§ 45 Der soziologische Rechtsbegriff

Literatur: Thomas W. Bechtler, Der soziologische Rechtsbegriff, 1977; Carbonnier, Rechtssoziologie, 1974; Roger Cotterell, The Sociological Concept of Law, Journal of Law and Society 10, 1983, 241 ff.; Ralf Dreier, Der Begriff des Rechts, NJW 1986, 890-896; Peter Frey, Der Rechtsbegriff in der neueren Soziologie, Diss. Saarbrücken, 1962; Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 1964; H. L. A. Hart, Der Begriff des Rechts, [The Concept of Law, 1961], 1973; E. Adamson Hoebel, Das Recht der Naturvölker, 1968; Nicola Lipari, Per un tentativo di definizione del »Diritto«, Sociologia del diritto, XXI, 1994, 3-28Richard Thurnwald, Werden, Wandel und Gestaltung des Rechts, 1934 im Lichte der Völkerforschung; Max Weber, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1967.

I. Die Aufgabe des Rechtsbegriffs

Literatur: Ernst-Joachim Lampe, Was ist »Rechtspluralismus«?, in: ders., (Hg.), Rechtsgleichheit und Rechtspluralismus, 1995, 8-33; Manfred Rehbinder, Universalität im Zeitalter der Globalisierung? Eine Auseinandersetzung mit dem anthropologischen Rechtsbegriff von Leopold Pospíšil, in: Bernhard Großfeld u. a. (Hg.), Festschrift für Wolfgang Fikentscher zum 70. Geburtstag, 1998, 200-214; Hubert Rottleuthner, Zum soziologischen Rechtsbegriff, ARSP Beiheft 44, 1991, 301-311;  Leopold Pospíšil, Anthropologie des Rechts, Recht und Gesellschaft in archaischen und modernen Kulturen, 1982.

Was meinen Soziologen, wenn sie von Recht sprechen? Wieweit reicht der Objektbereich der Rechtssoziologie? Bis hierher haben wir uns recht gut hindurchgeschlagen, ohne nach einer Definition des Rechts zu fragen. Es existiert anscheinend ein hinreichend genaues und allgemein verbreitetes Vorverständnis von dem, was unter Recht zu verstehen ist. Der Anschein könnte trügen, weil der Autor und vermutlich auch die meisten Leser dieses Buches einen juristischen Hintergrund haben und ihnen daher von vornherein ein monistisch-etatistischer Rechtsbegriff vorschwebt. Ihr Rechtsbegriff ist monistisch, weil er alles Recht letztlich auf ein Kompetenzzentrum zurückführt. Er ist etatistisch, weil als solches praktisch nur der Staat in Betracht kommt. In der Rechtssoziologie überwiegt dagegen ein pluralistischer Rechtsbegriff. Das Problem scheint also darin zu liegen, ob der Rechtsbegriff pluralistisch oder monistisch gefasst werden soll, d. h. letztlich, ob nur das staatliche Recht diesen Namen verdient, oder ob daneben auch andere Ordnungsgefüge und ggfs. welche als Recht bezeichnet werden sollen.

Fragt man Juristen nach ihrer Rechtsdefinition, so wissen sie recht gut, jedenfalls was als (positives) Recht in Betracht kommt, nämlich Gesetze, Verordnungen und Satzungen, Gewohnheitsrecht und mit Einschränkungen auch Präjudizien und juristische Lehrmeinungen. Die vielzitierte Fußnote Kants aus der »Kritik der reinen Vernunft«, noch immer suchten die Juristen nach ihrem Begriff des Rechts, ist nur zutreffend, wenn man unter Recht Gerechtigkeit versteht. Rechtsphilosophie und Rechtstheorie streiten deshalb permanent über die Frage, ob und wieweit Moral und Ethik in den Rechtsbegriff hineingehören (Dreier).

Für die Rechtssoziologie liegt das Definitionsproblem anders. Der soziologische Rechtsbegriff kann unbedenklich positivistisch gewählt werden, denn er kann und braucht keine Auskunft auf die Frage zu geben, was ein Richter als rechtmäßig anerkennen soll. Auch schlechtes oder ungerechtes Recht bleibt soziologisch Recht. Die Gerechtigkeit als Auswahlkriterium des Rechts ist soziologischen Methoden nicht zugänglich. Die Aufgabe eines soziologischen Rechtsbegriffs scheint sich deshalb darin zu erschöpfen, das (positive) Recht gegen andere empirische Erscheinungen wie Moral, Sitte, Konvention, Brauch, Gewohnheit, Mode, Marktgesetze oder Religion abzugrenzen. Diese Aufgabe wäre zum großen Teil schon mit der Herausarbeitung des soziologischen Normbegriffs (oben § 43) gelöst.

Die eigentliche Problematik eines soziologischen Rechtsbegriffs kommt erst mit der Frage zum Vorschein, ob sich ein einheitlicher (universalistischer) Rechtsbegriff finden lässt. Diese Frage wurde zunächst durch Ethnologen oder Anthropologen aufgeworfen, die sich mit den sozialen Verhältnissen in »primitiven«, das heißt, in undifferenzierten, vor allem staatenlosen Gesellschaften befassen. Wenn diese Forschungsrichtung als Rechtsanthropologie auftritt, so geht sie davon aus, dass auch in ihrem Objektbereich Recht zu beobachten ist. Die Frage ist dann allerdings, welcher Rechtsbegriff hier maßgeblich ist. Ein staatsbezogener Rechtsbegriff scheidet offensichtlich aus. Die weitere Frage ist dann, ob ein anthropologischer Rechtsbegriff auch für moderne, staatlich verfasste Gesellschaften taugt. Eine analoge Problematik zeigt sich auch, wenn man moderne Gesellschaften mit dem Konzept des Rechtspluralismus analysiert. Auch dann stellt sich die Frage, ob für staatliches und nichtstaatliches Recht ein einheitlicher Rechtsbegriff möglich und sinnvoll ist oder ob man mit unterschiedlichen Rechtsbegriffen arbeiten muss.

Eine Definition soll nur den Sprachgebrauch festlegen. Die erwartete Antwort kann daher nicht richtig oder falsch sein, sondern nur mehr oder weniger zweckmäßig. Gesucht wird eine Nominaldefinition. Sie ist zweckmäßig, wenn sie den Untersuchungsbereich der Rechtssoziologie klar von anderen Erscheinungen abgrenzt, wenn sie sich möglichst an die in der Soziologie sonst übliche Begriffsbildung anschließt und sich nicht weiter als notwendig von den zentralen Vorstellungen entfernt, die der Sprachgebrauch mit dem Wort Recht verknüpft. Es geht um die Ausgrenzung eines Objektbereichs, der interessante und relevante Fragestellungen ermöglicht. Dabei kann es nicht ausbleiben, dass der Rechtsbegriff auf eine Theorie über die Entstehung und/oder Funktion des Rechts ausgerichtet wird.

Harmlos ist das Definitionsgeschäft dennoch aus zwei Gründen nicht. Auch wenn es nur terminologisch sein soll, kann es doch faktische Konsequenzen haben. Wenn man etwa definiert, unter Recht solle das staatliche Gesetz verstanden werden, so wird dadurch nicht nur der Blick auf einen bestimmten Problemkreis eingeengt. Für manche »Pluralisten« ist »Recht« nur eine Randerscheinung, für andere ist es eine wesentliches Element der Gesellschaft. Außerdem kann die Definition trotz aller gegenteiligen Beteuerungen eine Eigendynamik im Sinne einer Wesensdefinition entfalten, indem sich folgende Gedankenreihe entwickelt: Recht ist Gesetz. Recht ist nur das Gesetz. Das Gesetz ist immer Recht. Als Recht ist das Gesetz gut und richtig. Das ist die Gefahr der persuasive definition. Der in der Rechtssoziologie dominierende pluralistische Rechtsbegriff entfaltet seine Überredungskraft gerade in umgekehrter Richtung und betont die Überlegenheit »gesellschaftlichen Rechts«.

Ein Ausweg aus dieser Klemme besteht darin, auf eine übergreifende Rechtsdefinition zu verzichten und verschiedene Rechtsschichten zu unterscheiden:

  • Recht im im engsten Sinne besteht aus einem dem Staat verbundenen System von Normen und Institutionen (offizielles Recht).
  • In einem allgemeineren Sinn ist von Recht die Rede, wo die Normen in einer Weise organisiert sind, die spezielle Institutionen und Verfahren für die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung bereit hält (institutionalisiertes Recht).
  • Der weiteste Rechtsbegriff findet »Rechtlichkeit« in jeder Regel, in jedem Wert, Bild oder Symbol, Argument und in jeder Erzählung, die dazu dient, eine Handlung gegenüber anderen und auch für den Handelnden selbst zu rechtfertigen (implizites Recht).

Doch selbst wenn man eine solche differenzierte Lösung wählt, sich also gegen einen universalen Rechtsbegriff entscheidet – wie es auch hier geschieht –, bleibt doch ein Stachel, denn das Nebeneinander verschiedener Rechtsbegriffe suggeriert eine Gemeinsamkeit. Wittgenstein (Philosophische Untersuchungen, § 67) hat dieses Phänomen am Beispiel des Begriffs »Spiel« aufgezeigt. Eigentlich müssten die vielen verschiedenen Abläufe, die mit der Bezeichnung »Spiel« bedacht werden, ein gemeinsames Wesen haben. Aber diese Gemeinsamkeit lässt sich, so Wittgenstein, nicht essentialistisch durch Angabe bestimmter Eigenschaften definieren. Vielmehr verbindet die mit dem Begriff verknüpften Gegenstände ein Netz von Ähnlichkeiten, zwischen ihnen besteht eine »Familienähnlichkeit«:[1]

»Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort ›Familienähnlichkeiten‹; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc. – Und ich werde sagen, die ›Spiele‹ bilden eine Familie.«

»Recht« ist vielleicht das schlagendste Beispiel für einen solchen, letztlich undefinierbaren Begriff. Wer es trotzdem versucht (wie Lampe S. 17 ff) endet doch wieder nur mit anfechtbaren essentialistischen Eigenschaftszuschreibungen.

Dennoch ist es nicht völlig sinnlos, die gängigen Definitionsversuche Revue passieren zu lassen. Ihre Gesamtheit hilft der »Familienähnlichkeit« zu einiger Kontur. Man muss dabei jedoch stets im Blick haben, dass sich hinter Definitionen regelmäßig Theorien über Entstehung, Wirkung oder Funktion von Recht und/oder normative Präferenzen für die eine oder andere Rechtsform verbergen (zur Vermengung von Definition und Theorie Rottleuthner).

Im nächsten Abschnitt sollen die gängigen Definitionsversuche vorgestellt werden. Behandelt werden Zwangstheorien, Rechtsstabstheorien, Anerkennungs- und Funktionstheorien. Anschließend unter III wird begründet, warum der monistisch-etatistische Rechtsbegriff von hervorragender Bedeutung ist. Unter IV schließlich soll dargestellt werden, dass und wie man, gerade auch wenn man einem monistischen Rechtsbegriff folgt, über Rechtspluralismus reden kann.

