschränkten Austausches. Der amerikanische Soziologe Gouldner verallgemeinert diesen Gedanken weiter zu der Feststellung, »dass in gewissen Situationen Ego faktisch nicht deswegen auf die Erwartungen von Alter eingeht, weil dieser konforme Handlungen mit Gegenleistungen oder Belohnungen beantwortet, sondern weil das Verhalten von Ego durch einen dritten Rollenspieler erwartet und belohnt wird. Kurz, auch die Intervention ›dritter Strukturen‹, die eine sogenannte ›Polizeifunktion‹ ausüben, kann das System erhalten und gegen Schwächen in der funktionalen Reziprozität schützen«.
Die Figur des »Dritten« ist durch Georg Simmel zu einem Klassiker der Soziologie geworden. (Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1908, Kapitel über »Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe« (S. 32-100). Dazu Gesa Lindemann, Die Emergenzfunktion des Dritten – ihre Bedeutung für die Analyse der Ordnung einer funktional differenzierten Gesellschaft, Zeitschrift für Soziologie 39, 2010, 493-511. Wir behandeln den »Dritten« vor allem § 82 in im Zusammenhang mit der Konfliktregelung.
Während in einfacheren Systemen die Polizeifunktion zusammen mit anderen Funktionen wahrgenommen wird und der Dritte auch selbst in die Kette der Gegenseitigkeiten involviert ist, haben komplexere Systeme für die dritte Partei besondere Rollen ausgeprägt, die den Rollenspielern auch eine Belohnung sichern, die unabhängig ist von dem zu überwachenden Tauschgeschäft. Mit dem Eintritt des Dritten tritt an die Stelle der Selbststeuerung durch Gegenseitigkeit die Institution.
Viele Soziologen geben sich mit solchen modellhaften Rekonstruktionen nicht zufrieden. Sie konfrontieren den »Gabentausch« mit dem Äquivalententausch. Der Gabentausch erscheint ihnen, wie bei Mauss, als ein totales gesellschaftliches Phänomen. Gabe und Gegengabe sind durch ein Zeitintervall getrennt. Es besteht ein impliziter Zwang, Geschenke anzunehmen und sie zu erwidern. Dem Austausch wird der ökonomische Gehalt weitgehend abgesprochen. An seine Stelle tritt Dankbarkeit und Treue (Simmel). Aus dem Unterschied von Gabentausch und Äquivalententausch folgt die Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft. Oder kritisch gewendet: Die Marktgesellschaft ermordet die Gabengesellschaft.
Aber die Dichotomie von Markttausch und Gabentausch ist verfehlt (Hillebrandt 2009). Nicht ohne Grund habe ich die Darstellung mit der Wiedergabe lernpsychologischer Beobachtungen begonnen. Die Experimente der Psychologen belegen immer wieder, dass Reziprozität ein fest verankerter psychischer Mechanismus ist, der allerdings eine große Variationsbreite aufweist. Sie zeigt sich in unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen, die wohl davon abhängig sind, was die Beteiligten an Erwartungen im Laufe ihrer Sozialisation erlernt haben und was sie an eigenen Erfahrungen mitbringen (§ 27). Anscheinend ist die Tendenz zur Vergeltung von negativen Beiträgen sogar noch stärker als diejenige zur Belohnung von Wohltaten.
In der Realität ist jeder Tausch in individuelle Erfahrungen und soziale Beziehungen eingebettet. Man kann versuchen, die sozialen Beziehungen als ein Gewebe von Tauschakten zu analysieren.
2. Das Problem der Vorleistung
Ein Hauptproblem der Reziprozität ergibt sich daraus, dass Leistungen nicht immer Zug um Zug erwidert werden können. Menschen haben viele Techniken erfunden, um mit diesem Problem fertig zu werden, etwa den planmäßigen Aufbau von Vertrauen oder verschiedene Formen der Sicherheitsleistungen. Als eine solche Technik hebt Thurnwald die Stundungssymbole hervor, die als Gedächtnishilfe und Verpflichtungszeichen die Kette von Gegenseitigkeiten verstärken. Wird das Verpflichtungszeichen zugleich an dritte Zeugen oder an die Gruppenöffentlichkeit adressiert, so wird daraus das Zeremoniell, das Schelsky[8] zu den ursprünglichsten Kennzeichen des Rechts rechnet und in dem er die Wurzel der Formalität des Rechts vermutet. Heute spricht man vom Ritual (u. S. § 44 I). Sicherheitsleistungen können Vertrauen ergänzen oder ersetzen. In primitiven Gesellschaften waren Personal- und Realsicherheiten weit verbreitet (Ehrlich 1913, 85 ff.; Llewellyn, What Price Contract, 714). Das moderne Recht fungiert als Ersatz für individuelles Vertrauen und für Verpfändung und Vergeiselung. Der Verkäufer kann die Ware liefern, ohne Vorkasse zu fordern oder auch nur Zug- um-Zug-Leistung, weil ihm notfalls das Recht zur Seite steht. Doch auch in der modernen Gesellschaft ist individuell begründetes Vertrauen nicht überflüssig. Es fundiert fortdauernde Geschäftsbeziehungen und ist, aufgebaut durch Bewertungen früherer Abschlüsse selbst bei zunächst anonymen Verkaufsplattformen wie EBay hilfreich. Aber auch Sicherheiten sind nicht ganz überflüssig. Die Wirtschaft verlässt sich bei wichtigeren Geschäften und vor allem bei solchen, die auf Dauer angelegt sind, nicht allein auf das Recht – und das Recht wäre wohl auch überlastet –, sondern verwendet zeitgemäße Formen des hostage-taking – Kautionen, Eintrittsgelder u. a. mehr – zur Stabilisierung der Austauschbeziehung. Einige Anhänger der Theorie vom relationalen Vertrag gehen soweit anzunehmen, dass auch unter modernen Verhältnissen mindestens in der Wirtschaft eine Selbstregulierung von Vertragsverhältnissen (private government) möglich sei und dass das Recht sie gewähren lassen solle; dazu näher bei der Behandlung des Vertrages als Institution (§ 64).
