I. Rituale
Literatur: Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, 1981; Marie Theres Fögen, Ritual und Rechtsfindung, in: Corina Caduff/Gabriele Brandstetter (Hg.), Rituale heute. Theorien – Kontroversen – Entwürfe, 1999, 149-163; Erving Goffman, Interaktionsrituale – Über Verhalten in direkter Kommunikation, 1967/1986; Lars Ostwaldt, Was ist ein Rechtsritual?, in: Reiner Schulze (Hg.), Symbolische Kommunikation vor Gericht in der frühen Neuzeit, 2005, 125-152; Hans-Georg Soeffner, Symbolische Formung. Eine Soziologie des Symbols und des Rituals, 2010; Peter A. Winn, Law and Ritual, Law and Critique 2, 1991, 207-232; deutsch als: Rechtsrituale, in: Andréa Belliger (Hg.), Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, 4. Aufl. 2008, 447-466; Christoph Wulf, Ritual und Recht. Performatives Handeln und mimetisches Wissen, in: Ludger Schwarte (Hg.), Körper und Recht. Anthropologische Dimensionen der Rechtsphilosophie, 2003, 29-43
Der Ritualbegriff wird, ähnlich wie der des Symbols, in der Umgangssprache und leider auch in der Wissenschaft oft schwammig und gedankenlos, meistens mit einem kritischen Beiklang, verwendet. Auch der Begriff des Rituals muss, ähnlich wie der des Symbols, eng gefasst werden, um für die Rechtssoziologie nützlich zu ein.[1]
Der Ritualbegriff hat in der Soziologie eine lange Tradition. Für Durkheim waren Rituale Teil des religiösen Lebens eines Kollektivs. Abgelöst von der Religion sind Rituale sich wiederholende Handlungssequenzen, die sich durch ihre Förmlichkeit und oft auch Feierlichkeit aus dem Alltag herausheben. An archaischen und religiösen Ritualen fällt ihre Alternativenlosigkeit auf.
Die religiösen Rituale waren Großrituale. Doch die Großrituale sind verschwunden. Goffman bezieht sich zwar auf Durkheim, beschäftigt sich aber mit den armseligen Überbleibseln, den kleinen Ritualen der Höflichkeit und des Respekts. Er definiert das Ritual als »eine mechanische, konventionalisierte Handlung, durch die ein Individuum seinen Respekt und seine Ehrerbietung für ein Objekt von höchstem Wert gegenüber diesem Objekt oder seinem Stellvertreter bezeugt« (Das Individuum im öffentlichen Austausch, 1982, S. 139). Es bringt wenig, Handlungssequenzen, allein weil sie zur Routine geworden sind und stereotyp wiederholt werden, zum Ritual zu erklären.
Zwei Merkmale sind mindestens erforderlich, damit ein routinemäßiger Handlungsablauf zum Ritual i.e. S. wird:
- Rituale haben performative Qualität.
- Rituale sind reflexionsfeindlich.
Zu (1): eine Handlung hat performative Qualität, wenn sie, mindestens in den Köpfen der Beteiligten, eine Veränderung mit sich bringt: Nach dem Exorzismus ist der Besessene geheilt; nach dem Eid ist die Aussage glaubhaft, nach der Verkündung ist das Urteil wirksam. Im Recht geht es dabei um eine Umgestaltung der Rechtslage: Insofern wären nicht nur juristische Formen, sondern jede Rechtshandlung mit Gestaltungswirkung, selbst schlichte Willenserklärungen, Rituale. Aber nicht jeder performative Sprech- oder Schreibakt ist ein Ritual. Soziologisch werden die Formen des Rechts erst interessant, wenn und soweit sie an Stelle der ihnen von der Rechtsdogmatik zugeschriebenen Wirkungen andere, latente Funktionen haben.
Zu (2): Ein Ritual kann keine Reflexion vertragen. Wenn bei seinem Vollzug die Sinnfrage gestellt wird, verliert es seinen Charakter. Sprichwörtlich ist der Kommentar, mit dem 1967 der Kommunarde Fritz Teufel als Angeklagter der Aufforderung des Richters nachkam, sich bei seiner Einlassung zu erheben: »Wenn’s der Wahrheitsfindung dient.« Ein Ritual ist eine »Kommunikationsvermeidungskommunikation«; es dient nicht dem Austausch von Informationen, sondern »informiert nur über sich selbst und die Richtigkeit des Vollzugs« (Luhmann, GdG 235 f.).
Man ist geneigt anzunehmen, dass Rituale in historischer Zeit größere Bedeutung hatten als heute, weil die Funktionen, denen die Rituale dienten, heute im Gegensatz zu früher offen angesprochen und zweckrational verfolgt werden.[2] Nach römischem Recht war für den Abschluss wichtiger Verträge die Verwendung bestimmter Wortformeln notwendig, nach germanischem Recht gelegentlich das Berühren des Vertragsgegenstandes mit Hand oder Stab. Heute steht bei allen Rechtsgeschäften der Wille der Vertragsschließenden im Vordergrund. Die Rechtsform ist nur Modus der Willensäußerung. Es kommt auf den Inhalt, nicht auf den buchstäblichen Sinn einer Erklärung an (§ 133 BGB). Das ist die Konsequenz der von Max Weber auf den Begriff gebrachten Entwicklung vom formellen zum materiellen Recht. Rituale haben auch deshalb an Bedeutung verloren, weil sie eine Kommunikation unter Anwesenden voraussetzen. Durch die Schrift und vollends durch die elektronischen Medien ist heute jedoch bei rechtlich relevanten Vorgängen Distanzkommunikation eher der Normalfall. Im modernen Recht muss man die Rituale daher suchen. Noch immer stehen die Anwesenden im Gerichtssaal auf, wenn das Gericht eintritt. Hier geht es allerdings eher um eine singuläre symbolische Handlung als um ein Ritual. Mit Wulf kann man mehr oder weniger alle Handlungsabschnitte von Gerichtsverfahren derart als »Ritual« interpretieren. Aber rechtssoziologisch interessant werden Rituale erst, wenn sie irgendwie pathologisch sind, weil sie nicht reflektiert werden. Als Ritual in diesem engeren Sinne kommt eher der Gesamtablauf von Gerichtsverfahren und insbesondere von Strafverfahren in Betracht wie ihn Harold Garfinkel als Degradationszeremonie analysiert hat.
II. Norm und Tabu
Literatur: Carsten Bäcker, Begrenzte Abwägung. Das Menschenwürdeprinzip und die Unantastbarkeit, Der Staat 55, 2016, 433-460; Wolfgang van den Daele, Moderne Tabus? – Zum Verbot des Klonens von Menschen, in: Hans-Peter Schreiber/Werner Arber (Hg.), Biomedizin und Ethik, 2004, 77-83; Bijan Fateh-Moghadam, Zur Renaissance der Rechts- und Moralsoziologie Emile Durkheims, in: Hermann-Josef Große Kracht (Hg.), Der moderne Glaube an die Menschenwürde, 2014, 129-149; ders. u. a., Säkulare Tabus. Die Begründung von Unverfügbarkeit, 2015; Tatjana Hörnle, Grob anstößiges Verhalten: Strafrechtlicher Schutz von Moral, Gefühlen und Tabus, 2005; Mathias Hong, Abwägungsfeste Rechte, 2019; ders., Todesstrafenverbot und Folterverbot, 2019; Friedhelm Hufen, Erosion der Menschenwürde, JZ 2004, 313-318; Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, 2011; Niklas Luhmann, Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, 1993; Gerhard Kubik, Zur ontogenetischen Basis der Inzestscheu. Ein kulturvergleichender Ansatz, 2003Ralf Poscher, »Die Würde des Menschen ist unantastbar.«, JZ 2004, 756-762; Stephan Rixen, Deformierte Menschenwürde? – Neuere philosophische Beobachtungen zur utilitaristischen Versuchung des Rechts, JZ 2016, 585-594.
Ein Tabu ist ein Gebot oder Verbot, dass jeder Diskussion über seine Sinnhaftigkeit, Berechtigung oder Zweckmäßigkeit entzogen ist. Traditionelle Tabus gibt es in der modernen Gesellschaft praktisch nicht mehr. Aber unter dem political correctness genannten Phänomen entstehen neue. In der deutschen Gesellschaft haben sich viele Tabus aus der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit entwickelt. So gilt es von vornherein als indiskutabel, die Vernichtung der Juden mit einem Völkermord zu vergleichen. Als der Wirtschaftsprofessor Werner Sinn angesichts der Weltfinanzkrise im Oktober 2008 meinte, jetzt würden, ähnlich wie in der Weltwirtschaftskrise von 1929 die Juden, zu Schuldigen gestempelt, obwohl doch viel eher von einem Systemversagen die Rede sein müsse, schlug ihm eine Welle der Empörung entgegen, die ihn zu einer »Entschuldigung« veranlasste, obwohl sein Vergleich alles andere als antisemitisch und auch in der Sache diskutabel war, sollte er doch auf die Tendenz hinweisen, Personen oder Gruppen zu Sündenböcken zu machen.