II. Rechtsdefinitionen in Anthropologie und Soziologie

  1. Institutionalisierungstheorien

Literatur: Paul Bohannan, Law and Warfare, New York 1967; ders., Law and Legal Institutions, in: International Encyclopedia of the Social Science, Bd. 9, New York 1968, 73-78; E. Adamson Hoebel, Das Recht der Naturvölker, 1968 [The Law of Primitive Man, Cambridge, Mass. 1954]; Karl N. Llewellyn/Edward E. Hoebel, The Cheyenne Way, 1941; Ian Hamnet, Chieftancy and Legitimacy, London/Boston 1975; Bronislaw Malinowski, Sitte und Verbrechen bei den Naturvölkern, 1949; Leopold Pospíšil, Anthropologie des Rechts, Recht und Gesellschaft in archaischen und modernen Kulturen, 1982; Manfred Rehbinder, Universalität im Zeitalter der Globalisierung? Eine Auseinandersetzung mit dem anthropologischen Rechtsbegriff von Leopold Pospíšil, in: Bernhard Großfeld u. a. (Hg.), Festschrift für Wolfgang Fikentscher zum 70. Geburtstag, 1998, 200-214; Gunther Teubner, Selbst-Konstitutionalisierung transnationaler Unternehmen? Zur Verknüpfung »privater« und »staatlicher« Corporate Codes of Conduct, in: FS Klaus J. Hopt, 2010, 1449-14; ders./Peter Korth, Zwei Arten des Rechtspluralismus: Normkollisionen in der doppelten Fragmentierung der Weltgesellschaft, in: Matthias Kötter/Gunnar Folke Schuppert (Hg.), Normative Pluralität ordnen, 2009, 137-168.

Anthropologen, die sich mit dem Recht in nicht staatlich organisierten Gesellschaften befassen, haben von vornherein keine Verwendung für einen staatlichen Rechtsbegriff. Sie sehen das Recht als ein besonderes Mittel an, Werte und Normen (customs) auszudrücken, die in der Gesellschaft naturwüchsig in der Auseinandersetzung mit alltäglichen Problemen entstehen. Der weiteste Rechtsbegriff erfasst daher alle überindividuell verfestigten (=institutionalisierten) Normen. In diesem Sinne verstand Malinowski alle irgendwie durch Reziprozität bindende Verpflichtungen als Recht. Insoweit kann mit Carbonnier von einem Panjurismus sprechen. Die meisten Ethnologen fordern jedoch für die Rechtseigenschaft eine etwas weitergehende Institutionalisierung.

Normen erhalten auch aus Sicht der vieler Anthropologen ihren Rechtscharakter durch eine institutionelle Verdoppelung. Dieser Gedanke ist maßgeblich von Paul Bohannan formuliert worden:

»Law is custom recreated by agents of society in institutions specifically meant to deal with legal questions.«

Die primäre Institutionalisierung besteht in der Herausbildung einer Sitte, ihre Verdoppelung darin, dass die Sitte dadurch verstärkt wird, dass spezifische Verfahren und/oder Personen bereit stehen, um die Durchsetzung der Sitte zu gewährleisten. Unter modernen Verhältnissen läuft diese Verdoppelung auf eine Rechtsstabstheorie (unten 4) hinaus.

Diesen Weg geht auch Leopold Pospíšil. Er zitiert eingangs Max Radin[2], »Diejenigen von uns, die Bescheidenheit gelernt haben, haben die Versuche aufgegeben, das Recht zu definieren.«, schlägt sich dann aber auf die Seite von Hoebel, der meinte es könne nicht angehen, dass das Recht undefinierbar sei, denn eine Definition gebe doch nur die allgemein akzeptierten Merkmale eines Phänomens oder einer Konzeption wieder. Vier Merkmale sollen das Recht auszeichnen, Autorität, Verbindlichkeit, Intention allgemeiner Geltung und Sanktionen. Er definiert am Ende (S. 136)

»daß Recht hier als eine Reihe von Prinzipien institutionalisierter sozialer Kontrolle verstanden wird, wobei diese Prinzipien im Wege der Abstraktion aus Entscheidungen gewonnen werden, die durch eine rechtliche Autorität (Richter, Häuptling, Vater, ein Tribunal oder ein Rat der Alten) gefällt wurden; bei diesen Prinzipien ist intendiert, daß sie allgemein gelten sollen (das heißt in allen ›gleichartigen› Problemlagen in der Zukunft); sie betreffen jeweils das Verhältnis zweier Parteien, die in der Beziehung der obligatio zueinander stehen, und sie sind schließlich mit Sanktionen ausgestattet, die entweder mit der Anwendung von Gewalt verbunden sind oder bei denen das nicht der Fall ist.«

Auf Autorität und allgemeine Geltung stellt auch Hamnet ab, wenn er definiert,

»Customary law ca be regarded as a set of norms which the actors in a social situation abstract from practice and which they invest with binding authority.«

Pospíšil und Hamnet wird vorgehalten, dass sie keinen Maßstab für den notwendigen Institutionalisierungsgrad der Autorität angeben könnten, so dass jede verfestigte Machtbeziehung als Recht gelten müsse, selbst wenn sie eindeutig verbrecherischer Art sei (Lampe S. 13 unter Hinweis auf von Benda-Beckmann und von Trotha).

Doppelte Institutionalisierung ist auch die Doppelung von von primären und sekundären Normen, die der englische Rechtsphilosoph H. L. A. Hart zum Kennzeichen des Rechts erhoben hat. Als »primary rules« bezeichnet er alle Gebots- und Verbotsnormen sowie die Sanktionsnormen. »Secondary rules« sind dagegen diejenigen Normen, nach denen sich die Geltung der »primary rules« bestimmt, nach denen sie erlassen und geändert werden. In der Sprache der Systemtheorie handelt es sich um einen reflexiven Mechanismus.

Gunther Teubner kombiniert die Systemtheorie mit der Begrifflichkeit Harts. Kern dieser Theorie ist eine Rechtsdefinition, die besagt, dass die reflexive Organisation eines Normenkomplexes einen Qualitätssprung bedeutet. Der Umschlag von bloßer Regelbildung (private ordering) zum Recht erfolgt mit dem Vorgang, den Teubner früher[3] als Hyperzyklus vorgestellt hatte. In neueren Veröffentlichungen spricht er von sekundärer Normierung und stützt sich dazu auf die Figur der secondary rules von H. L. A. Hart. Gemeint ist, dass ein sozialer Bereich nicht bloß über Regeln zur Verhaltenssteuerung verfügt, sondern Kriterien entwickelt, nach denen intern entschieden wird, welche Regeln zum System gehören und welche nicht. Wenn der Regelkomplex, wie er sich herausgebildet hat, Regeln über Regeln und möglichst auch eine gerichtsförmige Entscheidungsinstanz aufweist, handelt es sich eben um Recht. Als Paradebeispiele dienen immer wieder die lex mercatoria und die lex digitalis der ICANN.[4]

2. Zwangstheorien

Als charakteristisches Merkmal des Rechts wird vielfach die Möglichkeit genannt, die Rechtsregeln zwangsweise durchzusetzen. Als Repräsentant einer solchen Zwangstheorie gilt Max Weber. Er definiert (S 76 f.):

»Wir wollen vielmehr überall da von »Rechtsordnung« sprechen, wo die Anwendung irgendwelcher, physischer oder psychischer, Zwangsmittel in Aussicht steht, die von einem Zwangsapparat, d. h. von einer oder mehreren Personen ausgeübt wird, welche sich zu diesem Beruf für den Fall des Eintritts des betreffenden Tatbestandes bereithalten, wo also eine spezifische Art der Vergesellschaftung zum Zweck des ›Rechtszwanges‹ existiert.«

Auch bedeutende Ethnologen wie Thurnwald und Hoebel stellen auf den Zwang ab. Thurnwald (S. 2) schreibt:

»Das Moment eines organisierten Zwanges hebt die Rechtsordnung heraus gegenüber Brauch und Sitte«.

Bei Hoebel (S. 41) heißt es:

»Eine gesellschaftliche Norm hat rechtlichen Charakter, wenn ihre Nichtbeachtung oder Verletzung regelmäßig physische Gewalt ob als Drohung oder tatsächliche Gewaltanwendung durch einzelne oder durch Gruppen nach sich zieht, die ein von der Gesellschaft anerkanntes Privileg dazu besitzen«.

Keine dieser Definitionen verlässt sich allein auf den Zwang. Sie alle heben ein zweites Merkmal hervor, das eine Regel als Rechtsregel auszeichnen soll. Wenn man zunächst dieses zweite Merkmal vernachlässigt und fragt, ob der Zwang als Unterscheidungsmerkmal taugt, so kann man darauf hinweisen, dass jedenfalls das moderne Recht die Selbsthilfe weitestgehend verboten und damit den physischen Zwang monopolisiert hat.[5] Indessen findet sich nur bei Hoebel die ausdrückliche Einschränkung des Zwangs auf physische Gewalt. Schließt man psychische Zwänge ein, so wird der Zwangsbegriff unscharf. Psychische Zwänge finden sich allenthalben. Jede negative Sanktion kann als Zwang erscheinen; die Zwangstheorie leistet dann nicht mehr als der engere Normbegriff der Soziologie. Sie kann lediglich bloße Verhaltensgleichförmigkeiten im Sinne eines sozialen Brauchs aus dem Rechtsbegriff ausscheiden. Das ist allerdings wohl nicht der Grund dafür, dass es überwiegend abgelehnt wird, das Kennzeichen des Rechts im Zwang zu suchen. Ganz besonders Eugen Ehrlich hat sich dagegen gewehrt, Rechtsnormen von anderen Normen durch ihre Erzwingbarkeit mit Hilfe von Straf- und Vollstreckungszwang zu unterscheiden. Er lasst ein Feuerwerk von Beispielen los, um zu zeigen, dass die von ihm so genannten Rechtsnormen auch ohne Rechtszwang in aller Regel erfüllt werden und dass im Übertretungsfalle ganz andere Sanktionen eingreifen als Strafe oder Zwangsvollstreckung (S. 50 ff.). Aber es ist nicht zu übersehen, dass bei dieser Ablehnung die Befürchtung mitschwingt, eine auf den Zwang abstellende Rechtsdefinition könne zur persuasive definition werden und dadurch zur Legitimation staatlichen Zwangs beitragen.

3. Anerkennungstheorien

Literatur: Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913; Manfred Rehbinder, Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich, 1967; Brian Z. Tamanaha, A General Jurisprudence of Law and Society, 2001.

Als Anerkennungstheorien werden solche bezeichnet, die den Rechtscharakter einer Norm letztlich von der Meinung (Anerkennung als Recht) des Publikums abhängig machen wollen. Als Test der Rechtsqualität kommt eine Meinungsumfrage in Betracht. Eine Rechtsdefinition im Sinne der Anerkennungstheorie hat Tamanaha (S. 166) vorgeschlagen: »Law is whatever people identify and treat through their social practice als ›law‹ (or droit, recht etc.)«. Er nennt seinen Vorschlag konventionalistisch, weil er, anders als Funktionstheorien und institutionelle Abgrenzungen – auf eine essentialistische Rechtsdefinition verzichtet, nämlich auf eine Definition, die auf bestimmte wesentliche Eigenschaften des Rechts abstellt.

