§ 42 Innere Verhaltensmuster

Literatur: Hans-Werner Bierhoff u. a. (Hg.), Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie, Bd. 3, 2006; Dieter Frey/Martin Irle (Hg.), Kognitive Theorien, 2. Aufl., 1993; Martin Irle, Texte aus der experimentellen Sozialpsychologie, 2. Aufl. 1972; ders., Lehrbuch der Sozialpsychologie, 1975; Klaus Jonas u. a., Sozialpsychologie, 6. Aufl. [Lehrbuch], 2014; Jutta Heckhausen/Heinz Heckhausen (Hg.), Motivation und Handeln, 4. Aufl. 2010, 389-426.

I.   Zur Begrifflichkeit

Verhalten, das unmittelbar beobachtet werden kann = äußeres Verhalten wird stets von psychischen (mentalen) Erscheinungen begleitet, die unmittelbar nicht wahrnehmbar sind. Soziologie interessiert sich für solche inneren Vorgänge nur, weil sie nicht individuell bleiben und äußeres Verhalten steuern. Es geht hier also um ein Kapitel Sozialpsychologie. Deshalb wird eingangs allgemein auf Lehr- und Handbücher der Sozialpsychologie verwiesen. Es lohnt sich etwa, das Inhaltsverzeichnis der einschlägigen Handbücher durchzusehen. Dort findet man viele für die Rechtssoziologie relevante Übersichtartikel. Aber auch die aktuellere empirische Sozialpsychologie bringt immer wieder einschlägige Arbeiten hervor; vgl. dazu den Eintrag Rechtsrelevante Sozialpsychologie auf Rsozblog.

Reize aller Art, soweit es sich nicht gerade um unwiderstehliche (vis absoluta) handelt, werden erst nach psychischer Verarbeitung handlungswirksam, die ihrerseits nach bestimmten Mustern abläuft. Damit befasst sich die Psychologie. Da Menschen gleichartige Reize in vergleichbaren Situationen mehr oder weniger ähnlich verarbeiten, ist anzunehmen, dass sie ähnlich denken und fühlen. Man kann daher unterscheiden zwischen äußeren Verhaltensmustern auf der einen und inneren Verhaltensmustern auf der anderen Seite. Die letzteren reichen vom Wissen über die Welt und ihre Gesetze, der Vorliebe für bestimmte Speisen oder Musik bis hin zur Ideologie oder Religion. Insoweit kann man von Vorstellungen (beliefs) und Einstellungen (Attitude) reden. Die Vorstellungen über die Welt sind Thema der Wissenssoziologie. Um Einstellungen bemüht sich die Sozialpsychologie. Es lässt sich darüber streiten, ob man die verschiedenen Phänomene unter einer Überschrift behandeln soll. Gemeinsam ist ihnen in erster Linie, dass sie nicht direkt beobachten lassen. Andererseits ist es nicht immer leicht, sie voneinander zu trennen. Das zeigt sich besonders an Emotionen und Einstellungen. Ich halte deshalb (gegen den Rat einer Psychologin) daran fest, Denkinhalte und die Regelmäßigkeiten ihrer psychischen Verarbeitung unter der gemeinsamen Überschrift »Innere Verhaltensmuster« zu behandeln.

II. Tatsachenvorstellungen

Literatur: Gordon W. Allport, Die Natur des Vorurteils, 1971; Friedrich Försterling, Attributionstheorien, in: Hans-Werner Bierhoff u. a. (Hg.), Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie, Bd. 3, 2006, 354-362; Fritz Heider, Soziale Wahrnehmung und phänomenale Kausalität, in: Martin Irle, Texte aus der experimentellen Sozialpsychologie, 2. Aufl. 1972, 26 ff; Anitra Karsten (Hg.), Vorurteil. Ergebnisse psychologischer und sozialpsychologischer Forschung, 1978; Herbert Maisch, Vorurteilsbildungen in der richterlichen Tätigkeit, NJW 1975, 566-579; Meyer/Schmalt, Die Attributionstheorie, in: Frey, Kognitive Theorien der Sozialpsychologie, 1993, 98-136; Joachim Stiensmeier-Pelster/Heinz Heckhausen, Kausalattribution von Verhalten und Leistung, in: Jutta Heckhausen/Heinz Heckhausen (Hg.), Motivation und Handeln, 4. Aufl. 2010, 389-426.

1.      Urteile

Zu den inneren Verhaltensmustern gehören die Tatsachenvorstellungen (Kognitionen). Was die Menschen in einer bestimmten Gesellschaft an Tatsachenwissen haben, deckt sich keineswegs mit dem, was an Tatsachenwissen nach dem Stand der Wissenschaft vorhanden und möglich ist. So wurde zeitweise in Deutschland darüber geklagt, dass bei Akademikern im Gefolge eines humanistisch-mittelständischen Bildungsideals vor allem griechische und lateinische Sprachkenntnisse, Geschichts- und Philosophiekenntnisse vorhanden seien, dass es dagegen an der Kenntnis moderner Sprachen und vor allem an naturwissenschaftlich-mathematischer Bildung fehle. Das ist in den USA wohl durchaus anders und erst recht etwa in Russland. Noch viel stärker als von Land zu Land differieren die Tatsachenvorstellungen innerhalb eines Landes je nach der Herkunft aus bestimmten Schichten und Bevölkerungskreisen. Diese soziale Bedingtheit von Tatsachenvorstellungen gilt nicht nur für das sogenannte gehobene Wissen, sondern auch für sehr viel banalere Dinge, etwa für die sexuelle Aufklärung oder für Fußballereignisse. Zwar hat wohl jeder Mensch auch einen individuellen Wissensbestand. Aber die weit größere und wichtigere Wissensmenge stellt eine Auswahl aus dem verfügbaren Wissen dar, deren Verteilung sozialen Gesetzmäßigkeiten gehorcht.