3. Machtbildung und Organisation
Literatur: Hans Haferkamp, Soziologie der Herrschaft, 1983; Popitz, Prozesse der Machtbildung, 1983; Heinrich Popitz, Phänomene der Macht, 2. Aufl., 1992. Vgl. auch die bei § 31 angeführte Literatur.
Die Austauschtheorie nimmt schließlich auch für sich in Anspruch, Prozesse der Machtbildung und der Organisation zu erklären. Im genetischen Modell Thurnwalds wird dieser Entwicklungsschritt erläutert an dem Zusammentreffen von Hirten und Feldbauern, das eine Modifikation der Gegenseitigkeit durch Schichtung der Gesellschaft nach sich zieht:
»Hirten und Feldbauern stören einander zunächst nicht, weil jede Lebensführungsgruppe anderes Gelände benötigt. Die Hirten suchen eine Weide nach der anderen auf, die Feldbauern sind an für ihre Anbaupflanzen günstigen Bodenstellen von gewöhnlich geringer Ausdehnung interessiert und bleiben verhältnismäßig seßhaft. Aber das Getreide der Feldbauern und mitunter deren Baukünste oder andere Fertigkeiten locken die Hirten, Milch und Fleisch der Hirten werden von den Feldbauern geschätzt. Leistung wird gegen Leistung, Objekt gegen Objekt abgewogen. Jeder Teil geht von der Bewertung aus, die seiner Lebensführung und Versorgungsart entspricht. In erster Linie kann relativer Überschuß des einen Partners gegen den des anderen vergolten werden. Während hier eine ›Verzahnung‹ Platz greift, setzt ein anderer Prozeß ein, der oft desintegrierend auf die beteiligten Sippen wirkt. Die erwähnten Verzahnungsvorgänge vollziehen sich nämlich unter Einzelpersonen (oder Familien). Die Gier solch Einzelner nach Gegenleistung ist geeignet, sie ihrer Gruppe zu entfremden, aus ihrem Sippenverband loszureißen, zu individualisieren. Die Rivalität unter den Hirten, die gewöhnlich die Initiative ergreifen, lockert sich daher, während die Verzahnung mit den Feldbauern wächst. Damit geht eine beiderseitige zivilisatorische Anreicherung Hand in Hand. Durch die Rivalitäten der verselbständigten Hirtenfamilien vergrößert sich die Kampfesgefahr unter den neu verzahnten Einheiten. Dadurch aber erlangen die losgelösten Hirtenfamilien die politische Führung, die den Feldbauern gegenüber als Schutz betätigt wird. Die soziale Leistung des Schutzes wird von den Feldbauern durch wirtschaftliche Hilfe in Form von Getreide entgolten, zumal ihre Felder sonst vielleicht verwüstet worden wären.«
Das ausführliche Zitat soll den von Thurnwald immer wieder betonten Rückgriff auf individuelles Handeln illustrieren. Institutionen sind für ihn auf Dauer gestellte Systeme von Leistungserwiderungen. Für deren Stabilität und Wandel soll es allein darauf ankommen, »was sich unter den Einzelmenschen abspielt, wie diese die Gegenseitigkeit empfinden.«
Der amerikanische Soziologe Peter M. Blau hat den Prozess der Machtbildung modellhaft aus der Dynamik des Austauschprozesses erklärt. Kann Alter die Angebote Egos anders nicht erwidern, wird der sich verpflichtet fühlen und seinen Wünschen und Befehlen folgen. Mit Alters Hilfe kann Ego seine Überlegenheit vergrößern und sie auch Dritten gegenüber geltend machen. Wer andere großzügig mit Gütern und Diensten versorgt, schafft eine Atmosphäre der Bereitschaft, auf die er zurückgreifen kann, wenn sein Interesse es fordert. Damit hat sich aber die Art der Gegenseitigkeit entscheidend gewandelt. Denn anfänglich entscheidet im sozialen Austausch der Empfänger einer Leistung über Art und Zeit der Gegengabe. Haben aber Vorleistungen der einen Seite Verbindlichkeiten auf der anderen Seite angehäuft, die diese nur noch durch Fügsamkeit ausgleichen kann, so geht die Entscheidung über Art und Zeit der Rückzahlung vom Schuldner auf den Gläubiger über. Im weiteren Verlauf wird die Statusdifferenzierung, die zunächst aus einseitiger Freigiebigkeit resultierte, zu einseitiger Abhängigkeit von demjenigen, der allein die Bedürfnisse befriedigen kann. Die Tauschbeziehung zwischen Gleichen verwandelt sich in eine Machtbeziehung zwischen Ungleichen.