Auch die Rechtswissenschaft arbeitet mit einer Anerkennungstheorie, allerdings nicht, um das Recht zu definieren, sondern um seine Geltung zu begründen[6]. Diese Theorie besagt, dass das Recht deshalb gelten und befolgt werden solle, weil jedenfalls die Rechtsordnung insgesamt oder die Grundzüge der Verfassung allgemein als geltend anerkannt seien. Jedoch bleibt es insoweit bei einer Behauptung. Die empirische Frage nach Art und Umfang solcher Anerkennung oder gar nach ihren Motiven wird nicht ernsthaft gestellt.

Eine soziologische Anerkennungstheorie hat Eugen Ehrlich (vgl. § 4) formuliert. Ehrlich war ein sehr historisch denkender Wissenschaftler. Es ist daher verständlich, dass er sich strikt weigerte, einen staatlichen Rechtsbegriff zu benutzen. Recht habe so lange geschichtliche Zeiträume ohne den Staat bestehen müssen, dass die Ansicht als widerlegt gelten könne, dass das Recht begrifflich vom Staat gewährleistet sein müsse. Aber auch für seine Gegenwart meinte Ehrlich, die staatliche Rechtsauffassung ablehnen zu müssen:

»Es entstehen auch in unserer Zeit, gerade so wie in der grauen Vergangenheit, neue Gemeinschaften, Besitzverhältnisse, Verträge, Erbordnungen, den Gesetzen noch unbekannt. Sollen diese erst auf die Erwähnung in einem Gesetze warten müssen, um Rechtsverhältnisse zu werden, während die grundlegenden Einrichtungen der Gesellschaft Jahrtausende hindurch ohne diese Hilfe der Menschheit ihre Ordnung gaben? Und die Möglichkeit, die Ansprüche vor Gericht oder anderen Behörden geltend zu machen? Aber von der unübersehbaren Zahl der Lebensverhältnisse ziehen doch schließlich nur ausnahmsweise welche die Aufmerksamkeit der Gerichte und anderer Behörden auf sich. Es gibt Millionen von Menschen, die in zahllose Rechtsverhältnisse treten, und die so glücklich sind, nie eine Behörde anrufen zu müssen. Da das der Gesetzgebung und Rechtsprechung fern gebliebene Verhältnis immerhin das regelmäßige ist, so würde gerade in den Fällen, die die Regel bilden, alles fehlen, was nötig wäre, um festzustellen, ob man es mit einem Rechtsverhältnis zu tun habe« (S. 130)

Hier unterliefen Ehrlich zwei Missverständnisse, die sich heute leicht vermeiden lassen. Erstens sah er auf das konkrete Rechtsverhältnis und nicht auf die aus einer Vielzahl gleichartiger Rechtsverhältnisse zu erschließende soziale Norm. Zweitens übersah er, dass zum Geltungsbereich einer Norm außer der Sanktionsgeltung auch die Verhaltensgeltung gehört. Auch wenn Millionen und Milliarden Kaufverträge ohne Mitwirkung des Staates abgewickelt werden, so handelt es sich doch um Rechtsverhältnisse im Sinne des staatlichen Rechtsbegriffs, weil die staatlichen Gerichte bereit wären, im Streitfall einzugreifen. Man darf deshalb aber nicht meinen, dass zwischen dem Rechtsbegriff Ehrlichs und dem staatlichen praktisch kein Unterschied bestehe. Ehrlich verstand nämlich unter Rechtsnormen durchaus auch solche, die keineswegs auf gerichtlichen Schutz rechnen können. Da er aber nicht nur auf die staatliche Garantie, sondern ebenso auch auf die Existenz besonderer Sanktionssubjekte als Kennzeichen des Rechts verzichtete, erhebt sich doch die Frage, woran er denn überhaupt noch das Recht von anderen sozialen Normen unterscheiden wollte. Er betonte nämlich ausdrücklich, dass das Recht, verstanden als die innere Ordnung der Verbände, keineswegs die einzige Organisationsform der Gesellschaft sei:

»Ein gesellschaftlicher Verband ist eine Mehrheit von Menschen, die im Verhältnisse zueinander gewisse Regeln als für ihr Handeln bestimmend anerkennen und wenigstens im Allgemeinen tatsächlich danach handeln. Diese Regeln sind von verschiedener Art und werden mit verschiedenen Namen bezeichnet: Regeln des Rechts, der Sittlichkeit, der Religion, der Sitte, der Ehre, des Anstandes, des Taktes, des guten Tones, der Mode. Dazu kommen wohl noch einige von geringerer Bedeutung, etwa die Spielregeln, die Regeln der Reihe (beim Schalter oder im Wartezimmer eines beschäftigten Arztes)« (S. 31).

Man kann getrost sagen, dass Ehrlich praktisch alle sozialen Normen von einiger Tragweite für Recht gehalten und damit im Ergebnis einen Panjurismus vertreten hat. Das bedeutet aber, dass seine Kernthese, der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung sei nicht beim Staat, sondern in der Gesellschaft zu suchen, eine bloße Tautologie darstellt. Denn wenn man alles, was die Gesellschaft tut und lasst, als Recht bezeichnet, dann liegt selbstverständlich der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung in der Gesellschaft und nicht beim Staat. Gehaltvoll wird diese These erst dann, wenn man sie dahin versteht, dass gerade das staatliche Recht im Wesentlichen nur Spiegel und Ausfluss gesellschaftlicher Normen sei, mag man diese nun als außerrechtlich oder als gesellschaftliches Recht bezeichnen. Und diese These hat Ehrlich in der Tat mit allem Nachdruck vertreten.

4. Gefühlstheorien

Literatur: Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913; Jon Elster, Explaining Social Behavior, 2015 (S. 138ff).

Ehrlich hielt eine Unterscheidung des Rechts von den übrigen Sozialnormen allerdings für unwichtig. Er meinte, im Allgemeinen werde jeder ohne Zögern sofort von einer Norm sagen können, ob sie eine Rechtsnorm sei oder einem anderen Gebiet angehöre (S. 122). Die Rechtsnorm regele wenigstens nach der Empfindung der Gruppe, von der sie ausgehe, eine Sache von großer Wichtigkeit, sie bilde die kräftigste Stütze der Verbandsordnung (S. 32, 134). Eine Rechtsnorm, so meinte Ehrlich deshalb, könne man daran erkennen, welche Gefühle ihr entgegengebracht würden:

»Die Frage nach dem Gegensatz der Rechtsnorm und der außerrechtlichen Norm ist nicht eine Frage der Gesellschaftswissenschaft, sondern der gesellschaftlichen Psychologie. Die verschiedenen Arten von Normen lösen verschiedene Gefühlstöne aus, und wir antworten auf Übertretung verschiedener Normen nach ihrer Art mit verschiedenen Empfindungen. Man vergleiche das Gefühl der Empörung, das einem Rechtsbruch folgt, mit der Entrüstung gegenüber einer Verletzung des Sittengebotes, mit dem Ärgernis aus Anlaß einer Unanständigkeit, mit der Mißbilligung der Taktlosigkeit, mit der Lächerlichkeit beim Verfehlen des guten Tones, und schließlich mit der kritischen Ablehnung, die die Modehelden denen angedeihen lassen, die sich nicht auf ihrer Höhe befinden. Der Rechtsnorm ist eigentümlich das Gefühl, für das schon die gemeinrechtlichen Juristen den so bezeichnenden Namen opinio necessitatis gefunden haben. Danach muß man die Rechtsnorm erkennen« (S. 132).

Man ist sich heute darüber einig, dass eine solche Abgrenzung praktisch ganz unbrauchbar wäre.[7] Tatsächlich spielt sie in der Rechtssoziologie Ehrlichs auch kaum eine Rolle. Er meinte, im Allgemeinen werde jeder ohne Zögern sofort von einer Norm sagen können, ob sie eine Rechtsnorm sei oder einem anderen Gebiet angehöre (RS S. 122). Die Rechtsnorm regele wenigstens nach der Empfindung der Gruppe, von der sie ausgehe, eine Sache von großer Wichtigkeit, sie bilde die kräftigste Stütze der Verbandsordnung (RS S. 32, 134).

Eine neuere Gefühlstheorie stammt von Jon Elster. In seinem großen Kapitel über Emotionen unterscheidet er zwischen Gefühlsreaktionen auf die Verletzung sozialer Normen und die Verletzung von Normen der Moral. Beim Verstoß gegen soziale Normen empfinden der Akteur Scham und der Beobachter Verachtung (contempt). Bei einem Moralverstoß empfindet der Akteur Schuld und der Beobachter Entrüstung (anger). Diese Gefühle lösen dann typische Handlungsbereitschaften aus. Entrüstung (anger) verlangt nach Rache (revenge), Scham nach Selbstbestrafung, die bis zum Selbstmord gehen kann.

5. Rechtsstabstheorien

Literatur: Hermann Kantorowicz, Der Begriff des Rechts, 1963; Niklas Luhmann, Die Stellung der Gerichte im Rechtssystem, Rechtstheorie 21, 1990, 459-473.

Für keinen der als Vertreter der Zwangstheorie genannten Autoren bildet der Zwang das einzige Merkmal des Rechts. Alle stellen darauf ab, dass die Ausübung der Sanktionstätigkeit bei besonderen Personen konzentriert ist. Mit dem Übergang der Reaktionstätigkeit von der spontan handelnden Gruppenöffentlichkeit auf besondere Sanktionssubjekte gewinnt ein Normengefüge eine neue Qualität, die es deutlich aus anderen Formen sozialer Ordnung heraushebt. Nach Webers Vorschlag ist es üblich geworden, diese Sanktionssubjekte (§ 25) Rechtsstab zu nennen. Insofern sie einen besonderen Zwangsapparat verlangen, sind daher die Zwangstheorien zugleich Rechtsstabstheorien. Allein auf den Rechtsstab stellt Geiger (S. 130) ab:

»Der Struktur des Ordnungsmechanismus nach unterscheidet sich die rechtliche von der vorrechtlichen dadurch, dass ein besonderer Apparat zur Handhabung der Ordnung besteht.«

Nichts anderes verbirgt sich hinter der Gerichtstheorie von Kantorowicz, der das Recht definiert als »eine Gesamtheit von Regeln, die äußeres Verhalten vorschreiben und als gerichtsfähig angesehen werden«. Als Gerichte in diesem Sinne kommen nicht nur staatliche Gerichte in Betracht, sondern jede irgendwie besonders geordnete Sanktionierungstätigkeit einer sozialen Gruppe. Recht in diesem Sinne haben daher etwa Gewerkschaften, Vereine oder Parteien und alle anderen Gruppierungen, die mit Hilfe besonders dazu bestellter Personen in einem besonderen Verfahren das Verhalten ihrer Funktionäre und Mitglieder reglementieren.