2.      Vorurteile

Zu den Tatsachenvorstellungen gehören nicht nur die Urteile, sondern auch die Vorurteile. Ein Vorurteil ist nichts anderes als eine Tatsachenvorstellung, die unzutreffend ist, weil ihr keine kritische Prüfung der zugrundeliegenden Tatsachen vorausgegangen ist. Beispiel: Verbrecher werden geboren. Eine von Vorurteilen geprägte, schablonenhafte Weise des Wahrnehmens von und Urteilens über Personen, Gruppen, Gegenstände oder Sachverhalte nennt man Stereotype. Eine Mischung von Urteilen und Vorurteilen bilden die sog. Alltagstheorien (§ 19 III).

Zur Beschreibung und Erklärung von Alltagstheorien, mit denen Personen die Ursachen von eigenem und fremdem Verhalten ausmachen, kann man auf den sozialpsychologischen Ansatz der Attributionstheorie zurückgreifen. Er geht zurück auf das Konzept der »naiven Psychologie« von Fritz Heider, das sich mit Verhaltenserklärungen befasst, wie sie der Mann auf der Straße vornimmt. Heider geht davon aus, dass Menschen ständig motiviert sind, beobachtete Ereignisse nicht einfach zu registrieren, sondern sie auf Ursachen in ihrer Umgebung zurückzuführen. Es wird ferner angenommen, dass Menschen als rationale Wesen bestrebt sind, realitätsangemessene Ursachenerklärungen zu finden. Dazu stellen sie Vermutungen über die Ursachen von Verhalten an, holen Informationen ein und prüfen ihre Vermutungen ähnlich wie ein Wissenschaftler seine Hypothesen. Trotzdem kommt es zu unzutreffenden Ursachenzuschreibungen (Attributionsfehlern), denn die Menschen verfügen oft nicht über ausreichende Informationen, sie verarbeiten ihre Informationen »naiv« und werden von zusätzlichen Motiven beeinflusst, etwa dem Wunsch, das Selbstwertgefühl zu schonen und möglichst gar zu stärken. Dieses Motiv erschwert es etwa, die Ursachen eines negativ bewerteten Verhaltens bei sich selbst zu suchen.

Für die Rechtssoziologie von besonderem Interesse sind Untersuchungen über die Zuschreibung von Schuld und Verantwortlichkeit. Lediglich als Beispiel soll hier eine Untersuchung von Walster[1] erwähnt werden, bei der es um die Zuschreibung von Verantwortlichkeit für Unfälle ging. Versuchspersonen hatten über die Verantwortlichkeit eines Fahrers zu urteilen, dessen Wagen wegen versagender Bremsen eine abschüssige Straße hinuntergerollt war. Sie neigten dazu, den Fahrer für umso verantwortlicher zu halten, je schwerwiegender die Unfallfolgen waren. Walster erklärt dies mit der Tendenz eines Beobachters, dem unangenehmen Gedanken, er könne selbst in ein solches unkontrollierbares Geschehen verwickelt werden, zu entgehen. Ein solches unabwendbares Ereignis könnte jedem widerfahren, auch dem Beobachter. Bei einem leichteren Unfall ist diese Vorstellung wegen der geringen Konsequenzen kaum belastend. Bei schweren Folgen dagegen wirkt sie so bedrückend, dass der Beobachter sich entlastet. Er hält den Fahrer für verantwortlich, damit er von sich selbst glauben kann, ihm werde Vergleichbares nicht passieren.

Ein ähnliches Konzept ist das Just-World-Paradigma.[2] Auch hier geht es um die Verantwortlichkeitszuschreibung bei offensichtlich unschuldigen Opfern von Unglücksfällen oder Gewalttätigkeiten. Auch diesen Opfern wird Verantwortung für ihr Schicksal zugeschrieben nach dem Prinzip, dass Leute bekommen, was sie verdient haben, und, was sie verdient haben, auch bekommen. Hier scheint das gleiche Entlastungsmotiv wirksam zu werden. Würde man den Zufall verantwortlich machen, müsste man der unangenehmen Möglichkeit ins Auge sehen, dass man selbst Opfer eines solchen Unglücks werden könnte.

3.      Normvorstellungen

Zu den Tatsachenvorstellungen gehört schließlich auch die Vorstellung von der Existenz und Verbreitung sozialer Verhaltensmuster, insbesondere sozialer Normen. Die Existenz etwa des Strafgesetzbuches, einer Straßenverkehrsordnung oder von Benimmregeln ist eine Tatsache. Das Wissen darum ist eine Tatsachenvorstellung. In rechtssoziologischem Zusammenhang ist die Rechtskenntnis der Bevölkerung von besonderer Bedeutung (dazu § 31).

III.  Zweck- und Wertvorstellungen

Von den Tatsachenvorstellungen kann man Zweck- und Wertvorstellungen unterscheiden. Unter Zwecken sind in diesem Zusammenhang alle Zustände zu verstehen, die als Ziel oder Zweck menschlichen Handelns in Betracht kommen. Dabei kann die Auszeichnung positiv oder negativ sein. Wird ein Ziel positiv bewertet, so versucht man, es zu verwirklichen. Werte sind demgegenüber abstrakter formulierte Zielvorstellungen (Leben, Gesundheit, Freiheit usw.), die die möglichen konkreten Handlungszwecke tendenziell ordnen. Auch sehr abstrakte Zielvorstellungen können entscheidend das gesamte Verhalten bestimmen, wie etwa der in unserer Kultur verbreitete Wunsch nach materiellem Erfolg und Ansehen.