Eine Tendenz zur Verabsolutierung von Normen, insbesondere von solchen, für die man sich auf die Garantie der Menschenwürde berufen kann, geht dahin, diese Normen zu einem Tabu hochzustilisieren mit der Folge, dass sie als quasi magisch-religiöse Gebote oder Verbote eine Geltung beanspruchen, die gegenüber allen Relativierungsversuchen immun ist.
Der Tabubegriff stammt aus der Ethnologie und hat von daher einen negativen Beiklang als vormodern oder irrational. Dem entgeht die Sakralisierung als alternative Strategie der Begründung unverbrüchlicher Normen. Sie bringt auf einer abstrakteren Ebene das Faszinosum des Heiligen ein. Als Entdecker dieser Strategie gilt der Soziologie Émile Durkheim. Für Durkheim gehört zur Religion nicht unbedingt etwas Göttliches oder Transzendentes. Religion definiert sich vielmehr von ihrer Funktion her:
»Das allgemeinste Ergebnis des Buches ist, daß die Religion eine eminent soziale Angelegenheit ist. Die religiösen Vorstellungen sind Kollektivvorstellungen, die Kollektivwirklichkeiten ausdrücken; die Riten sind Handlungen, die nur im Schoß von versammelten Gruppen entstehen können und die dazu dienen sollen, bestimmte Geisteszustände dieser Gruppen aufrecht zu erhalten oder wieder herzustellen.« (Die elementaren Formen des religiösen Lebens, 1994, 28 [1912])
Die Sakralisierung erfasst primär Objekte und erst aus deren Unverletzlichkeit folgen dann die Normen. Für die Sakralität der Person beruft man sich auf den von Durkheim so genannten »Kult des Individuums«.
»In dem Maß, in dem alle anderen Überzeugungen und Praktiken einen immer weniger religiösen Charakter annehmen, wird das Individuum der Gegenstand einer Art Religion.« (Über die Teilung der sozialen Arbeit, 1988 [1912], 227).
So wird der Glaube an die Menschenrechte und an die universale Menschenwürde zur Religion der Moderne.
Im Anschluss an Durkheim vertritt der Soziologe Hans Joas die These, »dass wir den Aufstieg der Menschenrechte und die Idee universaler Menschenwürde als einen Prozess der Sakralisierung der Person zu verstehen haben« (204). Die Reformen des Strafrechts und der Strafpraxis im 18. Jahrhundert (u. a. Abschaffung von Folter und Körperstrafen) seien der Ausdruck einer tiefreichenden kulturellen Verschiebung, durch welche die menschliche Person selbst »zum heiligen Objekt« geworden sei. (82)
Als 2002 die Folterdrohung des Frankfurter Polizeivizepräsidenten gegen einen Kindesentführer zur Debatte stand, hat Poscher den Umgang mit der Menschenwürde und hier speziell das Folterverbot ausdrücklich als Tabu eingeordnet. Zwar handle es sich dabei zunächst um eine rechtssoziologische Außenbetrachtung des Rechts, die aber im Ergebnis auch für die dogmatische Innensicht maßgeblich sei. Ein Tabu sei dadurch charakterisiert, dass es ohne Begründung und damit absolut und undiskutierbar gelte. Ihm komme allenfalls eine verborgene Rationalität oder Funktionalität zu, nicht zuletzt, weil es zur Identitätsstiftung der Gemeinschaft beitrage. Wenn man allerdings mit Poscher nach der Rationalität des Tabus fragt, ist der Tabucharakter schon zerstört. Dann muss man sich am Ende entscheiden. Immerhin kann man als Entscheidungsgrund heranziehen, was einem Tabu als Funktionalität zugeschrieben wird. Es erschwert einen Dammbruch und kann wohl auch zur Identität der Rechtsgemeinschaft beitragen. Die Gegenposition vertritt Hilgendorf, JZ 2004, 331. Im Fall Gäfgen/Deutschland hat der EGMR am 1. 6. 2010 – 22978/05 – entschieden, dass das Folterverbot des Art. 3 EMRK als absolut zu verstehen ist = NJW 2010 3145-3150. Als amerikanische Stimme zur Absolutheit des Folterverbots: John A. Humbach, The Possibility of Moral Absolutes: Some Thoughts in Response to Jeremy Waldron on Torture, 2011, SSRN 1943779.
Die Abwägungsfrage taucht auf, wenn man die Menschenwürde philosophisch abstrakt oder gar begriffsjuristisch betrachtet. Daher neigt eine Verfassungsinterpretation, die sich auf die philosophische Tradition der Objektformel Kants stützt, dazu, die Menschenwürde in dem Sinne für »unantastbar« zu halten, dass jede Abwägung ausgeschlossen ist. Anders, wenn man der historischen Interpretation des Menschenwürdebegriffs in modernen Verfassungen, bietet der Potsdamer Philosophen Ralf Stoecker folgt. Danach ist die Menschenwürde letztlich nur eine Sammelbezeichnung für personenbezogene Menschenrechte. Anders auch, wenn man die Menschenwürde als bloßes Tatbestandsmerkmal ansieht. Dann stellt sich die Abwägungsfrage erst, wenn man zuvor den Tatbestand eines Eingriffs in die Menschenwürde festgestellt hat. Die Tatbestandsfrage stellt sich etwa, wenn geltend gemacht wird, zur Menschenwürde gehöre ein Selbstbestimmungsrecht der Frau über den Fortbestand einer Schwangerschaft, eine Mindestgröße von Gefängniszellen oder eine Mindesthöhe der Unterstützungszahlungen für Bedürftige. Die Abwägungsfrage wird erst akut, wenn man sich darüber einig ist, dass die Menschenwürde tangiert ist. Davon kann man bei Folter und Körperstrafen ausgehen.
Zuletzt hat Tatjana Hörnle die Handhabung des § 86a StGB durch die Rechtsprechung mit einer Tabuisierung des Hakenkreuzes und ähnlicher Symbole zu erklären versucht. Anlass war die Verurteilung eines Versandhändlers, der T-Shirts, Aufnäher und Anstecker vertrieben hatte, auf denen teils durchgestrichene, teils von einer Faust teilweise verdeckte, zerbrochene Hakenkreuze abgebildet waren, wegen Verbreitung nationalsozialistischer Kennzeichen. Hörnle meint, Hakenkreuze seien als Symbole, die starke Gefühle auslösten, tabuisiert, d.h., man wolle sie schlechthin nicht mehr sehen (Zweierlei Hakenkreuz, FAZ vom 8.11.2006, S. 40). Inzwischen hat der BGH (NJW 2007, 1602) die Verurteilung aufgehoben.
III. Das Befehlsmodell des Rechts
Indem wir die soziale Norm und damit auch die Rechtsnorm als Verhaltensforderung interpre-tieren, folgen wir implizit der sog. Imperativentheorie, die besagt: Jeder vollständige Rechtssatz enthält entweder ein Gebot oder Verbot.
Die Imperativentheorie ist keine innerjuristische Theorie, also nicht bloß ein Vorschlag, wie man das Recht verstehen soll, sondern eine echte Theorie mit empirisch-analytischem Gehalt. Die Elementarteilchen des Rechts lassen sich nur als Gebote und Verbote beschreiben. Alles weitere ergibt sich erst aus einer Kombination verschiedener »Imperative«. Ein subjektives Recht entsteht aus dem Zusammenwirken mehrerer Ge- und Verbote derart, dass im Streit-fall bestimmte Subjekte ermächtigt sind, eine Pflicht einzuklagen. Auch die Ermächtigung zur Klage ist wiederum nur eine Kombination von Geboten und Verboten, die an die Justiz gerichtet sind. Das Selbstverständnis der Juristen ist vom Befehlsmodell des Rechts geprägt, das in der sog. Imperativentheorie[3] seinen Niederschlag gefunden hat. Grundbausteine des Rechts sind danach Verhaltensnormen und subjektive Rechte. Beispiele für Verhaltensnormen geben § 1602 Abs. 2 BGB: Du sollst für den Unterhalt deiner Kinder sorgen!, § 2 StVO: Du sollst auf der Straße rechts fahren! oder das durch § 303 StGB sanktionierte Verbot: Du sollst fremde Sachen nicht beschädigen! Für jede dieser Verhaltensnormen lassen sich mehr oder weniger deutlich abgegrenzte Gruppen von Adressaten und Normbenefiziaren ermitteln. Für den Normbenefiziar stellt sich die Einhaltung der Norm durch den Adressaten zunächst rein faktisch als Vorteil dar. Das Kind erhält Unterhalt. In vielen Fällen ist dieser Vorteil zusätzlich durch sekundäre Normen abgesichert. Wer z. B. entgegen § 903 BGB, 303 StGB fremdes Eigentum verletzt, muß Schadenersatz leisten. Diese (sekundären) Verhaltensnormen werden regelmäßig durch andere Normen ergänzt, die Polizei, Verwaltungsbehörden oder Gericht zu Adressaten haben, und diesen Sanktionssubjekten aufgeben, bei einer Normverletzung einzuschreiten. Sind diese Sanktionsnormen derart konstruiert, dass das Einschreiten auf Verlangen des Normbenefiziars erfolgen muss, so ergibt sich für den Normbenefiziar diejenige Position, die man juristisch ein subjektives Recht nennt. Damit deckt sich das Befehlsmodell des Rechts genau mit dem engeren Begriff der sozialen Norm als einer sanktionsbewehrten Verhaltensforderung.