In der Neuzeit führt die Entwicklung zur Organisation eines einheitlichen Rechtsstabs durch den Staat, der das Gewaltmonopol und die Kompetenz-Kompetenz für sich in Anspruch nimmt. Damit ist die Kompetenz zur Qualifizierung einer Norm als Recht gemeint. Diese Kompetenz kann letztlich niemand verleihen, er müsste sie dann ja selbst von einem anderen bezogen haben. Die Kompetenz-Kompetenz ist daher der rechtliche Aspekt der Souveränität des Staates. Im Gefüge des gewaltenteilig organisierten Staates gehört sie eigentlich dem Gesetzgeber. Praktisch steht aber außer Frage, dass die Gerichte das letzte Wort haben und damit selbst bestimmen, was sie bestimmen dürfen.

Luhmann bezeichnet ausdrücklich jede soziale Norm im engeren Sinne (vgl. § 25) in seiner Sprache: jede kongruent generalisierte Verhaltenserwartung, als das Recht eines Systems. In anderen Zusammenhängen, wo er das Recht als Teilsystem der Politik bestimmt, benutzt er einen staatlichen Rechtsbegriff. Für die Identifizierung von Systemen wiederum stellt Luhmann auf einen binären Systemcode ab, für das Rechtssystem auf die Unterscheidung von Recht und Unrecht, über den sich das System konstituiert (unten § 70II). Für eine Rechtsdefinition ist das wenig hilfreich, da man schon wissen muss, was Recht und Unrecht ist. Hilfreich ist nur Luhmanns Hinweis auf die Gerichte als ds Kompetenzzentrum des Rechtssystems.

Luhmann hat darauf hingewiesen, dass das Rechtssystem allein die Gerichte unter Entscheidungszwang setzt. Der Gesetzgeber und Private können sich entschließen, Gesetze zu erlassen oder Verträge einzugehen; sie stehen dabei oft unter erheblichem Druck. Aber dieser Druck ist fast immer außerrechtlich begründet. Die Gerichte dagegen müssen von Rechts wegen entscheiden, wann immer sie gefragt werden. Deshalb bilden die Gerichte das Zentrum des Rechtssystems.

Der Rechtsstab bzw. die Gerichte organisieren sich dadurch, dass sie bei ihrer Sanktionstätigkeit sekundären Normen folgen, die angeben, wer wann und wie tätig zu werden haben. Sekundäre Normen dieser Art stellen sich juristisch als Verfahrensregeln dar. Einige Autoren sehen im Verfahren das eigentliche Kennzeichen des Rechts. Diese Verfahrenstheorie kann man als Kehrseite der Rechtsstabstheorie verstehen.

6. Funktionstheorien

Literatur: Karl N. Llewellyn, The Normative, the Legal, and the Law-Jobs, Yale Law Journal 41, 1940, 1355 ff.; Leopold Pospíšil, Anthropologie des Rechts, Recht und Gesellschaft in archaischen und modernen Kulturen, 1982; Rüdiger Schott, Die Funktionen des Rechts in primitiven Gesellschaften, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1, 1970, 107-174.

Die Funktion des Rechts wird oft auf den Generalnenner der sozialen Kontrolle (social control) gebracht. Darunter versteht man alle Prozesse, die dazu dienen, eine gewisse Gleichförmigkeit und Berechenbarkeit menschlichen Verhaltens herzustellen. An dieser Stelle soll soziale Kontrolle als Oberbegriff für alle Funktionen des Rechts dienen. Im Detail wird darüber hinaus ein ganzes Bündel von Rechtsfunktionen genannt (unten § 91V). Dazu gehören in unterschiedlichen Mischungen und verschiedener Betonung Konfliktregelung, Erwartungssicherung, Verhaltenssteuerung und die Legitimierung sozialer Herrschaft als Funktionen des Rechts (unten § 69 III).

Das Recht ist aber nur eines von mehreren Mitteln der sozialen Kontrolle. So zeichnen etwa Religion, Mode oder Konvention und ebenso auch das Recht bestimmte Handlungen für bestimmte Situationen vor. Gemeinsam ist allen Kontrollmitteln, dass sie eine Einheitlichkeit oder Konformität des Verhaltens herzustellen vermögen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der einzelne weiß oder merkt, dass er sich unter dem Druck der Kontrolle konform verhält. Ebenso wenig ist entscheidend, ob derjenige, der das Kontrollmittel einsetzt, sich bewusst ist, welche Bedeutung sein Handeln hat. Zur sozialen Kontrolle rechnen also alle Mittel, die für die Stabilität der Erwartungen, für Konformität des Verhaltens, kurzum, wie Juristen sagen könnten, für Sicherheit und Ordnung sorgen. Viele ziehen es heute vor, auf den Begriff der Sozialkontrolle zu verzichten, und stattdessen von Governance zu reden, obwohl die Begriffe sich nicht ganz decken. Governance zielt eher auf eine intendierte Koordination des Sozialen und ist damit noch rechtsnäher).

Es bleibt die Frage, wodurch sich das Recht von anderen sozialen Erscheinungen abhebt, die die gleichen Funktionen erfüllen, wie sie dem Recht zugeschrieben werden. Teilweise verzichtet man einfach auf eine Unterscheidung und gelangt auch auf diesem Wege zu einem Panjurismus. Mehr oder weniger alle sozialen Ordnungen erscheinen dann als Recht.

Die Anthropologen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausschwärmten, hatten gar keine andere Wahl. Die Funktion der sozialen Kontrolle lag bei Familie, Kleingruppe und Religion und alles zusammen bildete ein nahtloses Geflecht. Aber in modernen Gesellschaften gibt es besondere, ausdifferenzierte Institutionen, die sich dieser Funktion annehmen. Das sind eben die Gerichte und andere organisierten Einheiten, auf die Organisations- und Rechtsstabstheorien abstellen. So gelangt man auf dem Umweg über die Betrachtung der Funktionen des Rechts dann meistens doch wieder zu den aus anderen Definitionsversuchen bekannten Merkmalen, insbesondere zur Institutionalisierung oder gar Verstaatlichung.

So ging etwa auch Pospíšil davon aus, dass die Funktion des Rechts in sozialer Kontrolle zu suchen sei, und stellte für seine Besonderheit auf die Institutionalisierung durch »Autoritäten« ab, um einen universellen Rechtsbegriff zu gewinnen. Wird auf einen universellen Rechtsbegriff verzichtet, so führt eine Unterscheidung des Rechts von anderen Ordnungen versucht meistens in Richtung auf den Staat. Roucek unterscheidet zwischen formaler und informaler Kontrolle, Kontrolle in kleinen und großen Gruppen. Darüber hinaus sieht er im Staat (government institutions) das höchste (ultimate) Organ der Sozialkontrolle[8]. E. A. Ross bezeichnete das Recht als das spezialisierteste und vollkommenste Kontrollmittel[9]. Dahrendorf ordnet jedem Mittel der sozialen Kontrolle eine Bezugsgruppe, z. B. die Familie, Kirche, Schule, Gewerkschaft oder einen Verein, und den Rechtsnormen als Bezugsgruppe die gesamte Gesellschaft zu[10]. Julius Stone unterscheidet zwischen unmittelbarer und mittelbarer, bewusster und unbewusster Kontrolle. Er begnügt sich aber nicht damit, das Recht als in der Regel unmittelbar und bewusst zu kennzeichnen, sondern sieht im Recht die control of controls[11]. Donald Black betrachtet das Recht als einen Sonderfall der sozialen Kontrolle, der sich mit der Entwicklung des Nationalstaats herausgebildet hat; er definiert das Recht als governmental social control[12].

Es lohnt sich nicht darüber zu streiten, ob Sozialkontrolle ohne ausdifferenzierte Institutionen den Namen Recht verdient. Die Funktionstheorien sind auf jeden Fall nützlich, weil sie darauf hinweisen, dass die anderen Bereiche der Gesellschaft durch die Ausdifferenzierung des Rechts von der Aufgabe der Sozialkontrolle zwar entlastet, aber nicht ganz befreit werden. Wichtiger ist die umgekehrte Sichtweise: Das Recht als eine spezielle Form der Sozialkontrolle bleibt auf die laufende Unterstützung der Gesellschaft angewiesen.

III. Rechtspluralismus

Literatur: Franz von Benda-Beckmann, Unterwerfung oder Distanz: Rechtssoziologie, Rechtsanthropologie und Rechtspluralismus aus rechtsanthropologischer Sicht, ZfRSoz 12, 1991, 97; ders., Leben mit Recht, 2004; ders., Who’s Afraid of Legal Pluralism?, Journal of Legal Pluralism, 2002, 37-8; Kristina Benson, Legal Pluralisms, Legal Border Zones: Shar’ia Law and Trans-Jurisdictional Migration in the United Kingdom, Studia Sociologica IV , 2012, 139-150; Paul Schiff Berman, Global Legal Pluralism, A Jurisprudence of Law Beyond Borders, New York 2012, 80, 92 [Es handelt sich weitgehend um eine Zusammenfassung früherer Aufsätze. Als Zusammenfassung kann man den Aufsatz »New Legal Pluralism«, Annual Review of Law and Social Science, 2009, 225-242, lesen.]; Masaji Chiba, Legal Pluralism: Toward a General Theory Through Japanese Legal Culture, Tokio 1989; Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913; Marc Galanter, Justice in Many Rooms, Journal of Legal Pluralism 19, 1981, 1-47; Volkmar Gessner, Rechtspluralismus und globale soziale Bewegungen, ZfRSoz 23, 2002, 277-305; Boris Gilsdorff, Auf der Suche nach dem Rechtspluralismus, 2013; Carol J. Greenhouse/Fons Strijbosch, Legal Pluralism in Industrialized Societies. Introduction, Journal of Legal Pluralism and Inofficial Law 33, 1993, 1-9; John Griffiths, What Is Legal Pluralism?, Journal of Legal Pluralism, 24, 1986, 1-55; Matthias Kaufmann, Rechtspluralismus als Antwort auf die Herausforderungen des Rechts durch Globalisierung und Migration? Ethnologische und philosophische Perspektiven, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Beiheft 126 , 2011, 95-110; Ernst-Joachim Lampe, Was ist »Rechtspluralismus«?, in: ders., (Hg.), Rechtsgleichheit und Rechtspluralismus, 1995, 8-33: Sally Engle Merry, Legal Pluralism, Law and Society Review 22, 1988, 869-896; Hanne Petersen/Henrik Zahle (Hg.), Legal Polycentricity: Consequences of Pluralism in Law, 1995; Leopold Pospíšil, Anthropologie des Rechts, 1982 (Anthropology of Law, 1974); Simon Roberts, Against Legal Pluralism. Some Reflections on the Contemporary Enlargement of the Legal Domain, Journal of Legal Pluralism 42, 1998, 95-106; Klaus F. Röhl/Stefan Machura, 100 Jahre Rechtssoziologie: Eugen Ehrlichs Rechtspluralismus heute, Juristenzeitung 2013, 1117–1128; Boaventura de Sousa Santos, Toward a New Common Sense, 2. Aufl. 2002; Brian Z. Tamanaha, A General Jurisprudence of Law and Society, 2001, Kap. 7: A Non-Essentialist Legal Pluralism; ders., Understanding Legal Pluralism, Sydney Law Review 30 , 2008, 375-411; Gunther Teubner, Die zwei Gesichter des Janus: Rechtspluralismus in der Spätmoderne, in: Eike Schmidt/Hans-Leo Weyers, Liber Amicorum Josef Esser, 1995, 191; ders., Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, Rechtshistorisches Journal 15, 1996, 255; William Twining, Globalisation and Legal Theory, 2000, bes. Kap 8; ders., Normative and Legal Pluralism: A Global Perspective, Duke Journal of Comparative and International Law 20, 2010, 473-517; Wissenschaftlicher Beirat beim BMZ, Staatsentwicklung und Rechtsstaatlichkeit: Lehren aus der europäischen Geschichte und lateinamerikanischer Erfahrungen 2006; Jacques Vanderlinden, Return to Legal Pluralism, Journal of Legal Pluralism 28, 1989, 149-157.