Wer über Macht verfügt, kann die Bedingungen des Tausches zu seinen Gunsten verschieben. Daraus resultieren Störungen der Reziprozität, die die Stabilität der Austauschbeziehung gefährden. Allerdings müssen Macht und Herrschaft die Tauschgerechtigkeit nicht zwangsläufig stören. Herrschaft kann durch eine Koordinationsleistung die Kooperation der Gruppe so verbessern, dass die Mitglieder für ihren Gehorsam voll belohnt werden. Aber es bleibt natürlich die Möglichkeit und damit die Gefahr, dass Macht genutzt wird, um die Tauschbedingungen zu diktieren.
Bei fehlender Reziprozität müsste sich eigentlich ein schnelles Ende der sozialen Beziehung vorhersagen lassen. Tatsächlich können ausbeuterische Tauschverhältnisse sehr stabil sein, wenn Strukturen vorhanden sind, die die fehlende Tauschgerechtigkeit kompensieren. Sie können nicht nur vorübergehend ein Verhalten verhindern, das die fünfte These von Homans voraussagt: Ärger mit der Folge von Konflikt. Voraussetzung dauerhafter Ausbeutung sind Normen oder Werthaltungen, die eine dauerhafte Reduzierung des Anspruchsniveaus der unterlegenen Tauschpartner bewirken (Bedürfnisregression). Erforderlich sind ferner andere Normen, die die Herrschaft und das erhöhte Anspruchsniveau der überlegenen Tauschpartner legitimieren. Unerlässlich bleibt aber drittens eine auf dieser Basis verzerrter Wertmaßstäbe gegründete minimale Reziprozität.
Macht und Herrschaft führen so zu einer Art sekundären Austausches: Die Art und Weise, in der Forderungen mit Macht durchgesetzt werden, wird von den Betroffenen nach der sozialen Norm der Fairness beurteilt. Die faire Ausübung der Macht durch einen Herrscher oder eine herrschende Gruppe ruft soziale Billigung hervor, während unfairer Machtgebrauch als Ausbeutung oder Unterdrückung erfahren wird und soziale Missbilligung provoziert. Fairness wird selbst zum Tauschwert. So kommt ein Austausch in Gang, bei dem fairer Machtgebrauch Legitimation und Organisation nach sich zieht, während Machtmissbrauch zu Opposition und sozialem Wandel führt.
V. Vom Geschenketausch zum Vertrag
Der Geschenketausch in den sogenannten primitiven Gesellschaften ist längst kein spontaner Tausch mehr, sondern eine in hohem Maße institutionalisierte Form der Reziprozität, die streng normierte Pflichten des Gebens, des Nehmens und Erwiderns kennt. Von der modernen Institution des Vertrages unterscheidet er sich jedoch deutlich durch die Art und Weise, in der diese Verpflichtungen die Gesamtheit der Beziehungen zwischen einzelnen Personen, Familien und größeren Gruppen ergreifen. Geben bewirkt eine unspezifizierte, persönliche Dankesschuld. Ego, der sich Alter verpflichten möchte, wird ihm daher eine Gabe aufnötigen, die dieser nicht ablehnen kann, da die Ablehnung einer Kriegserklärung gleichkommt. Wenn Alter das Geschenk annimmt und sich angemessen revanchiert, wird er damit zum Freund, der Austausch kann laufend fortgesetzt werden. Wer sich nicht revanchieren kann, zeigt damit seine Unterlegenheit und gehorcht künftig den Befehlen des Gebers. Das nicht endende Hin und Her von Geschenken, die im Voraus gegenständlich nicht bestimmt sind, erfasst die ganze Breite der sozialen Beziehungen. Es ist das ganze Jahr über Weihnachten (Homans 1972 S. 272). In einfachen Gesellschaften hat der Tauschakt also mehrfache (multifunktionale) Bedeutung. Er dient dem Aufbau und der Pflege einer dauerhaften sozialen Beziehung. Das hindert die Beteiligten nicht, den Wert von Leistung und Gegenleistung stets aufmerksam zu vergleichen. Aber das Verhalten der Tauschpartner wird primär bestimmt durch ihr Bestreben, eine gesellschaftliche Position zu behaupten, das eigene Prestige zu erhöhen, sich andere Menschen zu verpflichten und die Kette der Gegenseitigkeiten nicht abreißen zu lassen.
In der modernen Gesellschaft finden wir Reste einer derart universellen Reziprozität nur noch in dem Bereich der Familie und der privaten Geselligkeit.[9] Die ökonomischen Beziehungen haben sich weitgehend abgelöst und im Markt verselbständigt. Es macht kaum noch einen Unterschied, ob ich meine Schokolade von einem freundlichen Verkäufer oder aus dem Automaten beziehe. Auch wertvollere Güter kann man nicht nur im Versandhaus oder an der Börse völlig unpersönlich erwerben. Mit Hilfe des Vertrages werden Rechte und Pflichten genau spezifiziert. Für Dankbarkeit bleibt kein Raum. Beim Markttausch kommen Ego und Alter nicht mehr als Verwandte, Nachbarn oder Stammesgenossen zusammen, sondern als Besitzer materieller Tauschgüter. Das Interesse konzentriert sich ganz auf die Ware des Kontrahenten. Persönliche Faktoren treten zurück, und eine dauerhafte soziale Beziehung zwischen den Parteien wäre eher zufällig. Beide verhandeln, bis sich jeder aus dem Tauschgeschäft einen Vorteil verspricht. Zwar richtet sich die individuelle Bewertung dieses Vorteils auch nach dem sozialen Status, den Ressourcen und der Macht der Beteiligten. All das geht in das Tauschverhalten aber nur über den Preis ein. Der Markttausch ist daher mit den Worten Max Webers
»die unpersönlichste praktische Lebensbeziehung, in welche Menschen miteinander treten können. Wo der Markt seiner Eigengesetzlichkeit überlassen ist, kennt er nur Ansehen der Sache, kein Ansehen der Person, keine Brüderlichkeits- und Pietätspflichten, keine urwüchsigen, von den persönlichen Gemeinschaften getragenen menschlichen Beziehungen.« (WuG 382 f.)