IV. Sanktionslose Rechtsnormen
Literatur: Dominik E. Arndt, Sinn und Unsinn von Soft Law, 2011; Alan Boyle, Soft Law in International Law-Making, International Law 2, 2006, 141-158; Emilie Hafner-Burton/Kiyoteru Tsutsui, Human Rights in a Globalizing World, American Journal of Sociology 110, 2005, 1373-1411; Bart van Klink/Oliver W. Lembcke, A Fuller Understanding of Legal Validity and Soft Law, in: Pauline Westerman u. a. (Hg.), Legal Validity and Soft Law, 2018, 145-164; Oren Perez, Fuzzy Law. A Theory of Quasi-Legality, Canadian Journal of Law & Jurisprudence XXVIII , 2015, 343-370; Anne Peters, Soft Law as a New Mode of Governance, in: Udo Diedrichs u. a. (Hg.), The Dynamics of Change in EU Governance, 2011, 21-51; Linda Senden, Soft Law in European Community Law, 2004; Linda Senden, Soft Post-Legislative Rulemaking: A Time for More Stringent Control, European Law Journal 19, 2013, 57-75; Oana Ştefan, Soft Law in Court, 2013; Daniel Thürer, »Soft Law« – eine neue Form von Völkerrecht?, ZfSchweizer Recht 1985, 429.
1. Leges Imperfectae
Für das Recht sind Sanktionen bei Nichtbefolgung typisch. Das bedeutet aber nicht, dass ausnahmslos jede Rechtsnorm mit einer Sanktionsdrohung versehen sein müsste. Doch die Ausnahmen sind selten. Ein Beispiel hat das Bundesverfassungsgericht mit der rechtswidrigen, aber straffreien Abtreibung erfunden.
Sanktionslose Normen heißen traditionell leges imperfectae. Der lateinische Ausdruck geht zurück auf eine Dreiteilung, die (außerhalb des Corpus Juris) von dem klassischen Juristen Ulpian überliefert ist. Sie betrifft eigentlich nur die Frage verbotswidriger Rechtsgeschäfte. Danach ist bei Verbotsgesetzen zu unterscheiden: Verstöße gegen leges perfectae bewirken die Unwirksamkeit des Rechtsgeschäfts; bei leges minus quam perfectae bleibt das Geschäft gültig, seine Vornahme wird aber mit Strafe bedroht, während leges imperfectae weder Unwirksamkeit noch Strafe nach sich ziehen. Leges plus quam perfectae nennt man solche Gesetze, die sowohl Unwirksamkeit als auch Strafe zur Folge haben.
2. Soft Law
Der Begriff des Soft Law wurde ursprünglich für das Völkerrecht vorgeschlagen (Thürer). Ein etablierter Gegenbegriff fehlt. In Betracht kommt strict law oder striktes Recht. Streng genommen ist alles Völkerrecht »soft« in dem Sinne, dass es an einer den Völkerrechtssubjekten übergeordneten Instanz mit Sanktionsmacht fehlt. Das traditionelle Völkerrecht ist aber doch, mag es auch nur Vertragsform haben, von den Beteiligten verbindlich gemeint. Als Soft Law bezeichnet man deshalb von Völkerrechtsubjekten geschaffene Regelungen, die zwar in objektiver Form Verpflichtungen zum Ausdruck bringen, die aber subjektiv im Verhältnis zwischen den Beteiligten nur Appellcharakter haben. Dieser Weg wird besonders dann gewählt, wenn es um neue und strittige Themen geht. Nicht selten ist Soft Law dann eine Übergangslösung auf dem Weg zu verbindlicheren Regelungen. Ein Beispiel ist die 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Heute werden als Beispiele für völkerrechtliches Soft Law vor allem die Empfehlungen von Unterorganisationen der UN wie der ILO, der UNESCO usw. genannt. Für das Europarecht ist Soft Law durch Art. 288 AEUV zum Thema geworden. Dort erscheinen neben Verordnungen, Richtlinien und Beschlüssen Empfehlungen und Stellungnahmen als Rechtsakte der Union. Jedoch heißt es in Abs. 5: »Die Empfehlungen und Stellungnahmen sind nicht verbindlich.« Von diesem Mittel macht die Kommission vor allem dann Gebrauch, wenn sie auf einem Gebiet tätig werden will, für das ihr die Kompetenz zu verbindlicher Rechtsetzung fehlt wie in der Sozialpolitik und im Bildungsbereich (»Bologna«). Man spricht dann von der »offenen Methode der Koordinierung«. Solches Soft Law ist also insofern offizielles Recht, als es von Instanzen formuliert wird, die auch für die Schaffung strikten Rechts zuständig sind.
Sanktionsloses Recht ist nicht unwirksam. Leges imperfectae sind nicht von vornherein wirkungslos. Selbst bloße Empfehlungen ziehen oft indirekt Sanktionen nach sich. Als das Anlegen der Sicherheitsgurte noch nicht verbindlich vorgeschrieben war, wurde die Missachtung dieser »Empfehlung« nach § 254 BGB als Mitverschulden berücksichtigt. Lange hat man sich geweigert, auch die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit als Mitverschulden zu behandeln, bis der BGH auch hier vorangegangen ist (BGHZ 117, 337). Ein wichtiges Instrument zur Durchsetzung von zunächst unverbindlichen Verpflichtungen sind Berichtspflichten.
Zur Umsetzung der OECD Guidelines for Multinational Enterprises haben alle Vertragsstaaten haben Nationale Kontaktstellen (National Contact Points) eingerichtet, die für die Verbreitung und Einhaltung der Leitsätze werben sollen und an die Verstöße gegen die Leitsätze gemeldet werden können. Vor allem Gewerkschaften und NGOs nutzen dieses Verfahren. Die vorgebrachten Fälle werden dann in einem mediationsähnlichen Verfahren mit dem betreffenden Unternehmen erörtert. Solche Beschwerden werden vor allem von Gewerkschaften und NGOs eingelegt. Sie führen dann zu einem Untersuchungs- und Ermittlungsverfahren, und das Ergebnis wird am Ende auch veröffentlicht.
Schon die bloße Formulierung von (sanktionslosen) Pflichten in offiziellen Texten hat einen kommunikativen Effekt:
»Einmal verschriftlicht, sind unverbindliche Rechtssätze unabhängig von ihrem Rechtsstatus als Werkzeug viel zu attraktiv, um in Wissenschaft und Praxis nicht angewandt zu werden. Mit ihnen kann der beschwerliche Weg, Gewohnheitsrecht festzustellen, abgekürzt werden.« (Maria Prietz, Weiches Recht und normative Härtung, 2022; S. 257)
Die normative Attraktivität von Soft Law folgt nicht zuletzt daraus, dass es häufig für Verpflichtungen in Anspruch genommen wird, bei denen Menschenrechte im Hintergrund stehen. So ist Soft Law zur Stütze einer globalen Zivilgesellschaft geworden, und ab einer gewissen Entwicklungsstufe kommt es anscheinend zur Selbstverstärkung durch einen positiven Einfluss der Menschenrechte auf die wirtschaftliche Entwicklung (Hafner-Burton/Tsutsui).
3. Light Law
Light Law nenne ich Ordnungen (Codes of Conduct), die zwischen Recht, Moral und Management angesiedelt sind. Unterhalb der klassischen Rechtsquellen wie Gesetz, Verordnung und Satzung gab es immer schon interne Ordnungen als Hausordnungen, Disziplinarordnungen, Betriebsordnungen, Seminarordnungen usw. Sie fügen sich in den Stufenbau der Rechtsordnung ein, indem sie von der Kompetenz zur Selbstverwaltung oder Autonomie Gebrauch machen. Damit haben sie am Ende auch Rechtsqualität. Solche Ordnungen hatten und haben technischen oder funktionalen Charakter (Öffnungszeiten, Ruhezeiten, Essenszeiten, Zutrittsberechtigungen, Schutzvorkehrungen, Verantwortlichkeiten usw.).
Die neuen Ordnungen des Light Law sehen aus wie Recht, sind aber keines, mögen auch die Übergänge fließend sein. Sie wiederholen in großem Umfang einschlägige Rechtsnormen. Aber es handelt sich nicht um Kompendien, in denen das geltende Recht für die Anwendung innerhalb von Organisationen aufbereitet wird, wie es gelegentlich durch Verwaltungsvorschriften geschieht. Das Light Law der neuen Ordnungen hat vielmehr einen überschießenden Gehalt.