»Rechtspluralismus ist das Faszinosum postmoderner Juristen. Sie scheren sich wenig um das offizielle Recht des zentralisierten Staates mitsamt seinen Ansprüchen auf Abstraktheit, Allgemeinheit und Universalität. Im Asphaltrecht nordamerikanischer Großstädte, im Quasi-Recht brasilianischer Favelas, in den informellen Normen der politischen Gegenkulturen, im Recht der patchwork of minorities, in den Normen ethnischer, kultureller und religiöser Gruppen, in den Disziplinierungstechniken ›privater Justiz‹, und auch in den internen Reglungen formaler Organisationen und informeller Netzwerke finden sich alle Zutaten der Postmoderne: das Lokale, das Plurale, das Subversive.« (Teubner 1995, 191)

1. Der pluralistische Rechtsbegriff

Bald nach dem ersten Weltkrieg begannen Anthropologen wie Bronislaw Malinowski und Alfred Radcliffe-Brown das Recht einfacher Stammesgesellschaften zu beschreiben. Sie fragten, wie in Gesellschaften ohne staatliche Zentralmacht soziale Ordnung entsteht und erhalten bleibt. Wie selbstverständlich gingen sie von einer Ubiquitätsthese aus: Ubi societas ibi jus. In jeder Gesellschaft gibt es Recht. Damit stießen sie auf ein Problem, das sie mit dem Rechtspluralismus teilen, nämlich die Frage, wie »Recht« definiert werden soll, wenn man auf den staatlichen Rechtsbegriff verzichtet.

Mit Anthropologie ist in unserem Zusammenhang nur die Kultur- und/oder Sozialanthropologie gemeint. Insofern ist praktisch gleichbedeutend auch von Ethnologie die Rede. Traditionell gehören zur Anthropologie, besonders in Deutschland, auch die biologische und die demographische Menschenkunde. Bedeutung hat ferner die philosophische Anthropologie, die sich mit dem »Wesen« des Menschen befasst.

Malinowski fand bei den Tobriandern in Melanesien eine verbindliche soziale Ordnung vor, die er als Recht bezeichnete. Ihre Bindungskraft gewann sie allein aus der Verkettung von Handlungen:

»The binding forces of Melanesian civil law are to be found in the concatenation of the obligations, in the fact that they are arranged into chains of mutual services, a give and take extending over long periods of time and covering wide aspects of interests and activity.« (S. 76)

Malinowski hält also die »doppelte Instutionalisierung« der Normen nicht für notwendig, um sie als Recht zu qualifizieren.

Die meisten Anthropologen folgen ihm darin nicht. Hoebel (S. 25) forderte, dass bei einer Normübertretung »legitimer« Zwang durch ein »Gericht« möglich sein müsse, »though the ultimate court may be no more than the ›bar of public opinion‹ «.Für Radcliffe-Brown war Recht »social control through the systematic application of the force of politically organised society« (Primitive Law, Encyclopedia of the Social Sciences Bd. 9, 1933, 202-206). Pospíšil wollte Recht definiert wissen als

»als eine Reihe von Prinzipien institutionalisierter sozialer Kontrolle …, wobei diese Prizipien im Wege der Abstraktion aus Entscheidungen gewonnen werden, die durch eine rechtliche Autorität (Richter, Häuptling, Vater, ein Tribunal oder ein Rat der Alten) gefällt wurden; bei diesen Prinzipien ist intendiert, daß sie iallgemein gelten sollen (das heißt in alen ›gleichartigen‹ Problemlagen in der Zukunft); sie betreffen jeweils das Verhältnis zweier Parteien, die in der Beziehung der obligatio zueinander sehen, und sie sind schließlich mit Sanktionen ausgestattet, die entweder mit der Anwendung von Gewalt verbunden sind oder bei denen das nicht der Fall ist.«

Die Ubiquitätsthese verlangt eigentlich nach einem universellen Rechtsbegriff, das heißt nach einem solchen, der für undifferenzierte staatenlose Gesellschaften ebenso passt wie für moderne staatlich organisierte und vielleicht sogar für eine Weltgesellschaft. Eine solche Definition ist nicht gelungen und kann auch wohl nicht gelingen. Das hat zur Konsequenz: Zwischen Recht und sozialer Ordnung lässt nichtmehr unterscheiden:

»Legal pluralism is a concomitant of social pluralism: the legal organization of society is congruent with its social organization.« (Griffith S. 38)

Es ist Pluralisten nicht entgangen, dass die grenzenlose Undefiniertheit dessen, was als Recht in Betracht gezogen werden soll, den Rechtspluralismus als übergreifendes Konzept in Schwierigkeiten bringt. »Hence, we are swimming, or drowning, in legal pluralism.« (Tamanaha 2008, S. 393; ferner Galanter S. 17 f; Merry S. 879). Griffith hat sich später (2006, 63 f.) dieser Einsicht gebeugt:

»In the intervening years, further reflection on the concept of law has led me to the conclusion that the word ›law‹ could better be abandoned altogether for purposes of theory formation in sociology of law. It also follows from the above considerations that the expression ›legal pluralism‹ can and should be reconceptualized as ›normative pluralism‹ or ›pluralism in social control‹.«

Andere sehen aber gerade im Rechtspluralismus einen Ausweg aus dem Definitionsdilemma, indem sie dieses Konzept als Beschreibungsrahmen für alles das verwenden, an gleichlaufenden und widerstreitenden Vorstellungen über soziale Ordnung kursiert und wirksam ist (Berman).

Der Rechtspluralismus behauptet die Koexistenz verschiedener Normenkomplexe zur selben Zeit am selben Ort. Er versteht sich als Gegensatz zu einer monistisch-etatistischen Rechtstheorie, die das Recht als Einheit unter der Verantwortung des Staates und künftig vielleicht unter der Verantwortung einer Weltgemeinschaft begreift. Seinen Namen erhielt der Rechtspluralismus zwar erst 1970 durch einen von J. Gillissen herausgegebenen Sammelband mit dem Titel »Le pluralisme juridique«. Die Sache geht jedoch schon auf Eugen Ehrlich (1862-1922) zurück. Vor dem ersten Weltkrieg entdeckte Ehrlich in der Bukowina, einer Landschaft, die damals einen Teil der Donaumonarchie bildete (und heute teils zur Ukraine, teils zu Rumänien gehört), dass sich dort das offiziell geltende österreichische Recht keineswegs durchgesetzt hatte. Die an seiner Stelle praktizierten lokalen Sitten und Gebräuche beschrieb er als »gesellschaftliches« oder »lebendes« Recht.

Rechtspluralismus knüpft an der alten Ubiquitätsthese an: Ubi societas ibi jus. Überall, wo Gesellschaft ist, da gibt es auch Recht.[13]

Die Ubiquitätsthese enthält implizit schon die Zurückweisung eines etatistischen Rechtsbegriffs. Explizit wird daraus die Unabhängigkeitsthese, die besagt, dass Recht unabhängig vom Staat existieren kann:

»Es ist dem Rechte weder begriffswesentlich, daß es vom Staate ausgehe, noch auch, daß es die Grundlage für Entscheidungen der Gerichte oder anderer Behörden, oder für den darauffolgenden Rechtszwang abgebe.« (RS S. 17)

Doch mit dieser Unabhängigkeitsthese beginnen die Probleme, denn nachdem man einen etatistischen Rechtsbegriff zurückgewiesen hat, wird es schwierig, zu definieren, was unter »Recht« zu verstehen ist. Die Formulierung Eugen Ehrlichs erweckt den Eindruck, als ob es sich bei der pluralistischen Konzeption des Rechts um eine Definitionsfrage handele. Dazu hat Ehrlich durch seine Rechtsdefinition (oben II 3) erheblich beigetragen. Aber hinter dem Konzept des Rechtspluralismus steckt mehr als Definitionsproblem, nämlich ein ganzes Bündel von Theorien über Rechtsentstehung und Rechtswirkungen und explizit oder implizit auch normative Einschätzungen unterschiedlicher Rechtssorten. Mehr und mehr setzt sich daher die Überzeugung durch, dass es dass es nicht bloß für Rechtsphilosophie und Rechtstheorie[14], sondern auch für die Rechtssoziologie den einen, richtigen Rechtsbegriff nicht geben könne, sondern dass man je nach Kontext nominal definieren kann und muss, was gerade unter Recht verstanden werden soll. Was mit dem Rechtsbegriff assoziiert wird, ist ein Kontinuum von Ordnungsphänomenen und zugleich ein komplexes Gemisch aus verschiedenen Bestandteilen, so dass allenfalls aus pragmatischen Gründen gelegentlich künstliche Grenzen gezogen werden können (z. B. Twining S. 231 unter Berufung Llewellyn). Dennoch kommen viele Rechtspluralisten immer wieder darauf zurück, dass sie eine Norm als Rechtsnorm schlechthin qualifizieren, um sodann Rechtsgeltung gegenüber inhaltlich konkurrierenden Normen für sie in Anspruch zu nehmen.

2. Klassischer Rechtspluralismus

»Der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung lieg(t) auch in unserer Zeit, wie zu allen Zeiten, weder in der Gesetzgebung, noch in der Jurisprudenz oder Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft selbst.« (Ehrlich, Grundlegung, Vorrede)

Ehrlich betonte die Diskrepanz zwischen dem offiziellen staatlichen Recht und dem »lebenden« gesellschaftlichen Recht. Seine Gedanken entfalteten ihre größte Wirkung zunächst in der Rechtsanthropologie bei der Erforschung des Rechts der indigenen Völker.