Die rechtliche Form des Markttausches ist der moderne Konsensualvertrag. Er beschränkt die Reziprozität auf die spezifizierte Leistung und Gegenleistung. Wenn der Verkäufer nicht liefert, so kann der Käufer von Rechts wegen nur den Kaufpreis zurückbehalten. Er hat kein Recht, den Verkäufer zu beschimpfen, ihn bei anderen anzuschwärzen oder die Verwandtschaft des Verkäufers zu mobilisieren. Dieser Vertrag ist eine höchst voraussetzungsvolle Kunstfigur, die erst einer späten Entwicklungsstufe der Gesellschaft angehört. In wenig differenzierten Gesellschaften entwickeln sich die Tauschvorgänge in Dauerkontakten ab. Aus der Komplexität der Beziehungen erwachsen vielfältige Möglichkeiten zur Beseitigung von Störungen der Reziprozität. Fehlverhalten kann durch späteres Wohlverhalten ausgeglichen werden, und Übererfüllung verschafft Kredit. Solche Korrekturmöglichkeiten fehlen, wenn in differenzierten Gesellschaften Leistungsbeziehungen zwischen unbekannten Personen geknüpft werden. Dann kann die Fehlerkontrolle nicht länger unmittelbar empfundener und handlungswirksamer Reziprozität überlassen bleiben, sondern es müssen (rechts-)technische Vorkehrungen getroffen werden, die auf den einmaligen Austausch zugeschnitten sind. Das leisten die seit Durkheim so genannten außervertraglichen Grundlagen des Vertrages, nämliche soziale, insbesondere rechtliche Normen, die den Vertrag erzwingbar machen und für den Fall von Leistungs- oder Abwicklungsstörungen aller Art Vorsorge treffen.
Die technische und soziale Entwicklung hat allerdings in den letzten Jahrzehnten eine Zwischenschicht eingezogen, die das Recht entlastet. Den Anfang machten Verbraucher, die sich organisierten, um das Angebot des Marktes zu testen und zu kritisieren. In Deutschland wurden sie dabei, vor allem durch die Gründung der Stiftung Warentest, staatlich gefördert. Sehr schnell haben die Medien Waren- und Dienstleistungstest als Verkaufsprodukt entdeckt und für entsprechende Angebote gesorgt. Seither wird der organisierte Waren- und Dienstleistungstest durch Bewertungsplattformen aller Art im Internet ergänzt oder gar abgelöst.
Rechtsgeschichtlich ist der Konsensualvertrag, bei dem sich die Verpflichtung schon aus dem Versprechen und nicht erst aus einer Leistung herleitet, verhältnismäßig jung. Das hochkultivierte römische Recht gab auf die sog. nuda pactio grundsätzlich keine Klagemöglichkeit, sondern forderte entweder den Vollzug einer Leistung (Realvertrag) oder ein in besonderen Formen abgegebenes Versprechen (Stipulationen, Literalkontrakte) zur Begründung einer Klage. Nur im Rahmen fester Typen wurden Konsensualkontrakte zugelassen, nämlich als Kauf, Miete, Gesellschaft und Mandat. Erst in nachklassischer Zeit erhielten auch die nuda pacta vom Prätor Klagschutz. In der Jurisprudenz hat erst Hugo Grotius dem Vertragsrecht endgültig zum Durchbruch verholfen. Er vollendete die Abkehr von der kasuistischen und typisierenden Rechtsanschauung der Antike, indem er nunmehr jede rechtsgeschäftliche Bindung aus der stoisch-christlich verstandenen Autonomie der Person herleitete. Von daher konnten sozialtypische Verpflichtungen nur noch soweit naturrechtlich anerkannt bleiben, als sie auf einem Selbstbindungsakt der Person zurückführten. Umgekehrt war nunmehr jeder autonome Akt geeignet, eine Rechtsbindung herbeizuführen[10]. Man darf allerdings annehmen, dass Grotius mit seiner Lehre vom Versprechen nur dogmatisch überformt hat, was längst Rechtswirklichkeit war. Kant wendete die Lehre von der Privatautonomie ins Weltliche. Dort konnte sie sich im 19. Jahrhundert mit den Lehren der Nationalökonomie verbinden und so zur ideologischen Grundlage des Vertragsrechts werden, und das durchaus nicht nur als Widerspiegelung, sondern zugleich als eine die Rechtswirklichkeit treibende und formierende Kraft. Das Ergebnis war das Institut der Vertragsfreiheit. Es hat einen irreführenden Namen, denn bemerkenswert ist daran nicht die Freiheit, Leistungsversprechungen zu machen, sondern die Möglichkeit, sich durch das bloße Wort zu binden.