1.      Verhaltensforderung oder Bewertungsstandard

Mit einer Norm im Sinne einer Verhaltensforderung (§ 25) geht meistens eine Bewertung des geforderten Verhaltens als mehr oder weniger gut, sinnvoll oder zweckmäßig einher. Verhaltensforderung und Bewertung müssen unterschieden werden, da beide keineswegs immer verbunden sind. Es gibt Verhaltensforderungen, die moralisch indifferent sind und sogar solche, die als unmoralisch gelten. Viel häufiger noch sind Verhaltensforderungen, denen die Adressaten sehr distanziert gegenüberstehen, obwohl sie ihnen im Großen und Ganzen nachkommen. So ist beispielsweise bei Jugendlichen, am Arbeitsplatz oder in der Bundeswehr zu beobachten, dass die dort geforderten Verhaltensweisen für sinnlos gehalten werden, dass man ihnen aber doch mehr oder weniger gehorcht. Erst recht werden Bräuche und Gewohnheiten oft als schlecht verurteilt. Dennoch gibt man sie nicht auf, wie zum Beispiel Rauchen oder Trinken. Umgekehrt werden moralisch für wertvoll gehaltene Handlungen nicht immer auch gefordert. Wenn zum Beispiel ein Kraftfahrer anhält, um einem anderen bei einer Panne zu helfen, so gilt das als anständig, ohne dass es aber verbindlich erwartet, d. h. sein Ausbleiben mit Sanktionen bedacht würde. Spittler schlägt vor, bei solchen nicht bloß individuell verbreiteten Ansichten von Bewertungsstandards zu sprechen. Für die Rechtssoziologie verbirgt sich hinter der Frage nach den Bewertungsstandards die sog. Legitimitätsfrage (vgl. dazu §§ 22, 48).

2.      Zielbewertung

Als nützlich erweist sich manchmal die Unterscheidung zwischen Verhaltensbewertungen und Zielbewertungen. Sehr häufig wird ein Verhalten geschätzt, weil es Selbstzweck ist, indem es durch sich selbst Befriedigung verschafft. Das gilt etwa für Essen und Trinken, sexuelle Betätigung, aber auch für viele Freizeitbeschäftigungen und dergleichen mehr. Ein solches Verhalten, das vor allem als Selbstzweck in Betracht kommt, nennt man auch expressives Handeln (§ 23,1b). Viele Tätigkeiten stehen aber im Dienste eines ferneren Zwecks, was nicht ausschließt, dass sie daneben auch noch als solche geschätzt werden. Eine Tätigkeit, die derart zielgerichtet ist, kann man als instrumentelles Handeln bezeichnen. In der Regel hat jede Handlung sowohl expressive wie instrumentelle Funktionen. Es gibt aber auch Handlungsweisen, bei denen der eine oder der andere Aspekt ganz im Vordergrund steht, so etwa beim Musizieren der expressive Aspekt, beim Anlegen von Sicherheitsgurten dagegen der instrumentelle.

3.      Das Verhältnis von Tatsachen und Wertvorstellungen als Zweck-Mittel-Relation

Man kann weiter fragen, wie sich Tatsachenvorstellungen und Wertvorstellungen zueinander verhalten. Ganz grob lässt sich dazu sagen, dass der Handlungsantrieb aus der Wertvorstellung kommt. Sie zeigt das Ziel, einen in der Zukunft gelegenen Zustand, den der Handelnde erreichen will. Seine Tatsachenvorstellungen ermöglichen ihm dagegen eine Prognose über die Wirkungen seines Handelns. Will er ein bestimmtes Ziel realisieren, so muss er diejenigen Handlungsweisen wählen, die nach seiner Tatsachenkenntnis geeignet sind, dieses Ziel zu realisieren. In diesem Sinne bildet die Tatsachenkenntnis das Mittel zum Zweck. Insbesondere auch Normen können derart als Mittel zu einem ferneren Zweck angesehen werden. So kann etwa der Normadressat sich normkonform verhalten, um nachteilige Sanktionen zu vermeiden. Er kann eine bestimmte Gesellschaftsform wählen, um Haftungskonsequenzen auszuschließen oder Steuervorteile zu erzielen. Aus der Sicht der Normabsender kann eine Norm, etwa die StVO, das Mittel sein, um einen gewünschten Zustand herbeizuführen, etwa einen flüssigen Verkehr mit wenig Sach- oder Personenschäden.

IV.  Die Handlungswirksamkeit innerer Verhaltensmuster

Literatur: Günter Bierbrauer, Attitüden: Latente Strukturen oder Interaktionskonzepte?, ZfSoziologie 5, 1976, 4-16; Peter O. Güttler, Sozialpsychologie. Soziale Einstellungen, Vorurteile, Einstellungsänderungen, 4. Aufl., 2003; Jutta Heckhausen/Heinz Heckhausen (Hg.), Motivation und Handeln, 4. Aufl. 2010, 389-426; Fritz Hermanns, Attitüde, Einstellung, Haltung. Empfehlung eines psychologischen Begriffs zu linguistischer Verwendung, in: Dieter Cherubim u. a. (Hg.), Neue deutsche Sprachgeschichte, 2002, 65-89 [für Nicht-Psychologen geschrieben und deshalb auch für Juristen gut lesbar und informativ]; Marco José, Emotionen und Gefühle, in: ders., Positive Psychologie und Achtsamkeit im Schulalltag, 2016, 55-64; Harry C. Triandis, Einstellungen und Einstellungsänderungen, 1975.