Man redet häufig vom »offiziellen« Recht, ohne eine Definition des »Offiziellen« mitzuliefern. Die Etymologie hilft nicht viel weiter (lat. officium = Amt, Pflicht; engl. office = Büro). Das »Offizielle« ist mindestens explizit und förmlich. Mit dem »offiziellen« Recht ist in der Regel das staatliche Recht gemeint. [15]

Traditionen, Sitten und Gebräuche sind vielfach so stark, dass sie das offizielle Recht gar nicht zur Geltung kommen lassen. Diese Diskrepanzthese entfaltete ihre größte Wirkung in der Rechtsanthropologie bei der Erforschung des Rechts der indigenen Völker. Merry (S. 872) spricht vom klassischen Rechtspluralismus. Er steht nicht bloß im Gegensatz zu einem monistisch-etatistischen Rechtskonzept, sondern bildet eine Gegenposition zur Modernisierungstheorie (zu dieser unten § 98). Daraus folgt eine Hinwendung zunächst zu den vormodernen Rechtsbeständen. Thematischer Schwerpunkt waren und sind die Entwicklungs- und Schwellenländer in Afrika, Mittel- und Südamerika sowie in Asien, und hier insbesondere die früheren Kolonialgebiete. Es ist kein Zufall, dass das wichtigste Publikationsorgan, das im 67. Jahrgang erscheinende Journal of Legal Pluralism and Unofficial Law, früher unter dem Titel African Law Studies erschien. Leopold Pospíšil war es, der in diesem Zusammenhang Eugen Ehrlich wiederentdeckte, und in der von Pospíšil begründeten[16] Tradition entstanden unübersehbar viele Beschreibungen von traditionalen Rechten, die sich mehr oder weniger unabhängig von den Zentralisierungsbemühungen der Kolonialmächte gehalten hatten.[17]

Von der UNO werden weltweit etwa 370 Millionen Menschen gezählt, die etwa 5000 verschiedenen indigenen Bevölkerungsgruppen zugehören und auf 90 Länder verteilt sind.[18] Allein in den USA gibt es über 550 anerkannte Indianerstämme.[19] Das bedeutet nicht, dass alle diese Menschen (noch) in funktionsfähigen traditionellen Rechtsordnungen leben. Vieles ist der Modernisierung zum Opfer gefallen. Immerhin existiert noch eine stattliche Anzahl traditionaler Elemente, die als rechtliche in Betracht kommen. Es geht um lokale Gemeinschaften, die eine eigene Identität für sich reklamieren, die Selbstverwaltung bis hin zur Souveränität für sich in Anspruch nehmen, die territoriale Ansprüche stellen und Praktiken verwenden, die mit modernem Recht nicht in Einklang stehen. Zu denken ist auch an alternative Formen der Familie und des Erbrechts, besondere Geschlechter- und Altersrollen, Formen von Gemeinschaftseigentum, die Unverfügbarkeit bestimmter Plätze, Objekte oder Wissensbestände als heilig und gelegentlich auch der Gebrauch berauschender Substanzen.

Der klassische Rechtspluralismus macht mit der Diskriminierungsthese den schon bei Ehrlich angelegten kritischen Ton gegen das offizielle Recht zum Programm: Das offizielle Recht, zumal das der Kolonialmächte, diskriminiert das lebende gesellschaftliche Recht. Nachdem die Hinterlassenschaft des Kolonialismus sich bis zu einem gewissen Grade verflüchtigt hat, richtet sich die Diskriminierungsthese stärker gegen den Universalismus westlicher Rechtsvorstellungen. Stammesverhältnisse und Religionen galten zeitweise nicht nur aus westlicher Sicht, sondern auch bei den einheimischen Eliten bloß als Hindernisse auf dem Weg zur Modernisierung.[20] Aktuell erleben wir eine pluralistische Wende in der Entwicklungshilfe. Nach vielen Enttäuschungen mit dem Versuch, die rule of law als Instrument der Entwicklungshilfe einzusetzen, ist Rechtspluralismus das neue Rezept. Ein rechtspluralistischer Zustand, so der Befund, sei die Realität, mit der sich Entwicklungshilfe vielerorts auseinandersetzen müsse.[21]

Thematischer Schwerpunkt waren und sind die Entwicklungs- und Schwellenländer in Afrika, Mittel- und Südamerika sowie in Asien, und hier insbesondere die früheren Kolonialgebiete. Es ist kein Zufall, dass das wichtigste Publikationsorgan, das im 57. Jahrgang erscheinende Journal of Legal Pluralism and Unofficial Law, früher unter dem Titel African Law Studies erschien.

Rechtssoziologen kennen sich aus bei den Nuern und den Tobriandern, bei den Kapauku-Papuas und bei den Hopi-Indianern. Bereits vor dem zweiten Weltkrieg hatten Anthropologen begonnen, das Recht einfacher Stammesgesellschaften zu beschreiben. Zunächst ging es darum, wie in Gesellschaften ohne staatliche Zentralmacht soziale Ordnung entsteht und erhalten bleibt. Nach dem 2. Weltkrieg sind Forscher in alle Welt ausgeschwärmt, um die Reste traditionaler Stammesgesellschaften zu untersuchen. Ihre Aufmerksamkeit galt vor allem den postkolonialen Staaten in Afrika und Asien. So entstanden viele Beschreibungen von traditionalen Rechten, die sich mehr oder weniger unabhängig von den Zentralisierungsbemühungen der Kolonialmächte gehalten hatten. Diese Beschreibungen waren − durchaus verständlich − von einem antikolonialistischen Enthusiasmus getragen. Das Zusammenspiel von traditionalen Rechten und staatlichem Recht wurde vor allem als Machtbeziehung analysiert.

Zum klassischen Rechtspluralismus kann man auch die Zustände zählen, wie sie sich in den Randbezirken lateinamerikanischer Großstädte herausgebildet haben. Sie gehen meistens auf illegale Landnahme zurück. Berühmt geworden ist eine Studie des Portugiesen Boaventura de Sousa Santos über die Verhältnisse in einer illegalen Siedlung in den Elendsvierteln von Rio de Janeiro.[22] Santos gibt dieser Siedlung den erfundenen Namen Pasargada und beschreibt, wie sich dort relativ unabhängig vom staatlichen Recht ein Ordnungssystem entwickelt, für das die Bewohner Rechtsqualität in Anspruch nehmen. In den so genannten Favelas bleibt die Polizei und mit ihr das offizielle Recht ausgesperrt. Aber die Vorstellungen über zentrale Rechtsgüter wie Leib und Leben, Besitz und sexuelle Ehre sind von den offiziellen gar nicht so weit entfernt, auch wenn offizielle Besitztitel fehlen und Familien ohne förmliche Heirat begründet werden. Für die Durchsetzung vermeidet man die Heranziehung staatlicher Organe. Sie werden durch eine mehr oder weniger ausgeprägte Selbstjustiz ersetzt, die bis hin zum Lynchmord reichen kann. Parallel verläuft eine informelle Wirtschaft, die nach staatlichen Maßstäben nicht von vornherein als kriminell angesehen werden muss, wiewohl teilweise auch organisierte Kriminalität hier Fuß fasst.

Wenn man den klassischen Rechtspluralismus vor allem in den Entwicklungs- und Schwellenländern verortet, gehört auch die Gegenordnung dazu, durch die das offizielle Recht nicht selten von einer partikularistische und klientilistische ausgerichteten Politikelite oder durch einen nach westlichen Maßstäben korrupten Rechtsstab konterkariert wird.

Unter die Überschrift Rechtspluralismus gehören auch revolutionäre Bewegungen, Guerillaverbände und organisierte Kriminalität, seien es Drogenkartelle oder Seeräuberei, die sich der staatlichen Kontrolle entziehen oder sogar die Kontrolle ganzer Territorien übernehmen.

Der ethnologische Blick des klassischen Rechtspluralismus richtet sich schließlich auch auf die modernisierten Gesellschaften des Westens, um dort nach dem lebenden Recht im Sinne Eugen Ehrlichs zu suchen. Wanderungsbewegungen haben als Folge der Globalisierung im Allgemeinen und vieler Kriege im Besonderen Subkulturen in vorher relativ homogenen Gesellschaften entstehen lassen, die ihre Normen als »Recht« in Anspruch nehmen. Beinahe selbstverständlich werden die islamischen Minderheiten zum Thema, die in einer christlichen oder säkularen Umgebung an den Rechtsvorstellungen der Scharia festhalten.[23] Ins Visier geraten aber auch alternative Konfliktregelungsverfahren in Vereinen, Verbänden oder neben der Justiz mit der Tendenz einer positiven Neubewertung von Ansätzen gesellschaftlicher Selbstregulierung in einer scheinbar ganz zentralistischen Rechtskultur.

3. Weicher Rechtspluralismus

Der klassische Rechtspluralismus bleibt jedenfalls insofern »weich«, als er die Grenze des gesellschaftlichen Rechts sehr weit in die Richtung des staatlichen Rechts vorverlegt. Viele Normen, die sich juristisch ohne weiteres in das offizielle Recht einfügen, werden als pluralistisch vereinnahmt, so insbesondere der große Bereich von Normen, die nicht von offizieller Seite formuliert oder kodifiziert worden sind, sondern auf die nur verwiesen wird oder die sonst in irgendeiner Weise vom offiziellen Recht anerkannt werden. Für Staaten, deren Recht in großem Umfang auf Gewohnheitsrecht oder religiöses Recht verweist, ist geradezu von state legal pluralism die Rede. Dieser kann soweit gehen wie in Tansania in den 60er Jahren, wo das staatliche Recht nur subsidiär auf englisches Common Law verwies und im Übrigen das Recht örtlicher Gemeinschaften, islamisches Recht, Hindu-Recht und Gewohnheitsrecht gelten ließ.

Den Umgang mit dem vielschichtigen Recht in moderneren afrikanischen Staaten beschreibt Dietrich Nelle, Rechtspluralismus in Afrika – Entwicklung, System und Perspektive des internen und internationalen Kollisionsrechts, Recht in Afrika 2006, 69. Eine empirische Untersuchung über vergleichbare Probleme in Indien bietet Judith Dick, Juristische Praxis im Rechtspluralismus – Die Rechtsprechung zum Khasigewohnheitsrecht als Teil der indischen »Personal Laws« zwischen Rechtspluralismus und juristischer Dogmatik, ZfRSoz 27, 2006, 197.

Während der klassische Rechtspluralismus sich auf traditionale und neotraditionale, ethnisch und religiös fundierte Normenkomplexe konzentriert, greift der Mainstream des Rechtspluralismus mit einer neuen Ubiquitätsthese weiter aus. Nun soll gelten: Ubi societas, ibi jura. In jeder Gesellschaft gibt es konkurrierende Rechte.[24] Das Recht ist überall plural. Das gilt auch für moderne Rechtsstaaten westlichen Musters.[25] Dieser Rechtspluralismus ist insofern »weich«, als sich die Mehrzahl der als plural in Anspruch genommenen Rechte zwanglos als delegierte staatliche und als private Rechtssetzung in die traditionelle Rechtsquellenlehre einfügt, die schon immer von einer Kooperation staatlicher und nicht-staatlicher Akteure ausging.

Zu Ehrlichs Konzept gehörte die These, dass das offizielle Recht seinen Inhalt weitgehend aus dem gesellschaftlichen Recht gewinnt. Diese Herkunftsthese stellt er schon in der »Grundlegung« heraus: der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung liege durchweg »in der Gesellschaft selbst«, nicht bei Gesetzgebung, Jurisprudenz und Rechtsprechung. Manchen Pluralisten genügt die Herkunftsthese, um große Teile des staatlichen Rechts für pluralistisch zu halten.[26] Häufig anzutreffen ist der Hinweis auf mittelalterliche Verhältnisse vor der Begründung moderner Staaten[27], der den Rechtspluralismus als Normalzustand erscheinen lässt. Dadurch verliert der Rechtspluralismus an Kontur.