Zwar hat man noch nach dem Inkrafttreten des BGB Darlehen und Schenkung als Realverträge gedeutet, als Verträge also, die erst durch einen einseitigen Vollzug wirksam werden. Aber das war nur survival, ein unfunktionales Überbleibsel. Eine ähnliche symbolhafte Funktion hat im anglo-amerikanischen Recht das Erfordernis der consideration. Grundsätzlich ist der moderne Vertrag aber unabhängig davon gültig, ob Leistung und Gegenleistung ausgewogen oder gerecht sind und ob der Austausch schon in Vollzug gesetzt worden ist. Im Vertragsrecht des BGB findet sich das Prinzip der Reziprozität nur noch im genetischen und funktionalen Synallagma des eigentlichen Austauschvertrages. Alle anderen Vertragstypen werden juristisch nicht als Austauschverträge eingeordnet. Die in den Lebensvorgängen dennoch vorhandene Reziprozität spiegelt sich juristisch nur in der Forderung nach einer causa, einem Rechtsgrund der Leistung, der vor der Rückforderung als ungerechtfertigte Bereicherung schützt.
VI. Vom Vertrauen zum Sozialkapital
Literatur: Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten, 1983, 183-198; Zuleta Mariana Ferrari, Trust in Legal Institutions: an Empirical Approach from a Social Capital Perspective, Oñati Socio-legal Series 6, 2016 = SSRN 2890155; Dorothea Jansen/Rainer Diaz-Bone, Netzwerke und soziales Kapital. Konzepte und Methoden zur Analyse struktureller Einbettung, in: Johannes Weyer (Hg.), Soziale Netzwerke, 2. Aufl. 2011, 74-108; Susanne Karstedt, Recht und soziales Kapital im Wohlfahrtsstaat, Soziale Probleme 8 , 1997, 103-137; Niklas Luhmann, Vertrauen, Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 4. Aufl. (Nachdr., Original 1968), Stuttgart 2009; Guido Möllering, Trust, Reason, Routine, Reflexivity, Amsterdam 2006; Robert D. Putnam, Bowling Alone: America’s Declining Social Capital, Journal of Democracy 6, 1995, 65-78; ders. Gesellschaft und Gemeinsinn, Sozialkapital im internationalen Vergleich, 2001 (Original: Bowling Alone, The Collapse and Revival of American Community, New York, NY 2001).
Wer nicht bloß seinen Gefühlen Ausdruck gibt, sondern handelt, um etwas zu erreichen, geht, meistens ganz unbewusst, von einer Prognose aus. Ist die Prognose positiv, führt sie also zu der Annahme, dass eine Handlung den erwünschten Verlauf oder Erfolg haben wird, so besteht Vertrauen. Vertrauen stützt sich auf Erfahrung. Immer wieder bestätigt sich, dass in der Vergangenheit beobachtete Kausalabläufe, etwa der Wechsel von Tag und Nacht oder Sommer und Winter, eine Prognose erlauben, die sinnvolles Handeln möglich macht. Aber man kann nicht alles selbst beobachten und übernimmt daher viel fremdes Erfahrungswissen, abhängig davon, ob man mit der Wissensquelle gute Erfahrungen gemacht hat oder ob sie von Menschen, mit denen man gute Erfahrungen gemacht hat, empfohlen wird.
Geht es nicht um die Natur, sondern um das Verhalten anderer Menschen, werden Prognosen schwieriger. Hier geht es um soziales Vertrauen, als um Vertrauen in die Prognostizierbarkeit des Verhaltens anderer Menschen. Auch insoweit sind Ausgangspunkt die eigenen Erfahrungen im Umgang mit anderen Menschen. Aber die eigenen Erfahrungen sind begrenzt. Thema des Rechts und der Soziologie ist deshalb die Frage, wie Vertrauen generalisiert wird. Auf der Handlungsebene bieten sich vor allem zwei Strategien an, man kann sich einer vertrauenswürdigen Gruppe anschließen oder sich die Obhut von Autoritäten begeben. Aus struktureller Sicht bilden Normen und Institutionen die Vertrauensbasis.
Sozialkapital ist das Vertrauen, dass jemand bei anderen genießt. Der Begriff stammt ist zwar nicht von Bourdieu, ist aber durch ihn prominent geworden.
»Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.« (Bourdieu S. 190 f. )
Der Begriff hat sich dann vor allem durch die Arbeiten von Putnam verbreitet. Putnam hat ihm einen anderen Akzent gegeben, indem er ihn mit der Zivilgesellschaft in Verbindung gebracht hat.
Soziales Kapital erwirbt man individuell durch Tauschgeschäfte aller Art, durch Gruppenzugehörigkeit oder aus Netzwerken. Zunächst ist soziales Kapital eine individuelle Ressource. Als solche ist es aber einerseits eine Voraussetzung für (erfolgreiche) staatliche Interventionen und ebenso eine Folge solcher Interventionen.«
VII. Das Reziprozitätsprinzip im modernen Recht
Literatur: Luhmann, Zur Funktion der subjektiven Rechte, JbRSoz 1, 1970, 321 ff.; ders., Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1983; Christian Stegbauer, Reziprozität, Einführung in soziale Formen der Gegenseitigkeit, 2. Aufl. 2013 [PDF]; Volker Böhme-Neßler, Reziprozität und Recht, Rechtstheorie 39, 2008, 521-556.