1.      Diskrepanz zwischen Handeln und Bewusstsein

Das bisher Gesagte könnte den Eindruck erwecken, als ob äußeres Verhalten stets von entsprechenden gedanklichen Verhaltensmustern gesteuert würde. Bis zu einem gewissen Grade ist das auch tatsächlich der Fall. Indessen decken sich Handeln und Bewusstsein nicht ohne weiteres. Zwischen beidem besteht oft ein erheblicher Abstand. Gerade diese Diskrepanz macht es überhaupt erst notwendig, zwischen äußeren und inneren Verhaltensmustern zu unterscheiden.

Die Lücke zwischen Verhalten und Bewusstsein ist durch die Verbreitung, die die Lehren Siegmund Freuds gefunden haben, heute allgemein bekannt geworden. Daher genügt hier eine Andeutung: Die ältere Psychologie grenzt den Begriff des Seelischen ganz auf das Gebiet des Bewusstseins ein. Dieser Bewusstseinspsychologie setzt Freud seine Lehre vom Unbewussten entgegen, nach der bedeutende Teile des seelischen Lebens sich unterhalb des Bewusstseins abspielen. In Bezug auf dieses unbewusste Leben besteht heute kein Zweifel mehr, dass hier unwillkürliche psychische Verarbeitungen erfolgen, bei denen das Bewusstsein nicht oder kaum beteiligt ist, dass also ein unbewusster und unwillkürlicher seelischer Mechanismus vorliegt. Im Bereich des Unbewussten werden Erlebnisse aufbewahrt, die normalerweise nicht zugänglich, gleichwohl aber wirksam sind. Diese nicht erinnerbaren Erlebnisse besitzen dynamische Qualitäten, durch die sie in den Bereich des bewussten psychischen Lebens hineinstrahlen, ohne dass dieser Vorgang dem Bewusstsein zugänglich ist. Es vollzieht sich also in der Tiefenschicht ein energetisch-triebhaftes Geschehen, das maßgeblich gestaltende Kräfte enthält, dessen Herkunft und Richtung aber dem betreffenden Menschen nicht durchschaubar sind.

2.      Einstellungen (Attitüden)

Eine Verbindung zwischen Handeln und Bewusstsein und dem Unbewussten erreicht man durch den Begriff der Attitüde, mit dem allerdings nicht mehr psychoanalytisch die im Bewusstsein ablaufenden psychischen Prozesse, sondern nur deren im Verhalten sich äußernde Wirkungen angesprochen werden. Teilweise spricht man auch von Haltungen oder Einstellungen. Aber manche Soziologen meinen, dass der englische Begriff attitudes nicht übersetzt werden sollte, da er sowohl eine geistige Einstellung wie auch eine motorische Reaktionsbereitschaft gegenüber einer bestimmten Situation zum Ausdruck bringen soll. Eine Attitüde ist eine Art affektive Bindung an eine Wertvorstellung oder noch viel allgemeiner an ein soziales Objekt. Üblicherweise wird die Attitüde definiert als ein »aus Erfahrung entstandener psychophysischer Zustand der Bereitschaft, der einen steuernden und dynamischen Einfluss auf die individuellen Reaktionen gegenüber allen Objekten und Situationen ausübt, mit denen er im Zusammenhang steht«[3]. Die Attitüde ist also eine Art generalisierte Bereitschaft, bestimmten Objekten, vor allem Menschen oder sozialen Forderungen, in bestimmter Weise, nämlich freundlich oder feindlich, aggressiv oder ausweichend, gegenüberzutreten. Mit Hilfe von Attitüden sortiert man die Welt in Freund und Feind. Der eine ist allergisch gegen Kinder, der andere gegen Polizisten, ein Dritter gegen Unordnung oder Schmutz. Attitüden sind per se nichts Pathologisches, sondern durchaus normal.

Attitüden können gelernt werden, vor allem durch Identifikation oder Nachahmung von geliebten Bezugspersonen. Einmal gelernt sind sie dann aber sehr dauerhaft, schwer zu beeinflussen und haben obendrein eine Tendenz zur Generalisierung. So lernen z. B. Söhne von ihren Vätern, wie man ungestraft aggressiv sein kann und wie man damit Erfolg hat. Die Kenntnis der Zusammenhänge hat in den letzten Jahren zu einer deutlichen Änderung der Justizpraxis bei der Behandlung einer spezifischen Erscheinungsform des Widerstandes gegen die Staatsgewalt geführt. Es gibt eine erhebliche Anzahl unter den Jugendlichen, die in einer für sie selbst weitgehend unbeherrschbaren Art explodieren, wenn etwa ein Polizist sie bei einer Festnahme berührt. Auf dem Weg in das Polizeiauto oder zur Polizeiwache kommt es dann häufig zu Widerstandshandlungen, die man früher sehr hart verurteilt hat, die jedoch heute in einem milderen Licht erscheinen, weil die Situation für die Täter selbst kaum beherrschbar ist. Mit Hilfe solcher Attitüden lässt sich erklären, dass das Wissen um Werte und Normen und auch ihre bewusste Bejahung oft nicht mit dem realen Verhalten übereinstimmt, weil die affektiven Bezüge zum Wertkonzept fehlen oder zu schwach sind. Eine solche Diskrepanz zwischen Einstellungen und wirklichem Verhalten ist ein Beispiel für eine sog. kognitive Dissonanz.