Um die neue Ubiquitätsthese auszufüllen, werden viele Phänomene dem pluralistischen Recht zugeschlagen, die ein monistisch denkender Jurist wie selbstverständlich in seinem Einheitssystem unterbringt. Für moderne Staaten westlichen Musters sprechen manche[28] schon überall dort von Rechtspluralismus, wo staatsunabhängige Einrichtungen Normen setzen und verwalten wie Vereine, Gesellschaften und Universitäten ihre Satzungen oder Eigentümergemeinschaften ihre Nutzungs- oder Hausordnung. Auch Satzungen der Kommunen werden angeführt.[29]

Als pluralistisch vereinnahmt wird der große Bereich von Normen, die nicht von offizieller Seite formuliert oder kodifiziert worden sind, sondern auf die nur verwiesen wird oder die sonst in irgendeiner Weise vom offiziellen Recht anerkannt werden. Für Staaten, deren Recht in großem Umfang auf Gewohnheitsrecht oder religiöses Recht verweist, ist von state legal pluralism die Rede[30]. Dieser kann so weit gehen wie in Tansania in den 60er Jahren, wo das staatliche Recht nur subsidiär auf englisches Common Law verwies und im Übrigen das Recht örtlicher Gemeinschaften, islamisches Recht, Hindu-Recht und Gewohnheitsrecht gelten ließ.

Der Staat hat manche Aufgaben erst übernommen, nachdem kirchliche, frei-gemeinnützige und parastaatliche Träger abgesagt haben oder nachweislich nicht effektiv handeln konnten. In neuerer Zeit scheint es jedoch umgekehrt zu liegen. Der Staat ist mit der Regulierung der Gesellschaft überfordert und setzt daher in großem Umfang auf Selbstregulierungskräfte der Gesellschaft. An die Stelle flächendeckender staatlicher Rechtsetzung ist ein staatlich geduldeter oder sogar geförderter Rechtspluralismus getreten. Seine Erforschung firmiert heute weitgehend unter dem Titel Governance. Governance ist ein modernisierter Rechtspluralismus mit politpraktischem Erkenntnisinteresse.[31]

Die Diskrepanzthese besagte bei Ehrlich ursprünglich, dass mit dem offiziellen Recht ein gesellschaftliches Recht konkurriert. Manchen gilt es aber schon als Rechtspluralismus, wenn das offizielle Recht im Zuge seiner Anwendung verändert wird.[32] Ein Beispiel wäre der Deal im Strafverfahren vor seiner Legalisierung. Auch die Tätigkeit von Aktivisten, die staatliche Rechtsakte oder traditionelle Praktiken unter Berufung auf die Menschenrechte herausfordern, füllen die Themensammlung des Rechtspluralismus.[33] Damit wird das Pluralismuskonzept weiter aufgeweicht.

Für das Völkerrecht ist das Pluralismus-Label plausibel, denn hier hat sich ein Wildwuchs entwickelt, der als Fragmentierung beklagt wird.[34] Er zeigt sich in einer kaum mehr übersehbare Anzahl von übernational tätigen Gerichten oder Spruchkörpern, die Streitfälle entscheiden.[35] Erhebliche Bestände des Völkerrechts sind so genanntes Soft-Law und konkurrieren als solches ganz offen mit normativen Anforderungen aller Art. Dagegen leuchtet es wenig ein, dass auch die vergleichsweise wohlgeordneten Rechtsebenen in der EU für den Rechtspluralismus herhalten müssen. Berman verwässert den Rechtspluralismus vollends, indem er die Tatsache, dass die verschiedenen Rechte der Nationalstaaten kollidieren können, als Beleg für den ubiquitären Pluralismus des Rechts bemüht.[36]

So erfasst der weiche Rechtspluralismus zusätzlich zum klassischen vor allem Phänomene, die die traditionelle Jurisprudenz ohne besonderen Begriffsaufwand bearbeitet hat. Man kann daher auch aus etatistischer Sicht über Rechtspluralismus reden, und das praktizieren besonders Juristen, die sich der Interdisziplinarität verpflichtet fühlen.[37] Aber die juristisch-etatistische Vereinnahmung des Pluralismusbegriffs wird seinem rechtssoziologischen Ursprung nicht gerecht. Zwar entsteht der Eindruck, als verberge sich hinter dem einnehmenden Wesen des Rechtspluralismus eine Strategie: Die dem etatistischen Recht als plural entgegengestellten Normen sollen allein durch ihre Masse beeindrucken, damit zur Abwertung des staatlichen Rechts beitragen und umgekehrt selbst an Legitimität gewinnen. Aus der Geringschätzung des offiziellen Rechts ergibt sich umgekehrt die Überlegenheit des gesellschaftlichen Rechts. Aber man kann den Rechtspluralismus wegen seiner inhärenten Normativität nicht einfach als ein Konstrukt von Sozialwissenschaftlern abtun.[38] Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass er eine neue, kritische Sicht auf die Dinge eröffnet. Sie unterscheidet sich von der geläufigen Kritik des Rechtszustandes als neoliberalistisch dadurch, dass jeweils konkrete Rechtsalternativen aufgewiesen werden. Die pluralistische Sicht ist aber auch geeignet, singuläre Attacken, wie sie besonders dem islamischen Recht gelten[39], in einen größeren Kontext zu stellen und sie dadurch zurechtzurücken[40].

4. »Harter« Rechtspluralismus

Das Programm eines »harten« Rechtspluralismus, wie es von John Griffiths formuliert wurde.[41], will den Gedanken einer Rechtseinheit oder einer irgendwie gearteten Superiorität staatlichen Rechts völlig aus dem Pluralismuskonzept verbannen. Griffiths betont, dass es ihm um eine deskriptive Theorie des Rechts gehe. Dazu treibt er Ehrlichs (Rechts-)Wissenschaftsbegriff auf die Spitze. Um zu einer adäquaten sozialwissenschaftlichen Beschreibung des Rechts zu gelangen, müsse die Empirie von ihrer unwissenschaftlichen Loyalität zu einer besonderen Art des Rechts befreit werden. Es müsse die »ideology of legal centralism« ausgeräumt werden, die nicht nur bei Juristen, sondern auch bei Rechtssoziologen verbreitet sei (Ideologiethese):

»Precisely because it is an ideology, a mixture of assertion about how the world ought to be and apriori assumptions about how it actually and even necessary is, legal centralism has long been the major obstacle to the development of a descriptive theory of law. … Conceptions of what law is have reflected a particular idea about what it ought to be.« (S. 3)

»Legal pluralism is the fact. Legal centralism is a myth, an ideal, a claim, an illusion. Nevertheless, the ideology of legal centralism has had such a powerful hold on the imagination of lawyers and social scientists that its picture of the legal world has been able successfully to masquerade as fact and has formed the foundation stone of social and legal theory.« (S. 4)

Den Pluralismus Ehrlichs weist Griffiths zurück, da dieser immer noch den Juristenstandpunkt einnehme, indem er nach Normen frage, die mit dem staatlichen Recht konkurrierten und dem Richter als Entscheidungsnormen dienen könnten. Er hält es aber auch für verfehlt, mit Ehrlich nach der »inneren Ordnung der Verbände« zu suchen, da selbst dieses Konzept juristisch inspiriert sei (S. 27-29). Hinter dem Ideologieargument steckt bei Griffith wohl der Vorwurf des Ethnozentrismus oder –anders formuliert – des methodologischen Etatismus. In diesem Sinne hat Roberts geltend gemacht, der Rechtsbegriff sei als analytisches Konzept für vergleichende Untersuchungen ungeeignet, weil er dem westlich-europäischen Denken verhaftet bleibe mit der Folge, dass die Interpretation normativer Phänomene anderer Kulturkreise zwangsläufig mit eurozentrischen Kategorien verzerrt würde.[42] Merry (1988) hatte den Begriff »Recht« schon durch »normative Ordnungen« ersetzt, um die Gefahr zu vermeiden, Attribute des staatlichen Rechts auf nichtstaatliches »Recht« zu übertragen.

Zwischen Recht und sozialer Ordnung gibt es für Griffith keinen Unterschied mehr.

»Legal pluralism is a concomitant of social pluralism: the legal organization of society is congruent with its social organization.« (S. 38)

Damit erfasst der »harte« pluralistische Rechtsbegriff letztlich alle Mittel der sozialen Kontrolle.

Es ist Pluralisten nicht entgangen, dass die grenzenlose Undefiniertheit dessen, was als Recht in Betracht gezogen werden soll, den Rechtspluralismus als übergreifendes Konzept zerstört. »Hence, we are swimming, or drowning, in legal pluralism.«[43] Dennoch halten sie an dem Konzept des Legal Pluralismus fest. Nur Griffith hat sich später dieser Einsicht gebeugt:

»In the intervening years, further reflection on the concept of law has led me to the conclusion that the word ›law‹ could better be abandoned altogether for purposes of theory formation in sociology of law. It also follows from the above considerations that the expression ›legal pluralism‹ can and should be reconceptualized as ›normative pluralism‹ or ›pluralism in social control‹.«[44]

5. »Neuer« Rechtspluralismus

Inzwischen ist eine neue Pluralität des Rechts gewachsen, die sich mit dem rechtsethnologisch inspirierten Konzept eines Multi-Kulti-Pluralismus nicht mehr angemessen begreifen lässt. Es geht einerseits darum, dass der Staat auf vielen Gebieten auf die Selbstregulierungskräfte der Gesellschaft zurückgreift oder ihnen das Feld überlässt. Auf der anderen Seite entstehen als Folge der Globalisierung »transnationale« Normenkomplexe, die sich nicht aus staatlichem Recht ableiten lassen. Quelle des neuen pluralen Rechts ist nicht länger tradierte oder spontan sich entwickelnde Gewohnheit, sondern bewusste Selbstregulierung. Träger sind nicht länger traditionelle ethnische oder lokale Gruppierungen, sondern moderne Organisationen, insbesondere Verbände der Wirtschaft und andere NGOs (Non Governmental Organisations). Der neue Rechtspluralismus ist daher vor allem ein transnationaler.

In Ehrlichs Bukowina ging es um einen Rechtspluralismus neben dem oder innerhalb des Staates. Heute steht eine übernationale Rechtspluralität zur Debatte, die sich im Zuge der Globalisierung weitgehend unabhängig von den Nationalstaaten als Werk nicht territorial gebundener transnationaler Akteure entwickelt hat und deshalb als transnationales Recht bezeichnet wird.[45] Sein Anwendungsbereich ist ohne räumliche Grenzen und kann daher leicht mit nationalen Rechtssystemen oder mit pluralen Rechten lokaler Art in Konflikt geraten.