Es liegt nahe, von der psychologischen Gerechtigkeitsforschung zu behaupten, sie reproduziere mit ihren Methoden nur die Struktur der Gesellschaft unter Einschluss aller Ungerechtigkeit; sie trage daher allenfalls zur Legitimation bei und diene damit eher zur Rechtfertigung als zum Abbau von Ungerechtigkeit. Diese Kritik betrifft aber allenfalls bestimmte Verwendungsweisen dieser Forschungsrichtung. Es besteht ein verbreiteter Konsens darüber, dass die moderne Industriegesellschaft in Ost und West noch längst keine gerechte Gesellschaft ist. Uneinig ist man sich allerdings bei der Frage, wo genau diese Ungerechtigkeit zu suchen sei. Festzustehen scheint aber, dass solche Ungerechtigkeit nicht primär auf der Ebene alltäglicher Interaktion begegnet, sondern in den Makrostrukturen der Gesellschaft begründet ist. Die Sozialpsychologie beschäftigt sich unmittelbar nur mit dem Mikrobereich. Es ist denkbar, dass die dort gewonnenen Ergebnisse zu einer kritischen Perspektive auf den Makrobereich verhelfen. Tatsächlich legt die psychologische Gerechtigkeitsforschung eine kritische Einschätzung der modernen Rechtsentwicklung nahe.
Die Equity-Theorie geht davon aus, dass Menschen ständig für alle Beziehungen, in denen sie leben, Aufwendungen und Belohnungen miteinander vergleichen und je nach dem Ergebnis mit Zufriedenheit oder Ärger reagieren. Sie baut auf die Annahme, dass ein Bedürfnis nach Reziprozität eine wichtige sozial-psychologische Konstante darstellt, die allenthalben wirksam ist. Ein Kennzeichen der modernen Rechtsentwicklung liegt aber darin, dass konkretem, unmittelbarem Erleben zugängliche Reziprozität mehr und mehr verdrängt wird. Reziprozität war das Grundprinzip archaischen Rechts. Im modernen Recht ist davon wenig übrig geblieben. Während im Strafrecht immerhin noch als Genugtuung für die Unrechtstat angesehen wird, ist im deutschen Zivilrecht das materielle Äquivalenzprinzip grundsätzlich kein Rechtsprinzip ist. Für die Wirksamkeit eines Vertrages kommt es jedenfalls grundsätzlich nicht darauf an, ob Leistung und Gegenleistung sich entsprechen. Nur ausnahmsweise, etwa unter dem Gesichtspunkt des Wuchers, prüfen die Gerichte, ob ein Vertrag im Sinne des Beitragsprinzips gerecht ist.
Anders war es im römischen Recht. Es fragte allerdings nur zugunsten des Verkäufers nach der Vertragsgerechtigkeit. Wenn unter halbem Preis verkauft war, lag eine sogenannte laesio enormis vor. Nach dem Corpus Juris hatte der Verkäufer dann das Recht, den Kaufvertrag rückgängig zu machen, falls der Käufer nicht den vollen Wert nachzahlte. Bis heute nehmen der Code Civil (Art. 1674 ff.) und das österreichische AGBG (§ 1060) auf die laesio enormis Bezug, indem sie bei Verletzung über die Hälfte die Möglichkeit einer Vertragsanfechtung gewähren. Sehr viel weitergehend forderte die von Aristoteles zu Thomas von Aquin führende rechtsphilosophische Tradition die Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung: ne plus exigatur quam par est. Sie beherrschte das ältere gemeine Recht ebenso wie das Vernunftrecht bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts. Die Pandektenwissenschaft und anschließend das BGB brachten die Umkehr zu strenger Enthaltsamkeit im Hinblick auf die Frage des gerechten Preises (justum pretium). Erst unter dem Druck der Inflation nach dem 1. Weltkrieg kehrte die Rechtsprechung mit der Berücksichtigung des Wegfalls der (objektiven) Geschäftsgrundlage zum materiellen Äquivalenzprinzip zurück. Aufwertungsgesetze und Gesetze über richterliche Vertragshilfe waren weitere Schritte auf dem Wege zu einer materiellen Vertragsethik, mit der Lehre und Rechtsprechung inzwischen das Reziprozitätsprinzip teilweise wieder eingeholt haben. Ihr Augenmerk liegt vor allem auf einem gerechten Interessenausgleich der einzelnen Vertragsbedingungen. Die direkte Frage nach dem gerechten Preis bleibt, vom Extremfall des Wuchers (§§·138 BGB, 302a StGB) ausgespart. Man muss diese Lücke aber im Zusammenhang mit der Tatsache sehen, dass für viele lebensnotwendige Leistungen staatlich verordnete, kontrollierte oder subventionierte Preise gelten und dass sich das Arbeitsentgelt nach Kollektivvereinbarungen richtet.