An Hand einer Auswertung von Ergebnissen der regelmäßig durchgeführten Bevölkerungsumfrage und einem Vergleich mit der Zahl der registrierten Schwangerschaftsabbrüche kommen Bora und Liebl zu dem Ergebnis, dass kein Zusammenhang zwischen allgemeinen Wertmustern, hier der Einstellung zur Zulässigkeit der Abtreibung, und der konkreten Entscheidung für oder gegen eine Unterbrechung der Schwangerschaft bestünden. In der akuten Entscheidungssituation spielten vermutlich ganz andere Faktoren eine Rolle. Persönliche Interessen, materielle Bedürfnisse oder der Druck der Familie gewönnen dann ein Gewicht, dass die Entscheidung in eine der generellen Einstellung konträre Richtung drängen könne.[4]

Während Attitüden als generalisierte Einstellungen relativ dauerhaft sind, sind Emotionen eher situationsbedingt und körpernäher. Beispiele für Emotionen sind Angst, Scham, Lust, Schmerz, Schreck.

V. Die Theorie der kognitiven Dissonanz

Literatur: Leon Festinger, Theorie der kognitiven Dissonanz, 1978; Dieter Frey/Anne Gaska, Die Theorie der kognitiven Dissonanz, in: Dieter Frey/Martin Irle (Hg.), Kognitive Theorien der Sozialpsychologie, 2. Aufl. 1993, 275-326; Claudia Peus/Dieter Frey/Heidrun Stöger, Theorie der kognitiven Dissonanz, in: Hans-Werner Bierhoff u. a. (Hg.), Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie, Bd. 3, Göttingen 2006, S. 373-379.

Die Sozialpsychologie kennt ein ganzes Bündel von Theorien, denen die Annahme zugrunde liegt, dass sich ein Individuum darum bemüht, sein kognitives System zu ordnen, indem es versucht, seine Wahrnehmungen und Gefühle, seine Kenntnisse und Wertvorstellungen frei von Widersprüchen zu halten. Die wohl bekannteste und wichtigste ist die Theorie der kognitiven Dissonanz, die mit dem Namen von Leon Festinger verbunden ist. Sie bietet eine der fruchtbarsten sozialpsychologischen Forschungshypothesen überhaupt. Binnen zehn Jahren hatte sie schon an die 1000 empirische Untersuchungen angeregt. Diese Theorie besagt etwa folgendes: Alle Menschen haben Tatsachenvorstellungen (Kognitionen). Dazu zählen Vorstellungen über Zustände und Ereignisse in der Umwelt, aber auch die Vorstellungen über die eigene Person, über ihre Fähigkeiten, Wünsche und Zielvorstellungen. Zu den Kognitionen gehören schließlich die Vorstellungen über die Verknüpfung verschiedener Tatsachen, also wissenschaftliche ebenso wie abergläubische Annahmen über ursächliche Zusammenhänge und, daraus abgeleitet, Erwartungen an die Zukunft. Zu einer kognitiven Dissonanz kommt es bei einem Menschen dann, wenn ein Ereignis eintritt, dass mit seinen Kenntnissen und Erwartungen nicht übereinstimmt. In kognitiver Dissonanz befindet sich das Mitglied einer Sekte, die an den bevorstehenden Weltuntergang glaubt, wenn die Katastrophe ausbleibt, ebenso wie der Raucher, der die Gefahren seiner Leidenschaft kennt.

Festinger nimmt an, dass eine kognitive Dissonanz im allgemeinen als unangenehm empfunden und daher nach Möglichkeit vermieden oder aber, wenn sie schon eingetreten ist, reduziert wird. Unter geeigneten Umständen kann man aus einer kognitiven Dissonanz lernen wie der Wissenschaftler, der seine Hypothese ändert oder aufgibt, wenn er auf unerwartete Beobachtungen stößt. Im Alltag greifen Menschen jedoch vielfach zu weniger rationalen Methoden der Dissonanzreduktion. Sie ignorieren oder leugnen einfach die Ereignisse, die nicht zu ihren Kognitionen passen. Sie suchen nach neuen Informationen, die ihre bisherigen Vorstellungen bestätigen, nach Erklärungen etwa, die das Gewicht des unpassenden Ereignisses vermindern oder es als irreguläre Ausnahme erscheinen lassen. Sie lassen sich von ihrer Umgebung ihre Kognitionen bestätigen oder sie immunisieren ihre besonderen Erwartungen oder gar ein ganzes Weltbild durch nicht beweisbare und damit auch nicht widerlegbare Zusatzannahmen.

Welcher Weg zur Reduktion der kognitiven Dissonanz gewählt wird, hängt von deren Stärke und von dem zur Reduktion erforderlichen Aufwand ab. Die Dissonanz ist umso stärker, je mehr jemand von der Wahrheit seiner Annahme überzeugt oder je stärker die Annahme gefühlsmäßig besetzt ist. Der Aufwand wächst, je mehr eine Annahme, Meinung oder Erwartung in ein ganzes System von Kognitionen eingebettet ist. Besonderen Aufwand erfordert die Revision ganzer Weltbilder. Die Anhänger der Weltuntergangssekte werden daher kaum ihren ganzen Glauben aufgeben, wenn die Prophezeiung sich nicht erfüllt. Es ist eher wahrscheinlich, dass sie die Zeitangabe neu interpretieren oder sich in die Annahme flüchten, die Welt sei nur deshalb nicht untergegangen, weil sie so erfolgreich missioniert und so viele Leute gebessert hätten, dass der Welt ihr trauriges Ende erspart worden sei (Festinger, 246 ff.). Die kognitive Dissonanz kann vor oder nach Handlungsentschlüssen auftreten. Wird die in Aussicht genommene oder vollzogene Handlung durch starke Emotionen, Attitüden oder Wertvorstellungen in eine bestimmte Richtung gedrängt, so ist eine selektive Informationsaufnahme wahrscheinlich. Der Handelnde sucht nach Informationen, die seinen Wünschen und Vorstellungen entsprechen und negiert andere, die damit nicht in Einklang zu bringen sind.