Oft ist dieser Gehalt »moralisch«. Das zeigt sich gelegentlich schon in der Überschrift, z. B. Code of Ethics and Conduct for European Nursing. Moral im Sinne von Sozialmoral ist informell. Sie kennt zwar viele Verhaltensregeln. Aber die sind keiner bestimmten Person oder Organisation zuzurechnen. Sie sind nicht kodifiziert und dennoch als »Sitte und Anstand« bewusst und wirksam. Anders liegt es mit der philosophischen Ethik. Darüber werden dicke Bücher geschrieben, doch es gibt keine ausformulierten Verhaltensregeln, die im Publikum lebendig sind. Nun zeigt sich: Die Moderne, in der man sich über die Normenflut beklagte, und die Postmoderne, die Normen zu Fiktionen erklärte, sind Vergangenheit. Die Gesellschaft zeigt einen unstillbaren Normenhunger und begegnet ihm mit immer neuem Light Law.
Mit der Trennung von Recht und Moral durch den modernen Rechtspositivismus ist die Welt nicht glücklich geworden. Sie zeigt Sympathie für moralische Illegalität (z. B. der Klimakleber) und kritisiert umgekehrt legale Immoralität (z. B. an Aktivitäten der AfD). Hier tut sich eine Lücke für das Light Law auf. Von der Moral führt ein kurzer Weg zu politischem Engagement. Politik hat viele Themen besetzt, die über lange Zeit »nur« als moralische gegenwärtig waren. Klimaschutz und Nachhaltigkeit, Gleichstellung und Diversität, der Kampf gegen Rassismus und Diskriminierungen aller Art und gegen antidemokratische Bestrebungen stehen auf der Agenda der Politik. Jetzt dreht die Politik den Spieß um und verlangt von Organisationen aller Art moralisches Engagement für ihre Ziele. Solches Engagement zeigten z. B. die Gleichstellungsbeauftragten von ARD, ZDF, ORF und Deutscher Welle, als sie zum Weltfrauentag den gemeinsamen sogenannten »Baukasten gegen Sexismus« vorstellten. Er enthält verpflichtende und freiwillige Maßnahmen gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Der »Leitfaden für eine diskriminierungsfreie und gendergerechte Sprache in juristischen Ausbildungsfällen an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum« gibt sich als bloße Empfehlung, bietet aber ein moralisch-politisches Manifest. In diese Reihe gehöret auch das wundersame Framing-Manual der ARD.
Vor allem aber hat das Light Law eine Management-Funktion. Große Organisationen (Unternehmen), die oft viele Tausend Menschen beschäftigen, haben intern ähnliche Probleme wie der Staat mit seinen Bürgern. Sie müssen ihre Mitarbeiter veranlassen, positiv im Sinne der Unternehmensziele tätig zu werden und alles zu unterlassen, was dem Unternehmen Schaden bringen könnte. Dazu reichen individuelle Weisungen nicht aus. Vielmehr sind organisatorische Maßnahmen und allgemeine Regeln notwendig. Als solche dienen codes of conduct, Regeln guter Praxis, Leitbilder und Sprach-Leitfäden usw. Dafür hat sich jenseits der Anwaltschaft eine Beratungsindustrie etabliert. Eine Webseite, die Schulungen anbietet, zeigt die Rechtsnähe, indem sie unter Lawpilots firmiert. Auf der Internetseite eines anderen Anbieters wird definiert:
»Ein Code of Conduct – auf Deutsch Verhaltenskodex – ist eine Sammlung von Verhaltensweisen, die für die Mitarbeitenden eines Unternehmens gelten. Er enthält Richtlinien dafür, wie sich die Mitarbeitenden rechtlich korrekt, ethisch und sozial verhalten sollen.«
Die Konjunktur neuer »Ordnungen« als Instrument des Managements wird aus drei Richtungen angetrieben, die sich wechselseitig verstärken. Der informelle, gesellschaftliche Antrieb kommt aus der Wirtschaftsethik (Business Ethics), wo sich die Ansicht durchgesetzt hat, alle größeren Firmen müssten schriftlich fixierte Verhaltensregeln haben. Man sucht nicht vergebens, ob bei Audi, BASF oder RWE. Zweitens erklären sich die neuen »Ordnungen« daraus, dass Compliance zum Rechtsinstitut geworden ist, das heißt, dass von größeren Organisationen Vorkehrungen zur Einhaltung des Rechts erwartet werden. Drittens ist die Außendarstellung für Unternehmen immer wichtiger geworden. Dazu braucht man »Leitbilder«, die sich vorzeigen lassen.
Dem Light Law fehlt der unmittelbare Anschluss an das offizielle Recht. Es kann aber, ähnlich wie Soft Law, mittelbar rechtlich erheblich werden.
IV. Das Unbestimmtheitstheorem
Literatur: Lorenz Kähler, The Indeterminacy of Legal Indeterminacy, ARSP Beiheft 102, 2005, 77-84; Ken Kress, Legal Indeterminacy, California Law Review 77, 1989, 283-337.
Ein zentraler Angriffspunkt der Rechtskritik lautet: Das Recht ist unbestimmt. Es kann daher seine Versprechen nicht einhalten, denn es ist fremden Mächten ausgeliefert. Die Rechtstheorie erwidert: Das Recht ist zwar in vieler Hinsicht unbestimmt. Aber gerade daraus gewinnt es seine Leistungsfähigkeit.
Das Phänomen der Unbestimmtheit von Regeln ist altbekannt:
»Die Fülle des Lebens, und, zumal bei einer Kodifikation, das Ineinandergreifen der geplanten Rechtsnormen lassen sich nicht übersehen. Daneben stehen aber die großen Schwierigkeiten der begrifflichen Redaktion. Namentlich ist hervorzuheben, daß die Mehrdeutigkeit der verwendbaren Worte notwendig eine Unbestimmtheit der Gesetzesgebote zur Folge hat. Mit verschwindender Ausnahme ist jedes Wort mehrdeutig. Ein sicherer Bedeutungskern ist von einem allmählich verschwindenden Bedeutungshof umgeben. Diese Unbestimmtheit verhindert schon für den Gesetzgeber die Bildung von Gebotsvorstellungen, welche für alle Anwendungsfälle bestimmte Ergebnisse liefern, und macht es eventuell dem Richter unmöglich, solche Vorstellungen, wenn sie vorhanden waren, zu erkennen« (Philipp Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112, 1914, 89f, 173 f.)
Die Unbestimmtheit des Rechts zeigt sich zunächst als semantische Unbestimmtheit in der Vagheit, Porosität und Abstraktionsfähigkeit der Sprache. Die Unbestimmtheit zeigt sich weiter, in der prinzipiellen Unvollständigkeit des Rechts (defeasibility of legal rules). Gemeint ist, dass es unmöglich ist, alle Anwendungsfälle einer Regel zu bedenken und dabei alle Konstellationen vorweg zu nehmen, die eine Ausnahme von der Regel erfordern. Insoweit folgt die Unbestimmtheit aus der Natur der Sache, das heißt hier, aus der Notwendigkeit der Abstraktion und aus den beschränkten Möglichkeiten einer auf die Gestaltung der Zukunft gerichteten sprachlichen Verständigung.
Im Blick auf die offene Zukunft nutzt das Recht gezielt Elemente, die die (semantische) Unbestimmtheit auf der Stirn tragen. Solche Unbestimmtheit entsteht durch gezielten Einsatz von gradualisierbaren oder unvollständig kombinatorisch definierten Tatbestandsmerkmalen oder gar Generalklauseln, kurz, von unbestimmten Rechtsbegriffen. Daraus ergeben sich mehr oder weniger »harte« und »weiche« Normen.
Die Frage, ob die Unbestimmtheit des Rechts Vorteil oder Nachteil sei, ist müßig, denn es gibt keine Alternative. Wollte man unbestimmte Normen vermeiden, so müsste man das Korpus strikter Regeln auf Dauer exponentiell erweitern. Immerhin gibt es ein Mehr oder Weniger. Vor allem die Gesetzgebung verfügt insoweit über einige Stellschrauben. Einige werden in den folgenden Abschnitten thematisiert. Letztlich geht es um eine Optimierungsaufgabe, bei der es zwischen Rechtssicherheit und Angemessenheit im Einzelfall, Vollständigkeit und Zukunftsfähigkeit, Effektivität und Kosten zu vermitteln gilt.
Die Gegenfrage lautet immer wieder: Wie gelingt es die Unbestimmtheit so in den Griff zu bekommen, dass das Recht nicht fremden Mächten ausgeliefert ist. Darauf gibt es einige große und viele kleine Antworten. Die großen Antworten werden unter Stichworten wie Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz, Funktion der Rechtsdogmatik und Grundrechts-, Wert- und Prinzipienbindung abgehandelt. Kleinere Antworten laufen unter Überschriften wie Interpretation, Konkretisierung oder Präzisierung. Sie finden sich in der Methodenlehre oder in der Dogmatik, z. B. des Verwaltungsrechts, wenn sie Beurteilungsspielräume festlegt und Regeln für die Ermessenskontrolle aufstellt oder im Revisionsrecht bei der Frage, ob dem Tatrichter für »originäre Wertungsspielräume« ein nicht überprüfbarer Beurteilungsspielraum bleibt. Am Ende gilt: Die Unbestimmtheit ist eine unvermeidliche Eigenschaft des Rechts, die als solche keinen Anlass zur Kritik gibt.