Luhmann hat diese Charakteristik des modernen Rechts an der Figur des subjektiven Rechts aufgezeigt. Die klassische juristische Deutung des subjektiven Rechts als Quelle und Schutz der Privatautonomie oder rechtlich geschütztes Interesse hält er für unzureichend. Für maßgeblich hält er vielmehr die technische Funktion dieser Rechtsfigur. Sie gestattet es, den im primitiven Recht bestehenden Zwang, jede Leistung unmittelbar durch eine Gegenleistung zu erwidern, aufzulösen. Der Gläubiger kann seine Forderung abtreten an einen Dritten, der dem Schuldner nie etwas gegeben hat oder geben wird. Der Gesetzgeber kann die Steuern erhöhen und einzelne subjektive Rechte ohne Gegenleistung kreieren oder abschaffen. Der Ausgleich geschieht nur auf Umwegen. Damit, so meint Luhmann, habe sich das Recht den differenzierten sozialen Verhältnissen angepasst, in denen es nicht länger adäquat sei, die Probleme dort zu lösen, wo sie ihre Entstehungsursachen hätten. Seine Beispiele: Ein Professor, der sich überarbeitet, wird nicht in der Universität wiederhergestellt, sondern im Sanatorium. Den Bau von Freibädern bezahlen nicht diejenigen, die die Flüsse verunreinigen. Die Unfallopfer werden nicht in die Autofabriken gebracht. Die Atombombe wird nicht auf die Physiker geworfen. Die randalierende Jugend wird nicht von ihren Eltern und Lehrern niedergeknüppelt. Daher formuliert Luhmann (1970, 325):
»Das subjektive Recht ist das ungerechte Recht, das in sich selbst keinen Ausgleich hat.«
Er beurteilt diese Entwicklung als evolutionären Erfolg:
»Der Charakter des Rechts als Recht wird auch hier ohne Rücksicht auf die Gerechtigkeit vergeben. Diese Abstraktion macht das Rechtsinstitut unabhängig von typmäßig festliegenden reziproken Interessenkonstellationen, macht es vielfältiger anwendbar, abstrakter (nämlich unabhängig von der Fortdauer der Ausgleichslage) garantierbar und mit all dem kompatibel mit höherer Komplexität und Variabilität der Gesellschaft.« (S.328)
Luhmann will zwar auf Reziprozität nicht völlig verzichten:
»Die Kehrseite ist, dass die Motivation und die Ausbalancierung von Rechten und Pflichten nun auf Umwegen vermittelt, durch Systemstrukturen sichergestellt werden müssen.«
Doch hier hinkt die Entwicklung nach, so dass er fortfährt:
»– eine Aufgabe, die in der liberalen Konzeption übersehen und für die die analytischen und rechtstechnischen Instrumente nicht mit ausgebildet wurden.« (S. 328)
Luhmann übersieht freilich nicht, dass die Rechtsdogmatik sich seit Jahrzehnten auf einen Wiederabbau des subjektiven Rechts hin bewegt, nämlich auf eine Wiedereinbindung gegenläufiger Pflichten, Rücksichtnahmen, Güterabwägungen oder Wertbindungen. Wir erfahren sogar beiläufig, dass in der Rechtswissenschaft unseres Jahrhunderts Tendenzen am Werk seien, die sich wieder mit der Vertragsgerechtigkeit im Einzelfall befassen. Doch Luhmann deutet diesen Rückgriff auf die konkrete Reziprozität als bedauerliche Regression, die die Chance vergibt, »ein hohes Potential für Strukturveränderung und rationale Selbststeuerung der Gesellschaft« zu nutzen.
Anscheinend stößt die Ausbalancierung von Rechten und Pflichten durch abstraktere umweghaftere Strukturen, wie Luhmann sie sich vorstellt, an der Nahtstelle von Persönlichkeits- und Sozialsystemen auf einen Engpass. Reziprozität, die sich in den Intersystembeziehungen analytischer Teilsysteme abspielt, ist (wie dieser Satz) allenfalls noch für den reflektierenden Soziologen nachvollziehbar. Soziale Systeme haben aber Durchschnittsmenschen zur Umwelt, die konkrete Reziprozität erleben wollen. Es mag dahinstehen, ob es sich um eine anthropologische Konstante oder nur um eine relativ stabile sozio-kulturelle Einstellung handelt. Jedenfalls hat die Equity-Theorie die Existenz eines naiven Gerechtigkeitsempfindens glaubhaft gemacht, das sich vom sozialen System nur in Grenzen manipulieren lässt.
Es trifft sich, dass etwa gleichzeitig mit der von Luhmann diagnostizierten Verlagerung der Reziprozität in die Intersystembeziehungen jene kompensierenden Mechanismen zu versagen beginnen, die ein erhebliches Ungleichgewicht in den Tauschbeziehungen verdecken können. Gemeint sind die bedürfnisregulierenden und Ausbeutung legitimierenden Normen, die in einer Zeit soziologischer Aufklärung immer stärker erodieren. Die Leistungsgesellschaft produziert Leistungsverdrossenheit und Privatismus, weil sie ihren Mitgliedern nicht das Gefühl vermitteln kann, dass das, was als Leistung gilt, sich bezahlt macht. Diese Symptome geben ein ernstes Zeichen dafür, dass der Abbau konkreter Reziprozität in Richtung auf eine abstrakte Systemsteuerung überzogen worden ist. Nicht nur die ökonomischen Beziehungen der Person werden nach wie vor fast ausschließlich vom Reziprozitätsdenken beherrscht. Auch die Vorstellung von der Rechtsstrafe als Vergeltung negativer Beiträge ist so tief eingewurzelt[11], dass noch so viele gute Gründe sie nicht aus dem Strafrecht werden verbannen können.
Luhmann dagegen sieht in den Bemühungen der juristischen Dogmatik, die Gegenseitigkeit in den Vertrag, in das subjektive Recht und in die Institutionen zurückzuholen, »eine Rückkehr zu lokalem, kleinförmig-konkretem Ausgleich von Rechten und Pflichten und zu entsprechender Immobilisierung des Status quo«, die hinter der längst erreichten gesellschaftlichen Differenzierung zurückbleibt (S. 330). Natürlich besteht die Gefahr, dass das Unbehagen an der Modernität, die Sehnsucht nach der in der Gesellschaft verlorenen Gemeinschaft zu naiven und romantisierenden Regressionen führt. Aber es wäre kaum weniger realistisch, eine neue Sozialstruktur, die auf konkrete Reziprozität nicht verzichtet und dennoch komplexe Steuerungsfunktionen übernehmen kann, für unmöglich zu halten.