Dieses Phänomen ist als Sub-Classing geläufig. Damit bezeichnet man eine kognitive Strategie, die erklärt, wie dissonante Informationen mit dominanten Schemata, darunter auch Alltagstheorie und Vorurteile, harmonisiert werden. Das geschieht auf der einen Seite durch anekdotische Evidenz: Exemplarische Vorfälle, die die eigene Überzeugung stärken, werden gesucht und wahrgenommen, als typisch betrachtet und verallgemeinert. Die Vorfälle müssen nicht selbst erlebt sein, sondern können Medienberichten oder Erzählungen anderer Menschen entnommen werden. Informationen, die nicht ins Schema passen, werden, wenn sie überhaupt aufgenommen werden, nach dem Motto »Ausnahmen bestätigen die Regel« verharmlost.

Dieser Aspekt kann in rechtssoziologischem Zusammenhang z. B. zur Erklärung der Selektivität der Strafverfolgung beitragen. Eine Vielzahl von Untersuchungen hat gezeigt, dass Angehörige sozial verachteter Gruppen wie Vorbestrafte[5] oder Gastarbeiter[6] bei Verfehlungen häufiger angezeigt und bestraft werden als der Durchschnitt der Bevölkerung, während sozial hochgestellte Personen eine gewisse Immunität gegen Verdächtigung und Sanktionierung genießen[7]. Die Verfolgung von Personen, denen man abweichendes Verhalten zutraut, ist kognitiv konsonant und fällt daher leicht, während soziales Ansehen, das man ja gerade auch durch die Erfüllung und Übererfüllung normativer Erwartungen erwirbt, sich mit der Annahme normwidrigen Verhaltens nicht verträgt, so dass der Fall schon sehr krass liegen muss, soll er zur Kenntnis genommen werden.

VI.  Die soziale Norm als enttäuschungsfeste Erwartung

Literatur: Niklas Luhmann, Normen in soziologischer Perspektive, Soziale Welt 20, 1969, 28; ders., Rechtssoziologie, 1983, 40ff.

Auch die soziale Norm (§ 43) hat ihre Entsprechung in einem inneren Verhaltensmuster. Vor dem Hintergrund der Theorie der kognitiven Dissonanz hat Luhmann eine in der Rechtssoziologie inzwischen allgemein akzeptierte Theorie der sozialen Norm als enttäuschungsfester Erwartung entwickelt.

1.      Kognitive und normative Erwartungen

Man kann sein Verhalten einfach an Vorbildern, an Verhaltensmustern, orientieren. Aber mindestens ebenso wichtig ist die Orientierung an Erwartungen über die Zukunft, über die Wirkung menschlicher Handlungen. Solche Erwartungen oder Prognosen ergeben sich zunächst aus Naturgesetzen. Immer wieder bestätigt sich die Erfahrung, dass in der Vergangenheit beobachtete Kausalabläufe, etwa der Wechsel von Tag und Nacht, Sommer und Winter, Gesetze der Schwerkraft oder chemische Reaktionen, eine Prognose erlauben, durch die sinnvolles Handeln erst möglich wird. So weiß der Bauer aus Erfahrung, dass es nur im Frühjahr sinnvoll ist zu säen, weil nur dann eine Ernte zu erwarten ist. Um nicht nur mit der Natur, sondern auch mit seinen Mitmenschen sinnvoll umgehen zu können, muss man wissen, wie sie in bestimmten Situationen reagieren werden. Da unreflektierte Beobachtung nicht zwischen Naturereignissen und menschlichen Handlungen unterscheidet, stellt sich die Erwartung ein, dass sich die in bestimmten Situationen beobachteten Handlungen in ähnlicher Situation wiederholen. An dieser Erwartung kann man das eigene Handeln genauso orientieren wie an Naturerscheinungen.

Erwartungen aller Art können enttäuscht werden. Es gibt dann im Prinzip zwei unterschiedliche Möglichkeiten, auf eine Enttäuschung zu reagieren. Man kann an der enttäuschten Erwartung festhalten, oder man kann sie fallen lassen. Man kann sich lernbereit oder lernunwillig verhalten. Handelt es sich um Erwartungen, die das Naturgeschehen betreffen, so ist man heute allgemein bereit, aus Enttäuschungen zu lernen. Ja, es ist das Prinzip der empirischen Wissenschaft, neue Beobachtungen, die sich mit ihren theoretischen Erklärungen nicht vertragen, zu verarbeiten, indem sie ihre Theorie umbaut. Insoweit spricht man von kognitiven Erwartungen.