V. »Harte« und »weiche« Normen
Literatur: Colin S. Diver, The Optimal Precision of Administrative Rules, Yale Law Journal 93 (1983) 203; Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956, 4. Aufl. 1990; Louis Kaplow, A Model of the Optimal Complexity of Legal Rules, Journal of Law, Economics & Organization 11 (1995) 150; ders., General Characteristics of Rules, in: Boudewijn Bouckaert/Gerrit De Geest (Hg.), Encyclopedia of Law and Economics, Bd. IX, 2000, 502; Richard A. Posner/Isaac Ehrlich, An Economic Analysis of Legal Rulemaking, Jounal of Legal Studies 3 (1975) 257; Jörg Pflüger, Wo die Quantität in Qualität umschlägt. Notizen zum Verhältnis von Analogem und Digitalem, in: Martin Warnke u. a. (Hg.), HyperKult II, 2005, 27–94; Roscoe Pound, The Administrative Application of Legal Standards, Reports of the American Bar Association 44 (1919), 445; Pierre Schlag, Rules and Standards, UCLA Law Review 33 (1985) 379; Thomas Ulen, Präzise und unpräzise Verhaltensnormen im Lichte begrenzter Rationalität, in: Claus Ott/Hans-Bernd Schäfer (Hrsg.), Die Präventivwirkung zivil- und strafrechtlicher Sanktionen, 1999, 346.
In der Rechtswissenschaft unterscheidet man zwischen bestimmten und unbestimmten Rechtsnormen. Viele Normen sind relativ bestimmt wie z.B. die Abstandsvorschriften im Baurecht. Andere sind höchst unbestimmt, z.B. § 138 BGB, der besagt, dass Rechtsgeschäfte bei Verstoß gegen die guten Sitten unwirksam sein sollen. Juristisch geht es in erster Linie um die Frage, wie sich unbestimmte Rechtsnormen so konkretisieren lassen, dass sie anwendungsfähig werden.
Für die soziologische Betrachtung ist es hilfreich, zunächst eine von der juristischen abweichende Begrifflichkeit einzuführen. Amerikaner unterscheiden zwischen rules und standards. Rules zeichnen sich dadurch aus, dass sie im Wege semantischer Interpretation (Subsumtion) anwendbar sind. Bei den standards muss der Subsumtion eine Konkretisierung vorausgehen. Legal standard lässt sich nicht einfach als Standard ins Deutsche übersetzen. Nach neuerem Sprachgebrauch sind Standards ausformulierte private Regelwerke wie DIN-Normen oder Regeln der Rechnungslegung. Wir behelfen uns damit, dass wir von »harten« und »weichen« Normen sprechen. Unter »harten« Normen verstehen wird solche, die sich im Wege semantischer Interpretation konkretisieren lassen. »Weich« sind solche Normen, die dem Anwender einen größeren Spielraum geben.
Für beide Normtypen bietet die Straßenverkehrsordnung viele Beispiele. Subsumtionsfähig sind etwa folgende Regeln: Die zulässige Höchstgeschwindigkeit beträgt innerhalb geschlossener Ortschaften 50 km/h. Es ist links zu überholen. Krafträder dürfen nicht abgeschleppt werden. Relativ unbestimmt sind dagegen folgende Normen: Der Fahrzeugführer darf nur so schnell fahren, dass er sein Fahrzeug ständig beherrscht. Bei der Benutzung von Fahrzeugen sind unnötiger Lärm und vermeidbare Abgasbelästigungen verboten. Wer ein- oder aussteigt, muss sich so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.
In den Beispielen geht es jeweils um die Tatbestandsseite (Verhaltensnorm). Bestimmtheit und Unbestimmtheit sind aber auch auf der Rechtsfolgenseite anzutreffen, so allgemein im Strafrecht, wo nur § 211 StGB für Mord eine bestimmte Strafe vorsieht (lebenslänglich), während sonst stets ein Strafrahmen zur Verfügung steht, innerhalb dessen eine konkrete Strafe gefunden werden Muss. Und selbst für Mord hat der BGH in kühner Rechtsfortbildung den Strafrahmen nach unten erweitert (BGHSt 30, 105 = NJW 1981, 1065).
Die Gegenüberstellung von »harten« und »weichen« Normen wird in der Jurisprudenz regelmäßig nur unter dem Gesichtspunkt relevant, wie sich »weiche« Normen konkretisieren lassen[4], ist aber noch unter ganz anderen Gesichtspunkten interessant:
- Die Unbestimmtheit einer Norm erscheint auf den ersten Blick als ein Defizit. Wenn man aber in die Wirklichkeit sieht, die »Fälle« in einer Vielfalt bereit hält, die sich auch der klügste Gesetzgeber nicht ausdenken kann, dann wird die Unbestimmtheit der Norm zu einem Vorzug, denn sie hilft, den Besonderheiten des Falles Rechnung zu tragen.
- In der ökonomischen Theorie des Rechts diskutiert man über die Vorzüge und Nachteile der beiden Normtypen. »Harte« Regeln müssen genau sein und verlangen daher mehr Aufwand bei ihrer Formulierung. Sie können jedoch den Vollzug erleichtern und damit Kosten sparen. Zugunsten »harter« Regeln werden immer wieder Rechtssicherheit und die Abschreckungswirkung ins Feld geführt, dagegen, dass sie dem durch O. W. Holmes sprichwörtlich gewordenen »bad man« gestatten, berechnend bis an die Grenzen zu gehen. »Weiche« Normen dagegen veranlassen die Adressaten zu situationsadäquatem Verhalten auf der Linie des Gesetzeszwecks. Auf der anderen Seite können weiche Normen risikoscheue Menschen von wünschenswerten Aktivitäten abhalten und umgekehrt risikofreudige Personen zu Grenzüberschreitungen veranlassen. Ähnlich liefern »harte« Regeln zwar eine klare Abgrenzung bei der Delegation von Befugnissen, fördern jedoch Verantwortungsscheu, während weiche Normen dazu veranlassen können, von Vollmachten sinnvoll Gebrauch zu machen. Schließlich können »harte« Regeln zwar in vielen Situationen für klare Information sorgen und Informationskosten reduzieren. Sie empfehlen sich daher, wenn das zu regulierende Verhalten ein Massenphänomen ist, wie z.B. im Straßenverkehr. Dort kann allerdings die Flüssigkeit des Verkehrs darunter leiden. »Harte« Regeln können andererseits die Kommunikation beschränken und Missverständnisse herbeiführen, während »weiche« Normen durch Vermeidung von Ritualen und Formalitäten eine breitere Kommunikation anregen und dadurch Verständigung fördern.
- Man kann verschiedene Arten »weicher« Normen aufzeigen. Zuerst denkt man natürlich an die sog. Generalklauseln. Als Generalklauseln werden in erster Linie einige Formeln von einiger Tradition und Prominenz bezeichnet, nämlich Treu und Glauben, die guten Sitten, der wichtige Grund und die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Mit der Schuldrechtsreform haben Generalklauseln auf breiter Front in das Zivilrecht einzug gehalten. Als »weiche« Normen drängen sich ferner solche auf, die vom Anwender eine Abwägung oder eine Ermessensentscheidung verlangen. »Weich« sind auch informelle außerrechtliche Maßstäbe, auf die das Recht verweist, z.B. Wert-, Pflicht- oder Sorgfaltsanschauungen, wie sie allgemein oder in bestimmten Verkehrskreisen anzutreffen sind (Esser, S. 95 f.). Hierfür ist in Deutschland ebenfalls der Begriff »Standard« geläufig – wie übrigens früher auch im anglo-amerikanischen Raum. Es geht um den Standard verkehrsüblicher Sorgfalt, eines ordentlichen Kaufmanns oder des lauteren Wettbewerbs, um den Facharztstandard oder um den Stand der Technik. Auch der gesetzliche Verweis auf Treu und Glauben oder auf die Verkehrssitte ist in diesem Sinne ein Standard. Durch einen solchen Standard wird der Rechtsanwender auf einen empirisch vorhandenen Maßstab verwiesen. Teilweise spricht man deshalb auch von Maßstabsnormen.
Diese Benennung stiftet allerdings leicht Verwirrung, denn von Maßstabsnomen oder Maßstabsgesetzen redet man auch bei dem zweistufigen Gesetzgebungsverfahren, das das Bundesverfassungsgericht für die Regelung des Finanzausgleichs zwischen Bund und Ländern gefordert hat: Zunächst soll ein Gesetz beschlossen werden, das die Maßstäbe für den Finanzausgleich festlegt. Erst im Anschluss daran soll ein weiteres Gesetz die konkreten Zahlungspflichten und Ansprüche bestimmen (BVerfGE 101, 158). Spätestens seit dieser Entscheidung wird die Möglichkeit diskutiert, die Qualität von Gesetzen durch sog. Grundlagengesetze zu verbessern (z.B. Ulrich Smeddinck, ZG 22 (2007), 62). Das Problem solcher Gesetze liegt darin, dass sie gegenüber Durchbrechungen keine erhöhte Bestandsfestigkeit aufweisen.