Die Rechtsentwicklung in der Bundesrepublik verläuft nur zögernd in Richtung auf eine rechtliche Garantie von Reziprozität in individuellen Austauschverträgen[12]. Grundsätzlich gilt noch immer das Dogma von der Nichtjustitiabilität des gerechten Preises. Der Gesetzgeber vermeidet es, unmittelbar in das Äquivalenzverhältnis von Austauschbeziehungen einzugreifen und bevorzugt Regelungen, die solche Äquivalenz indirekt durch den Schutz der Parität der vertragsschließenden Parteien gewährleisten sollen[13]. Dagegen sind die Gerichte eher bereit, im Sinne von actual restoration of equity zu handeln. Es ist eindrucksvoll zu beobachten, wie sie seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB-Gesetz) eine intensive Inhaltskontrolle der Vertragsbedingungen üben. Noch grundsätzlicher war in den letzten drei Jahren der Umschwung in der Rechtsprechung zur Nichtigkeit von Ratenkrediten an Konsumenten wegen überhöhter Zinsen[14]. Fraglos fordert der Austauschvertrag, im Interesse der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs eine Technisierung, die dem Ziel der individuellen Vertragsgerechtigkeit entgegenlaufen kann. Der juristischen Einschätzung der Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung unter Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Kontrahenten sind dadurch Grenzen gezogen, die aber vielleicht in der juristischen Tradition zu eng gesehen worden sind. Die Sozialpsychologie legt eine Wiederannäherung an die für Aristoteles und Thomas von Aquin selbstverständliche Anerkennung des gerechten Preises (justum pretium) als Rechtsprinzip immerhin nahe.
VIII. Kritik der »Tauschlogik«
Es muss jedenfalls erwähnt werden, dass die Kategorie des Tausches auch Ansatz zur Gesellschaftskritik ist. Dazu Ulrich Thielemann, Das Prinzip Markt. Kritik der ökonomischen Tauschlogik, 1996.
[1] Vgl. etwa Ivan P. Pawlow, Experimental Psychology and Other Essays, New York 1957.
[2] Burrhus F. Skinner, The Behavior of Organism, New York 1938; ders., Science and Human Behavior, New York 1953.
[3] Die grundlegende Arbeit ist von John Dollard/Leonard W. Doob/ Neal E. Miller/O. H. Mowrer/Robert S. Sears, Frustration und Aggression, 1972 (engl. Original 1939).
[4] Stanley Milgram, Das Milgram-Experiment, 1974. Beispiel einer rechtssoziologisch relevanten Untersuchung: Herbert C. Kelman/V. Lee Hamilton, Crime of Obedience. Toward a Social Psychology of Authority and Responsability, Yale University Press, New Haven/London 1989.
[5] Leonhard Berkowitz, Aggression, A Social Psychological Analysis, New York usw. 1962, 29 ff.; ders., Aggressions-Auslöser, aggressives Verhalten und Katharsis von Feindseligkeiten, in: Irle, Texte aus der experimentellen Sozialpsychologie, 1969, 154 ff.
[6] Bronislaw Malinowski, Recht und Sitte bei den Naturvölkern, 1949, 51 ff.
[7] Les structures élémentaires de la parenté, 2. Aufl. Paris/La Haye 1967, S. 265 ff.; ders., Strukturale Anthropologie, 1967, 180. Das Zitat wird der strukturalistischen Sichtweise von Lévi-Strauss allerdings nicht gerecht. Vgl. dazu den Sammelband »Funktion und Struktur«, hrsg. von Walter Bühl, 1975.
[8] JbRSoz 1, 1970, 37 ff.
[9] Einen historischen Blick vermittelt Natalie Zemon Davis, Die schenkende Gesellschaft. Zur Kultur der französischen Renaissance, 2002 [fr. Original 2000]
[10] Dazu näher Malte Diesselhorst, Die Lehre des Hugo Grotius vom Versprechen, 1959.
[11] Untersuchungen zum Bild des Strafrechts in der öffentlichen Meinung und der Einstellung der Bevölkerung zum Zweck der Strafe zeigen, dass in den 60er Jahren Sühne und Vergeltung als Strafzwecke mit 42 bis 51·% vorherrschten, während Besserung, Erziehung und Wiedereingliederung nur 23 bis 28·% der Befragten für sinnvoll halten (Institut für angewandte Sozialwissenschaften, Sühnen, Abschrecken oder Bessern? Infas Report, 1969; H. – Ch.von Oppeln-Bronikowski, Zum Bild des Strafrechts in der öffentlichen Meinung, Göttingen 1970). Im Laufe der 70er Jahre ist allerdings der Anteil derer, die sich für die Resozialisierung aussprechen, auf 55 bis 61·% gewachsen (Hans – Dietrich Schwind u. a., Dunkelfeldforschung in Göttingen 1973/74, Wiesbaden 1975, S. 22; Mechela, bei Kaiser, Kriminologie, 1980, 169). Vgl. auch §·32.
[12] Zu dieser Entwicklung näherFranz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. Göttingen 1967, 520.
[13] Günter Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, München 1982.
[14] Bahnbrechend OLG Stuttgart NJW 1979, 2409 als Vorentscheidung zu BGHZ 80, 153 ff.