Auch im sozialen Bereich kann man aus Enttäuschungen lernen. Auch dort sind kognitive Erwartungen nicht selten. So erwarten wir etwa, dass man sich nach der Mode kleidet. Wenn sich die Mode ändert, sind wir aber schnell bereit umzulernen. Der Kaufmann erwartet, dass bestimmte Waren oder Werbemethoden Erfolg haben. Er wird aber umdisponieren, wenn diese Erwartungen enttäuscht werden. Wichtiger und interessanter ist die Tatsache, dass es im sozialen Bereich Verhaltenserwartungen gibt, an denen man festhält, auch wenn sie enttäuscht worden sind. Man hält z. B. fest an der Erwartung, dass Kinder ihren Eltern gehorchen, dass Eheleute nicht fremdgehen, dass in Klausuren nicht abgeschrieben wird, obwohl sich diese Erwartungen immer wieder als unzuverlässig erweisen. Man kann daher die Verhaltensmuster danach einteilen, wie enttäuschte Erwartungen verarbeitet werden. Erwartungen, die auch im Enttäuschungsfalle durchgehalten werden, heißen normativ. Soziale Normen sind nach Luhmann kontrafaktisch stabilisierte, also lernunwillig festgehaltene Verhaltenserwartungen.

2.      Die Stabilisierung normativer Erwartungen

Der normative Stil des Erwartens ist stets gefährdet. Wer sich nicht lernbereit zeigt, erscheint leicht als unvernünftig, wenn er sein Verhalten nicht erklären oder sonst rechtfertigen kann. Verhaltensforderungen können daher enttäuschungsfest werden, wenn der Enttäuschte Verhaltens und Deutungshilfen bekommt, um an der Erwartung festzuhalten. Die enttäuschte Erwartung darf sich nicht als Fehler, Irrtum oder blamable Naivität herausstellen. Das Festhalten an der Erwartung muss seinerseits erwartbar sein. Die dafür benötigten Hilfen kann man mit Luhmann in zwei Gruppen einteilen, in Enttäuschungserklärungen und in Verhaltensweisen, vor allem Sanktionen, die das Beibehalten der verletzten Erwartung zum Ausdruck bringen.

3.      Reaktionen auf die Enttäuschung normativer Erwartungen

Jede Enttäuschung macht die Erwartung unsicher. Die Fortgeltung der Erwartung kann aber gestützt werden, wenn die Enttäuschung sich als ein Ereignis erklären lässt, das mit der Erwartung nichts zu tun hat, weil es auf einer anderen Ebene liegt. Eine Möglichkeit solcher Distanzierung besteht darin, die Enttäuschung auf Umstände zurückzuführen, die der Handelnde nicht beherrschen konnte, früher vielleicht auf Hexerei oder andere übernatürliche Kräfte, heute etwa auf Krankheit, höhere Gewalt oder soziale Zwänge. Eine andere Erklärung zielt auf die böse Absicht des erwartungswidrig Handelnden, also auf Schuld. Dabei kann ganz offen bleiben, ob Schuld überhaupt eine wissenschaftlich greifbare Angelegenheit ist. Für die soziologische Betrachtungsweise kommt es nicht auf den realen Hintergrund beim Täter, sondern darauf an, dass eine Schuldzuweisung dem Enttäuschten eine Erklärung für seine Enttäuschung liefert. Darin leistet Schuld dasselbe wie Krankheit. Bei einem Verstoß gegen ganz elementare Normen stempelt man den Abweichler eben zum Geisteskranken. Die entscheidende Leistung solcher Erklärungen besteht darin, dass man mit ihnen sich selbst und anderen plausibel machen kann, dass kein Anlass zu einem Lernprozess besteht, dass man also trotz der Enttäuschung an seiner Erwartung festhalten kann.

Die Verhaltensweisen, mit denen der Enttäuschte seine Lernunwilligkeit zum Ausdruck bringt, haben sozialpsychologisch betrachtet vier unterscheidbare Dimensionen:

(1)  Sanktionen gehören zur Selbstdarstellung des Handelnden. Er will sich keinen Irrtum, keine Dummheit vorhalten lassen. Er will konsequent und verlässlich erscheinen. Deshalb muss er irgendwie, und sei es auch nur mimisch oder verbal, zum Ausdruck bringen, dass er sich durch seine Enttäuschung nicht von seinen Grundsätzen, seinen Erwartungen abbringen lässt. In dieser Selbstbestätigung der eigenen enttäuschten Erwartung sieht Luhmann die primäre Funktion allen Sanktionshandelns. Erst sekundär verbindet sich mit der Sanktion auch eine Enttäuschungserklärung etwa in Gestalt eines Schuldvorwurfs und die Intention einer präventiven Einwirkung auf den Abweichler oder andere.

(2)  Es kommt dem Enttäuschten darauf an, für seine Erwartung Unterstützung bei anderen zu finden. Auch deshalb muss er zum Ausdruck bringen, dass er an seiner Erwartung festhalten will. Objektiv gesehen verhindert er damit, dass die Norm verblasst.

(3)  Es liegt besonders nahe, eine Enttäuschung und das Festhalten an der Erwartung durch ein Handeln in Richtung auf den Abweichler, zum Ausdruck zu bringen. Solches Verhalten kann objektiv mit der Aggressions-Frustrations-These erklärt werden (vgl. § 26 I 1). Sanktionen können auch damit motiviert werden, dass man weiteren Enttäuschungen vorbeugen, die Geltung der Norm für die Zukunft durchsetzen will. Das ist der Gedanke der Prävention. Der Normverletzer wird als derjenige hingestellt, der lernen muss.