Die Restkategorie von Ausdrücken gesteigerter Vagheit, die eine Norm »weich« machen, bilden die sog. unbestimmten Rechtsbegriffe. Hier kann man wieder drei Gruppen unterscheiden. In der ersten bezieht sich die gesteigerte Vagheit auf den Sachverhalt (z.B. »unnötiger Lärm«, »vermeidbare Abgasbelästigung«). Hinsichtlich der zweiten Gruppe spricht man von wertausfüllungsbedürftigen Begriffen (z.B. »niedrige Beweggründe« in § 211 StGB). Eine dritte Gruppe schließlich, die selten besonders bedacht wird, umfasst Begriffe wie »erheblich«, »geringfügig« oder »auffälliges Missverhältnis« (§ 138 BGB) und natürlich »verhältnismäßig« bei jeder Güterabwägung. Hier geht es darum, auf einer gleitenden Skala den Schwellenwert festzulegen.
Im Strafrecht dürfte es wegen Art. 103 II GG eigentlich gar keine unbestimmten Rechtsbegriffe geben, von denen die Strafbarkeit abhängt. Durch eine Reform im Jahre 1973 wurde der wertausfüllungsbedürftige Begriff der »unzüchtigen Handlung« bei den Sexualdelikten durch den eher beschreibenden Begriff der »sexuellen Handlung« ersetzt. Aber es bleiben immer noch Begriffe wie das »empfindliche Übel« (in §§ 106, 108, 240 StGB), die nicht so hart sind wie deskriptive Begriffe.[5]
- Man kann die Unterscheidung zwischen »harten« und »weichen« Normen relativieren, indem man aufzeigt, wie einerseits »weiche« Normen nicht erst im Einzelfall bei ihrer Anwendung, sondern vielfach schon auf Vorrat durch Präjudizien und Kommentarliteratur zu »harten« Regeln kleingearbeitet werden, und wie andererseits auch »harte« Regeln, wenn sich der Kontext verändert, zu »weichen« Normen werden können.
- Man kann ferner zwischen (»weichen«) Normen und Prinzipien unterscheiden. Ob es sich nur um eine graduelle Abstufung handelt oder ob Prinzipien ein aliud darstellen, ist unter Juristen umstritten.[6]
- Man kann die Verfahren zur Konkretisierung »weicher« Normen erörtern. Das geschieht in der juristischen Methodenlehre.
- Man kann behaupten und zu belegen versuchen, dass im modernen Recht »harte« Rechtsnormen zunehmend durch »weiche« verdrängt werden. Unter anderem darum geht es bei der Unterscheidung von Konditional- und Zweckprogrammen (o. 9 VI).
- Man kann die Zuständigkeit für die Konkretisierung »weicher« Normen zum Thema machen. Im Privatrecht handeln die Beteiligten zunächst auf eigenes Risiko. Sie müssen versuchen zu prognostizieren, wie die Gerichte entscheiden, denn die werden erst im Streitfall tätig. Im öffentlichen Recht ist die Zuständigkeit zur Konkretisierung unbestimmter Normen auf Verwaltung und Gerichte verteilt. Mit Kaplow kann man den Unterschied zwischen rules und standards darin finden, dass standards erst ex post konkretisiert werden. Die Verhaltenswirksamkeit von Standards, muss darunter nicht unbedingt leiden, wenn sie die Beteiligten zur Vorsicht veranlassen.
- »Harte« oder »weiche« Normen – das ist auch eine Stilfrage der Rechtskultur.
VI. Andere Rechtsformen
Das Recht kennt aber auch eine Vielzahl von Regelungen, die sich dem soziologischen Normbegriff nicht ohne weiteres fügen wollen.
Regelungsangebote: Ein wesentlicher Teil insbesondere des Privatrechts besteht in bloßen Regelungsangeboten. Man muß keine Hypotheken bestellen und erst recht keinen Nießbrauch. Niemand ist rechtlich verpflichtet, ein Testament zu errichten, ja nicht einmal zu heiraten, wenn er mit einem Partner anderen Geschlechts dauerhaft zusammenlebt. Niemand muss seine Arbeit unterbrechen, um Elterneld in Anspruch zu nehmen. Vielmehr handelt es sich um Rechtsformen, von denen man bei Bedarf Gebrauch machen kann (vgl. § 29, 3).
Verfahrens und Organisationsnormen: Verfahrens und Organisationsregeln sind nicht auf die Justiz beschränkt, sondern begegnen überall da, wo planmäßige, auf Dauer angelegte Zusammenarbeit Organisationen entstehen läßt, also vom kleinen Verein bis hin zum Staat. Das moderne Recht kennt ferner Regeln darüber, was als Recht gelten soll und wie Normen geändert werden können. Ein Rechtstheoretiker wird imstande sein, diese Normenkomplexe mit Hilfe der Imperativentheorie zu interpretieren, indem er die einzelnen Verfahrens und Organisationsregeln als unvollständige Normen begreift, die erst in ihrem Zusammenwirken Verhaltensnormen für bestimmte Personen abgeben. Eine solche Interpretation erscheint jedoch für die empirische Betrachtung selten angemessen. Hier muss man diese Normen als neue, eigenartige Regelungszusammenhänge begreifen.
Zweckprogramme: Ähnliches gilt für eine dritte Form rechtlicher Normierung, die Zweckprogramm, Aufgabennorm oder Direktive genannt wird. Dieser Normtyp beschreibt zu bewirkende Wirkungen, Verkehrssicherheit etwa, Reinhaltung der Luft, Stabilität der Währung oder Vollbeschäftigung. Es bleibt Sache des Anwenders, als Mittel zum Zweck geeignete Verhaltensweisen auszuwählen. Das Begriffspaar Zweckprogramme – Konditionalprogramme ist durch Niklas Luhmann prominent geworden (o. § 9 IV). Zweckprogramme sind von Generalklauseln verschieden, denn die Zweckvorgabe ist, jedenfalls im Prinzip durchaus operational gedacht. Zwecke müssen, um verhaltenswirksam zu werden, durch Auswahl geeigneter Verhaltensweisen in Verhaltensnormen umgesetzt werden. Zwischen die Programmvorgabe und den Vollzug schiebt sich der Vorgang der Implementierung (§ 47). Sie vollzieht sich in bürokratischen Planungs und Entscheidungsprozessen, bei denen vielfach mehrere Organisationen zusammenwirken und auch die letztlich betroffenen Bürger gelegentlich die Möglichkeit zur Partizipation erhalten. Hier ergeben sich vielfältige Probleme, die sich mit der soziologischen Normvorstellung nicht mehr hinreichend analysieren lassen.
Anreizprogramme: Auch Subventionen, Steuervergünstigungen und andere Förder oder Anreizprogramme, die in Rechtsform gekleidet werden, lassen sich nicht mehr adäquat als Normen im engeren Sinne verstehen. Die gewährten Vergünstigungen können nicht als positive Sanktionen gelten, denn das gewünschte Verhalten wird nicht als Pflicht gefordert. Es genügt auch nicht, dass die gewährten Vergünstigungen notfalls einklagbar sind, dass also die Stellen, die die Vergünstigungen verteilen, unter Sanktionsdrohung stehen. Der Schwerpunkt solcher Regelungen liegt nicht bei diesen Sanktionen, sondern in dem durch die Belohnungen hergestellten Tauschcharakter. Manche Transferprogramme, z. B. die Sozialhilfe oder die Kindergeldgesetzgebung, haben nicht einmal Anreizcharakter. Steuer und Abgabengesetze lassen sich dagegen noch als negativ sanktionierte Verhaltensnormen begreifen.
Prozedurale Regelungen: Große Bedeutung haben im modernen Recht prozedurale Regelungen erlangt. Mit ihnen verzichtet der Normgeber auf eine unmittelbare Steuerung und schafft stattdessen Verfahren, in denen die beteiligten Gruppen selbst eine Lösung bestimmter Probleme finden müssen. In diesen Verfahren wird nicht über die Einhaltung von Normen und die Verhängung von Sanktionen entschieden, sondern es werden konkrete Verhaltensmaßstäbe erst festgelegt. Ein Beispiel dafür ist die Mitbestimmungsregelung der Betriebsverfassung, die vor allem einen verfahrensmäßigen Rahmen vorgibt, innerhalb dessen Arbeitgeber und Arbeitnehmer einen Interessenausgleich finden müssen. Ein anderes Beispiel geben die sog. Planfeststellungsverfahren, wie sie vor größeren Bauvorhaben (Straßen und Eisenbahnen, Kraftwerke oder Atomanlagen) vorgeschrieben sind, und an denen eine ganze Reihe von Behörden und Privaten beteiligt sind. In anderem Zusammenhang ist von Mediatisierung des Rechts oder von reflexivem Recht die Rede. Diese Rechtsformen sind soziologisch soweit theoretisiert worden, dass sie nachfolgend einen eigenen Abschnitt erhalten.
Regeln über die Bereitstellung von Infrastruktur: Auch Rechtsregeln über die Bereitstellung von Infrastruktur, z. B. von Straßen, Schulen oder von einer für den Zahlungsverkehr verfügbaren Währung werden in ihrer Funktion nicht hinreichend erfasst, wenn man sie als Imperative an bestimmte Beamte versteht, die für die entsprechenden Vorkehrungen etwa bei Disziplinarstrafe oder Strafe des Verlustes ihrer Stellung zu sorgen haben. Hier geht es um komplexere Mittel zur Steuerung der Gesellschaft.
Soweit geht immer noch mindestens mittelbar um Rechtsnormen. Doch Recht ist letztlich mehr und anderes als ein Komplex von Normen und Personen, die nach Normen handeln oder dagegen verstoßen, nämlich eine spezifische Sicht der Menschen auf ihre Realität. »Recht« ist ein symbolisches Universum, ähnlich wie »Geschichte«, »Religion« oder »Wissenschaft«. Viele Situationen beziehen ihre Bedeutung für die Beteiligten aus ihren Vorstellungen über »Recht«. Damit wird Recht zu einem Bestandteil von Kultur.
VII. Reflexives und prozedurales Recht
Literatur: Gralf-Peter Calliess, Prozedurales Recht, 1999; Klaus Eder, Prozedurale Rationalität, ZfRSoz 7 (1985), 1; ders., Prozedurales Recht und Prozeduralisierung des Rechts, in: Dieter Grimm (Hg.), Wachsende Staatsaufgaben, sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, 155; Wolfgang Karl-Heinz Ladeur »Prozedurale Rationalität« – Steigerung der Legitimationsfähigkeit oder der Leistungsfähigkeit des Rechtssystems?, ZfRSoz 7 (1986), 265; ders., Selbstorganisation sozialer Systeme und Prozeduralisierung des Rechts, in: Dieter Grimm, (Hg.), Wachsende Staatsaufgaben – sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, 187; ders., Postmoderne Rechtstheorie, 2. Aufl. 1995; Niklas Luhmann, Einige Probleme mit reflexivem Recht, ZfRSoz 7 (1985), 1; Peter Nahamowitz, »Reflexives Recht«: Das unmögliche Ideal eines postinterventionistischen Steuerungskonzepts, ZfRSoz 7 (1985), 29; Markus Pöcker/Sarah Wilkens, Die systemtheoretische Eisenbahn, KritV 85 (2002), 334; Markus Pöcker; Fehlende Kommunikation und die Folgen, Verw. 37 (2004), 509; Gunther Teubner, Reflexives Recht: Entwicklungsmodelle des Rechts in vergleichender Perspektive, ARSP 68 (1982), 13; ders., Recht als autopoietisches System, 1989; Gunther Teubner/Helmut Willke, Kontext und Autonomie, ZfRSoz 6 (1984), 4; Hubert Treiber, Prozedurale Rationalität – eine verfahrene Sache?, ZfRSoz 7 (1986), 244; Thomas Vesting, Prozedurales Rundfunkrecht, 1997; ders., Kein Anfang und kein Ende. Die Systemtheorie des Rechts als Herausforderung für Rechtswissenschaft und Rechtsdogmatik, Jura 2001, 299-305.
Systemtheoretisch orientierte Rechtssoziologen und Politikwissenschaftler kritisierten das herkömmliche Inventar der Rechtsformen als überholt und forderten eine Anpassung der Steuerungsinstrumente an eine veränderte Wirklichkeit. Die neuen Rechtsformen, die den Problemlagen der Gegenwart Rechnung tragen sollen, werden als postinterventionistisches Recht gekennzeichnet und als reflexives oder prozedurales Recht angeboten.
Die von Gunther Teubner und Helmut Willke begründete Theorie des »reflexiven Rechts« analysiert die Problematik der Steuerung durch Recht im Anschluss an Luhmann in dem Vokabular der Systemtheorie und behauptet, dass die »autopoietische Geschlossenheit« von Subsystemen als solche eine zusätzliche Hürde für die politische Steuerung darstellt (Teubner 1989, S. 121). Die gesellschaftlichen »Subsysteme« seien von einer Art Panzer, genannt »operative Schließung«, umgeben, in den das Recht nicht eindringen könne. Die Schließung soll sich daraus ergeben, dass die Systeme sich jeweils selbst aus den Elementen, aus denen sie bestehen, erneuern und fortentwickeln, so dass systemfremde Elemente an ihnen abprallen. Die Außenwelt wird nicht als solche wahrgenommen, sondern allein mit systemintern entwickelten Kriterien »beobachtet«. Kehrseite der Abschließung ist eine Art Autonomie. Daher ist die »in selbstreferentiellen Verhältnissen wurzelnde Systemautonomie gesellschaftlicher Teilbereiche einer gesetzgeberischen Direktintervention unzugänglich« (Teubner 1989, S. 96). Für die Wirtschaft etwa ist ein Rechtsgesetz keine Norm, der man wegen ihrer Rechtsqualität folgen muss, sondern allenfalls ein Kostenfaktor. Interventionen von außen sind für ein System nur Anregung oder Irritation, die es nach seinen eigenen Maßstäben verarbeitet. Aber dann gibt es doch, vor allem über »wechselseitige Selbstbeobachtung« und »Inferenzen«, indirekte Beeinflussungen, und es stellt sich am Ende heraus, dass die Einflussmöglichkeiten des Rechts gar nicht so gering sind. Es wird empfohlen, das interventionistische Recht des Wohlfahrtsstaates durch »reflexives Recht« abzulösen. Dieser Rechtstyp soll vor allem auf die Fähigkeit der Teilsysteme zur Selbstorganisation Rücksicht nehmen.
»Von reflexivem Recht sollte man nur dann sprechen, wenn das Rechtssystem sich als ein autopoietisches System in einer Welt von autopoietischen Systemen identifiziert und daraus operationale Konsequenzen zieht.« (Teubner 1989, S. 87)
Reflexiv wird dieses Recht genannt, weil bei seiner Gestaltung innerhalb des Rechtssystems mitbedacht werde, dass es nicht direkt, sondern allenfalls indirekt steuern könne. Staatliches Recht solle sich daher auf eine bloße Kontextsteuerung beschränken, indem es die Rahmenbedingungen für die Selbststeuerung der autonomen Subsysteme beeinflusse.
Als Ausprägungen reflexiven Rechts werden Kompetenznormen genannt, die die Normsetzungsbefugnis ganz oder teilweise auf gesellschaftliche Kräfte verlagern. Mit ihnen verzichtet der staatliche Gesetzgeber auf materielle Vorgaben und beschränkt sich auf die Schaffung von Verfahren, in denen die beteiligten Gruppen selbst eine Lösung bestimmter Probleme finden müssen. In diesen Verfahren wird nicht über die Einhaltung von Normen und die Verhängung von Sanktionen entschieden, sondern es werden konkrete Verhaltensmaßstäbe erst festgelegt.
Was mit reflexivem Recht gemeint ist, müsste eigentlich an Beispielen klar werden. Aber die Theoretiker werden nicht sehr konkret. Ihr wichtigstes Beispiel ist die Tarifautonomie. Auch die Mitbestimmungsregelung der Betriebsverfassung wird genannt. Sie gibt einen verfahrensmäßigen Rahmen vor, innerhalb dessen Arbeitgeber und Arbeitnehmer einen Interessenausgleich finden sollen. Andere Beispiele finden sich im Bereich der Medien, etwa die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft oder die Kontrolle der Rundfunk- und Fernsehanstalten durch vielschichtig zusammengesetzte Räte. Erhebliche Bedeutung haben Standardisierungs- und Zertifizierungsverfahren gewonnen, die nach rechtlichen Vorgaben durch Private erfolgen. Man kann auch an die Aufstellung des Mietspiegels durch die Gemeinde oder Interessenvertretungen von Mietern und Vermietern nach §§ 558c–e BGB denken.
Auch interventionistisches Recht weist »reflexive« Merkmale auf, indem es entweder bestimmte Aufgaben näher zu den Betroffenen delegiert oder seine Entscheidung in anderer Weise an den zu regelnden Bereich zurückkoppelt. Dezentralisierung oder bloße Anhörung und Beteiligung der Betroffenen machen aber noch kein reflexives Recht im Sinne der Theorie. Sowohl das föderale System von Bund und Ländern als auch die kommunale Selbstverwaltung zeigen reflexive Elemente, haben aber so viel Tradition, dass sie schwerlich als Belege für die Theorie des reflexiven Rechts herhalten können. Eher wird man bei der funktionalen Selbstverwaltung fündig.