(4)  Soziale Normen werden praktisch stets als beschränkend empfunden. Man darf viele Dinge nicht tun, mit denen man auf direktem und schnellstem Wege zum Ziel käme. Man darf nicht stehlen, nicht betrügen, nicht Gewalt anwenden, auf der Landstraße nicht über 100 km/h fahren. Andererseits wird man durch Normen angehalten, Dinge zu tun, auf die man selbst keinen Wert legt und die deshalb unbequem sind. Man muss eine Einladung erwidern, Schnee fegen, Steuern zahlen usw. All diese Beschränkungen nimmt man in der Regel mehr oder weniger unreflektiert auf sich Wenn sich aber einzelne über solche Normen hinwegsetzen und sich damit auf Kosten anderer einen Vorsprung verschaffen, so entsteht das Bedürfnis, diesen Vorsprung durch die Zufügung von Nachteilen auszugleichen. Das ist das Bestreben nach Rache oder Vergeltung. Dieses Bedürfnis ist eine soziale Tatsache, die man als solche nicht wegdiskutieren kann.

4.      Bedeutung der lerntheoretischen Fassung des Normbegriffs

Diese Analyse der sozialen Norm ist ein charakteristisches Beispiel des sog. Äquivalenzfunktionalismus (§  9 I). Betrachtet man nämlich das Sanktionshandeln in seiner Funktion für die Aufrechterhaltung enttäuschter Erwartungen, so kann man es mit anderen Arten der Enttäuschungsabwicklung vergleichen. Das gleiche wie Sanktionen leisten Erklärungen, die objektive Umstände wie Krankheit, Erziehungsdefizite oder soziale Zwänge für das abweichende Verhalten verantwortlich machen. Sie ermöglichen die Stabilisierung von Erwartungen für den Fall der Enttäuschung. Aus dieser Sicht bilden daher Sanktionen kein Wesensmerkmal sozialer Normen.

Die »lerntheoretische« Fassung[8] des Normbegriffs hat darüber hinaus zwei interessante Vorteile. Einmal eröffnet sie Einblicke in den Prozess der Normbildung. Eine Person wird normativ, also lernunwillig, erwarten, wenn Umlernen mit großem Aufwand verbunden ist. Das kann der Fall sein, wenn eine Erwartung gewohnheits- oder gefühlsmäßig sehr tief verankert ist oder wenn die Erwartung fundamentale Interessen des Erwartenden sichert, so dass er sich im Falle des Umlernens bedroht sieht. Zugleich macht die lerntheoretische Begründung den Blick auf die Gefahren normativen Erwartens frei. Normatives, also lernunwilliges Erwarten bedeutet fehlende Bereitschaft, sich wechselnden und neuen Situationen anzupassen. Es hat sozusagen eine Verdummungswirkung. Für die Rechtssoziologie ergibt sich daraus z. B. die Frage nach berufsspezifischen Persönlichkeitsdeformationen, die sich bei Angehörigen normanwendender Berufe einstellen könnten. Tatsächlich wird in der Berufssoziologie der Juristen (§ 34) teilweise auf die rigide Charakterstruktur der Juristen hingewiesen.

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[1] Elaine Walster, Assignment of Responsibility for an Accident, Journal of Personality and Social Psychology 3, 1966, 73-79. Eine vergleichende Untersuchung über die Zuschreibung von Verantwortung und die Forderung nach Bestrafung in Japan und den USA, die erhebliche Übereinstimmung, aber auch Unterschiede gezeigt hat, bietenV. Lee Hamilton/Joseph Sanders, Universals in Judging Wrongdoing: Japanese and Americans Compared, ASR 48, 1983, 199-211. Allgemein zum Thema Manfred Effler, Kausalerklärungen im Alltag, 1986. Wenn ein Date in eine Vergewaltigung ausartet, hängt die Zuschreibung der Verantwortung auch von dem Frauenbild ab. Wer ein liberales Frauenbild hat, sucht die Verantwortung weniger bei dem weiblichen Partner (Rosanne Proite/Michael Dannells/Stephen L. Benton, Gender, Sex-Role Stereotypes, and the Attribution of Responsibility for Date and Acquaintance Rape, Journal of College Student Development 34, 1993, 411-417).

[2] Melvin J. Lerner/ G. Matthews, Reactions to Suffering of Others under Conditions of Indirect Responsibility, Journal of Personality and Social Psychology 5, 1967, 319-325.

[3] So die Übersetzung der klassischen Definition von Gordon W. Allport, Attitudes, in: C. Murchison (Hg.), A Handbook of Social Psychology, Worcester, Mass., 1935, 798-884, 810.

[4] Alfons Bora/Karlhans Liebl, Einstellung zum Schwangerschaftsabbruch. Zur Bedeutung generalisierter Wertsysteme in Konfliktsituationen, 1986.

[5] Zur höheren Chance von Vorbestraften, angeklagt zu werden, Klaus Sessar, Empirische Untersuchungen zu Funktion und Tätigkeit der Staatsanwaltschaft, Zf die gesamte Strafrechtswissenschaft 87, 1975, 1053.

[6] Dazu Rolf Stephani, Die Wegnahme von Waren in Selbstbedienungsgeschäften durch Kunden, Bern 1968, 57; Erhard Blankenburg, Die Selektivität rechtlicher Sanktionen. Eine empirische Untersuchung von Ladendiebstählen, in: Friedrichs, Teilnehmende Beobachtung abweichenden Verhaltens, 1973, 141 ff.

[7] Peters, Richter im Dienste der Macht, 1973, 110 ff.

[8] Diese Benennung ist in der Rechtssoziologie zwar üblich, steht hier aber in Anführungszeichen, weil »lerntheoretisch« aus psychologischer Sicht anders besetzt ist, nämlich als Erwartung von Belohnung oder Strafe.