Unter funktionaler Selbstverwaltung versteht man Verwaltung durch verselbständigte Träger, die anders als die Kommunen, nicht nach dem Grundsatz der Allzuständigkeit organisiert, sondern einem begrenzten Zweck gewidmet sind. Hierher gehören Hochschulen und Sozialversicherungsträger und kassenärztliche Vereinigungen, die »Kammern« der Ärzte, der Rechtsanwälte und der Notare, die Handwerks- sowie die Industrie- und Handelskammern. Auch so spezifische Einrichtungen wie Lippeverband und Emschergenossenschaft gehören dazu. Bei herkömmlicher Betrachtung hat die funktionale Selbstverwaltung teilweise ein Legitimationsproblem, weil sie nicht durchgehend von Parlamentsgesetzen geregelt ist, sondern durch eine Art Basisdemokratie gelenkt wird, für die es in der Verfassung an einer klaren Grundlage fehlt, Bedenken allerdings, die letztlich nicht durchschlagen (Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, 1997; zur demokratischen Legitimation BVerfGE 107, 59 und Trute, GVwR I, § 9 Rn. 82 ff.). Die systemtheoretischen Ansätze lösen dieses Problem mit der These, dass das staatliche Recht gar nicht anders könne, als auf die Selbstorganisationskräfte der Gesellschaft zu bauen.
Die Theorie des prozeduralen Rechts geht noch einen Schritt weiter als die des reflexiven Rechts, indem sie die Form des allgemeinen Gesetzes zugunsten »postrationalistischer Rechtsvorstellungen« verwirft (Pöcker, S. 510).
Als prozedurale Rechtstheorie firmierte ursprünglich die gesellschaftskritisch politische Rechtstheorie von Rudolf Wiethölter. Ihr Manifest war 1968 der Band »Rechtswissenschaft« für das »Funkkolleg«. Wiethölter sah eine Lösung des politisch unbefriedigenden Rechtszustands darin, dass die Gerichte ihre Kräfte nicht darauf verwendeten, für alles und jedes Regeln zu finden oder zu schaffen, sondern ihn nutzten, um zwischen den Interessen der Parteien zu vermitteln mit der Folge etwa, dass in der Regel keine Partei als alleiniger Sieger das Gericht verlassen würde. Die Grundidee war also eine politisch angeleitete Verflüssigung des materiellen Rechts im Verfahren.[7]
Prozedurales Recht systemtheoretischer Couleur ist von der Verfahrensgerechtigkeit zu unterscheiden, die unten in § 106xxx erörtert wird. Bei der Verfahrensgerechtigkeit geht es zunächst um das psychologische Phänomen, dass die Ausgestaltung rechtlicher Verfahren von erheblicher Bedeutung für die Akzeptanz der Ergebnisse durch die Beteiligten ist. Sodann geht es um rechtsphilosophische Überlegungen insbesondere von Rawls, Habermas und Alexy, wonach Verfahren den oft fehlenden direkten Zugang zur materiell gerechten Entscheidung eröffnen können. Und schließlich geht es um die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der Grundrechtsschutz bis zu einem gewissen Grade im Verfahren stattfindet.
Die Theorie des prozeduralen Rechts baut auf den gleichen systemtheoretischen Annahmen auf, die Teubner und Wilke für das reflexive Recht eingeführt haben und ist kaum noch von dieser zu unterscheiden: Die Gesellschaft habe durch Ausdifferenzierung in zahlreiche autonome Subsysteme und deren dynamische Vernetzung ein neues Komplexitätsniveau erreicht. Sie sei in einer Weise fragmentiert, dass die rationalistische, von allgemeinen Gesetzen und einem als Einheit gedachten Rechtssystem getragene Rechtsvorstellung (das »bürgerliche Rechtsparadigma«) sich erledigt habe (Vesting 1997, S. 26 ff.). Der Gesetzgeber verfüge gar nicht mehr über das Wissen, um unter den Bedingungen einer komplexen, sich dynamisch verändernden Wirklichkeit allgemeine Gesetze zu machen. Strikte Gesetzesbindung sei in der Praxis längst durch unbestimmte Rechtsbegriffe, Abwägungsgebote und offene Zwecknormen ersetzt worden. Die Ebenen der Rechtssetzung und der Rechtsanwendung seien zusammengewachsen. Das Recht der Wissens- und Informationsgesellschaft habe mit dem Problem unzureichender Information über die zu regelnden Felder zu kämpfen. Das Recht müsse deshalb zum »lernenden Recht« werden (Ladeur), das seinen Inhalt erst im Anwendungsprozess gewinne. Daraus gelte es die Konsequenzen zu ziehen:
»Die Rationalität des Rechtssystems kann … nicht mehr statisch als ›Herrschaft des Gesetzes‹ verstanden, sondern muss dynamisch an der Art und Weise, wie Recht in der Gesellschaft prozessiert wird, festgemacht werden.« (Calliess, S. 269 f.)
Die Konsequenz besteht darin, der juristischen Methode die Bindung an das allgemeine Gesetz auszutreiben und sie stattdessen auf die Anerkennung der autonomen Rechtsbildung in ausdifferenzierten Subsystemen zu verweisen. Gesetzgebung, universitäre Dogmatik und richterliche Entscheidung – so Vesting – könnten angesichts des rapiden Wandels nur noch eine abstützende Funktion für das Rechtssystem haben.
»Eine zeitgemäße Rechtstheorie hätte jedenfalls darauf zu insistieren, dass die Selbstkoordination und Selbstproduktion rechtlicher Bindungen zwischen Organisationen und Individuen stark an Bedeutung gewonnen haben. Das bedeutet zugleich, dass die Bewältigung des gesellschaftlichen Wandels nur noch in einer Theorie des Rechtspluralismus, der Anerkennung eines Pluralismus von Rechtsordnungen, verarbeitet werden kann.« (Vesting, Jura 2001, 304)
Den ersten Satz des Zitats kann man als rechtssoziologische Beschreibung hinnehmen und empirisch zu konkretisieren versuchen. Doch der zweite Satz, der unmerklich von einer Außensicht auf das Recht zu einer normativen Binnensicht übergeht, ist ein Kurzschluss vom Sein aufs Sollen. Was wir hier erleben, ist eine Wiederkehr von Eugen Ehrlichs Theorie des lebenden Rechts und der korrespondierenden Lehre der Freirechtsschule in systemtheoretischer Aufbereitung. Hier geht die Beschreibung, dass und wie das Recht seine Inhalte sozusagen von außen gewinnt, umstandslos in die Forderung über, gesellschaftliches Recht als Recht anzuerkennen.
In den USA fand die systemtheoretische Steuerungsskepsis keinen Widerhall. Einen Überblick über Forschung und Diskussion gibt Keith Hawkins, Enforcing Regulation, Law and Social Inquiry 38, 2013, 950-972. Auch in den USA hat man sich von dem schlichten Befehlsmodell (command and control) bald verabschiedet. Der Blick richtete sich sodann einerseits auf die Implementations- und Kontrollstrukturen und andererseits auf die internen Verhältnisse der Normadressaten. Zeitweise wurde die Ansicht vertreten, dass die Regulierung bessere Erfolge aufweise, wenn die Behörden nicht legalistisch, sondern flexibel verfahren. Dazu ist anzumerken, dass in den USA zwar die Vorstellung eines starken Staates fehlt, dass dafür aber die Überwachungsbehörden umso rigoroser vorgehen. Die Empirie hat aber wohl gezeigt, dass der Zusammenhang nicht eindeutig ist. Dennoch ist das Befehlsmodell inzwischen durch ein Compliance-Modell abgelöst.
[1] Die Eigendynamik des Wissenschaftsbetriebs führt jedoch dazu, dass Forscher, um ein Thema erfolgreich zu lancieren und später, um ihr Feld weit abzustecken, ihre Leitbegriffe extensiv handhaben. Das ist nach meinem Eindruck auch bei dem Sonderforschungsbereich 619 »Ritualdynamik. Soziokulturelle Prozesse in historischer und kulturvergleichender Perspektive« der Fall, der seit 2002 mit 90 Wissenschaftlern an der Universität Heidelberg angesiedelt ist. Am Ende möchte man sich sogar eine eigene Wissenschaftsdisziplin gönnen, in diesem Falle eine Ritualwissenschaft.
[2] So beschreibt Barbara Stollberg-Rillinger (»Des kaisers alte Kleider«. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, 2008), mit welcher Besessenheit man vom Ausgang des Mittelalters bis zum Ende des 18. Jahrhunderts das höfische Zeremoniell befolgt hat. »Verfassung« war nicht ein Schrifttext, sondern ein Geflecht aus personalen Beziehungen, dass durch Präsenz bei Hofe, durch Zeremoniell, Symbole, Rituale und Verfahren immer wieder aufs Neue bekräftigt werden musste.
[3] Grundlegend August Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht, 1878, 5 ff.; kritisch z. B. Larenz, Methodenlehre, 133 ff.; näher Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 230 ff.
[4] Näher Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 240 ff.
[5] Dazu Fritjof Haft, Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe im Strafrecht, JuS 1975, 477; Theodor Lenckner, Wertausfüllungsbedürftige Begriffe im Strafrecht und der Grundsatz »nullum crimen sine lege«, JuS 1968, 249.
[6] Ralf Poscher, Theorie eines Phantoms – Die erfolglose Suche der Prinzipientheorie nach ihrem Gegenstand, Rechtswissenschaft 1, 2010, 349-372.
[7] Zu Wiethölter näher Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Prozedurale Rechtstheorie: Wiethölter, in: Buckel u. a., Neue Theorien des Rechts, 2006, 79-96.