Es gibt keine einheitliche Theorie des transnationalen Rechts.[46] Die verschiedenen Ansätze beziehen ihren Schwung aus der Behauptung der relativen Ohnmacht des staatlichen und der noch größeren des offiziellen Völkerrechts. Allen gemeinsam ist die Annahme, dass im Zuge der Globalisierung neben den Staaten neue Akteure die Rechtsentwicklung vorantreiben. Zunächst handelt es sich um die Organisationen des internationalen Rechts, die sich im Verhältnis zu den Nationalstaaten mehr oder weniger verselbständigt haben. Sodann – und hier liegt der Akzent – handelt es sich um nichtstaatliche Akteure, insbesondere um die Global Player der Wirtschaft, die Transnational Corporations and Conglomerates (TRANCOs), sowie um die der Zivilgesellschaft zugerechneten Non Governmental Organizations (NGOs). Auch epistemische Gemeinschaften werden genannt, unter ihnen Gemeinschaften international vernetzter Richter, Anwälte und Rechtswissenschaftler.[47] Im Ergebnis tritt neben das Völkerrecht oder an seine Stelle eine dezentrale Global Governance. Paradebeispiel für transnationales Recht sind die lex mercatoria und die lex electronica (oder lex digitalis) genannte Regelung des Internetverkehrs. Nunmehr ist geradezu umgekehrt von einer Marginalisierung der Staaten unter dem Druck pluraler Rechtsbildungen die Rede.[48]

Santos verbindet den Rechtspluralismus mit einem postmodernen Wissenschaftsbegriff, der es nicht mehr für sinnvoll hält, in den sozialen Feldern nach generalisierbaren Gesetzmäßigkeiten zu suchen, denn von verschiedenen Standpunkten ließen sich über die Gesellschaft und ihr Recht unterschiedliche Aussagen treffen, von denen keine als wissenschaftlich ausgezeichnet werden könne.[49] Auf dieser Basis hat er eine Art Sphären-Pluralismus als das Schlüsselkonzept postmoderner Rechtsbetrachtung skizziert, in dem eine prominente Stelle für globale Rechtskonzepte reserviert ist. Santos stellt eine symbolic cartography of law vor, in der globale, staatliche und lokale Rechtsordnungen verzeichnet sind, also Rechtsordnungen verschiedener Reichweite, die auf gleichartige Situationen in unterschiedlicher Art und Weise reagieren. Lokales Recht zeichnet sich, wie unter einem Vergrößerungsglas, durch ausgeprägte Legitimität aus, staatliches Recht durch Legitimität in mittlerer Größenordnung, während globales Recht geringe Legitimität mitbringt.[50]

Gunther Teubner gelang 1996 ein großer Wurf, als er im Hinblick auf das entstehende transnationale Recht den Ausdruck von der »Global Bukowina« prägte, der alsbald sprichwörtlich geworden ist.[51] Teubner und seine Schüler haben aber vor allem eine spezifische Theorie des transnationalen Rechts entworfen. Sie stützt sich auf die Systemtheorie Niklas Luhmanns und betont, dass das Recht auf dem Weg zur Weltgesellschaft hinterherhinkt, sich dennoch aber zu einem staatenunabhängigen Weltrecht entwickelt.[52] Die anderen Teilsysteme der Gesellschaft – allen voran Wirtschaft, Medien und Wissenschaft, aber kaum weniger etwa Sport und Kunst – seien längst globalisiert. Mangels eines einheitlichen Weltrechts deckten sie ihren Koordinierungs- und Regelungsbedarf durch Selbstorganisation. Das transnationale Recht entwickle sich daher »polyzentrisch«; es entstehe eine Vielzahl von »Rechtsregimen«, die den Eigenlogiken der jeweiligen gesellschaftlichen Teilsysteme folgten, welche sich bereits zu Weltsystemen entwickelt hätten. Daraus entstünden »Regimekollisionen«, denn die jeweiligen transnationalen Rechtsregime orientierten sich an der Eigenlogik ihres Funktionssystems. Die WTO z.B. sei Teil des Wirtschaftssystems und setze auf wirtschaftliche Rationalität mit der Folge, dass der Freihandel den Gesundheitsschutz behindere oder der weltweite Patentschutz angestammte Kulturtechniken in die Illegalität abdränge.

Kern dieser Theorie ist eine Rechtsdefinition, die besagt, dass die reflexive Organisation eines Normenkomplexes einen Qualitätssprung bedeutet. Der Umschlag von bloßer Regelbildung (private ordering) zum Recht erfolgt mit dem Vorgang, den Teubner früher[53] als Hyperzyklus vorgestellt hatte. In neueren Veröffentlichungen spricht er von sekundärer Normierung und stützt sich dazu auf die Figur der secondary rules von H. L. A. Hart. Gemeint ist, dass ein sozialer Bereich nicht bloß über Regeln zur Verhaltenssteuerung verfügt, sondern Kriterien entwickelt, nach denen intern entschieden wird, welche Regeln zum System gehören und welche nicht. Wenn der Regelkomplex, wie er sich herausgebildet hat, Regeln über Regeln und möglichst auch eine gerichtsförmige Entscheidungsinstanz aufweist, handelt es sich eben um Recht.[54] Als Paradebeispiele dienen immer wieder die lex mercatoria und die lex digitalis der ICANN.[55]

Transnationales Recht in diesem Sinne ist in der Tat eine Realität, ebenso die Möglichkeit oder gar Wahrscheinlichkeit von Kollisionen zwischen den transnationalen Rechtsregimen untereinander oder mit offiziellem Recht, sei es national oder supranational. Die Rechtsregime haben sich von unterschiedlichen Ausgangspunkten her – also polyzentrisch – entwickelt, und sie stehen ohne Hierarchie »heterarchisch« nebeneinander. Irgendwie müssen sie miteinander auskommen. Zur Beschreibung dessen, was tatsächlich geschieht, dient der von Santos eingeführte Begriff der Interlegalität. Gemeint ist,

»dass parallele Normensysteme unterschiedlicher Herkunft sich wechselseitig anregen, gegenseitig verbinden, ineinander greifen und durchdringen, ohne zu einheitlichen Superordnungen zu verschmelzen, die ihre Teile absorbieren, sondern in ihrem Nebeneinander als heterarchische Gebilde dauerhaft bestehen, kurzum, dass Rechtspluralismus Realität ist.«[56]

Oder in einer Formulierung von Fischer-Lescano und Teubner:

»Bestimmte soziale Koordinationsmechanismen nichthierarchischer Natur – wechselseitige Beobachtung, antizipatorische Anpassung, Kooperation, Vertrauen, Selbstverpflichtung, Verlässlichkeit, Verhandlungen, dauerhafter Beziehungszusammenhang – bilden die übergreifende Ordnung der Regime-Vernetzung.«[57]

Berman spricht stattdessen von Dialektik mit dem Ergebnis von Hybridbildungen.[58] Von Konflikten und Schwächung oder Unterdrückung der einen oder anderen Normsphäre ist nicht die Rede. Eine klare Äußerung gibt es immerhin von Franz von Benda Beckmann: Pluralistische Ordnungen münden zwar nicht notwendig in Konflikte, sind aber riskanter als andere.[59]

6. Normativer Rechtspluralismus

Die Debatte um den Rechtspluralismus ist ein Spiegelbild der Diskussion um die Entstehung von sozialer Ordnung. Die etatistische Sichtweise betont in der Tradition von Thomas Hobbes, dass eine Gesellschaft ohne Souverän in Unordnung oder Krieg versinken würde. Der Rechtspluralismus dagegen beharrt darauf, dass die Menschen auch ohne staatlichen Befehl kooperieren und dass sich an vielen Stellen der Gesellschaft ohne die Nachhilfe übergeordneter Instanzen eigenständige Ordnungen herausbilden. Die meisten Autoren heben zwar hervor, sie verstünden das Konzept des Rechtspluralismus deskriptiv und/oder analytisch.[60] Unter der Hand aber schlägt die (rechtssoziologische) Theorie vom »lebenden Recht« zuweilen ins Normative um[61], und die Schwächung des offiziellen Rechts wird als Befreiung von den Zwängen der Staatlichkeit willkommen geheißen.

Die Diskrepanzthese und die Herkunftsthese können von der traditionellen Rechtswissenschaft ohne weiteres akzeptiert werden. Der Abstand zwischen dem, was als Recht gilt, und dem, was tatsächlich geschieht, lässt sich als Faktum ebenso wenig leugnen wie die Tatsache, dass das staatliche Recht seine Inhalte nicht frei erfindet, sondern weitgehend aus der Gesellschaft übernimmt. Es kann auch niemand hinter die Einsicht zurück, dass mit den offiziellen Rechtssystemen überall, mehr oder weniger ausgeprägt, andere normative Ordnungen konkurrieren. Problematisch ist jedoch die mit dem Rechtspluralismus verbundene Diskriminierungsthese, die Einstellung also, dass das offizielle Recht solchen Phänomenen zu wenig Beachtung schenkt, ja diese geradezu marginalisiert. Problematisch ist erst recht die Überlegenheitsthese, nach der plurales Recht dem staatlichen vorzuziehen ist. Als Folge wird staatliches Recht immer wieder mit der Forderung nach Anerkennung »gesellschaftlichen Rechts« konfrontiert.

Gesellschaftliches Recht ist nicht per se fortschrittlich, emanzipatorisch oder jedenfalls besser als staatliches Recht. Im Gegenteil: Gesellschaftliches Recht kann reaktionär, diskriminierend, unfunktional und undemokratisch sein. Das konzedieren auch Pluralisten wie Santos[62] und Berman.[63] Es besteht allerdings eine gewisse Zurückhaltung, die pluralistischen Konkurrenten der staatlichen Rechtsordnungen beim Namen zu nennen oder gar zu kritisieren. Das liegt jedenfalls zum Teil daran, dass sie inhaltlich oft schwer greifbar sind, weil sie nur selten formell fixiert sind oder weil die normtragende Gruppe, etwa eine Ethnie, nicht deutlich von ihrer Umgebung absticht.[64] Das mag aber auch daran liegen, dass es plurales »Recht« gibt, welches als solches anerkannt werden müsste, das aber schlechthin indiskutabel ist.

Okkultismus, z.B. scheint insbesondere in Afrika noch verbreitet zu sein. Er prägt bis zu einem gewissen Grade die Wahrnehmung der sozialen Beziehungen und führt zu Anschuldigungen wegen Hexerei mit der Folge, dass es zu Vertreibung oder gar zu Lynchmorden kommt. (Erdmute Alber, Hexerei, Selbstjustiz und Rechtspluralismus in Benin, in: Rolf Kappel u. a. (Hg.), Rechtsstaatlichkeit im Zeitalter der Globalisierung, 2005, 375-402; Aleksandra Cimpric, Children Accused of Witchcraft, Unicef, Dakar 2010; Michaela Pelican, Customary, State and Human Rights Approaches to Containing Witchcraft in Cameroon, in: Thomas G. Kirsch/Bertram Turner (Hg.), Permutations of Order, Religion and Law as Contested Sovereignties, Farnham, Surrey 2009, S. 149-164; Kajsa Ekholm Friedman, Elves and Witches: Oil Kleptocrats and the Destruction of Social Order in Congo-Brazzaville, in: Andrea Behrends u. a. (Hg.), Crude Domination, An Anthropology of Oil, New York 2011, S. 107-131. Auf der Internetseite Modern Ghana wird unter dem 18. Juni 2012 ausführlich und mit Bildern von einer Hexenjagd im nigerianischen Bundesstaat Akwa Ibom berichtet. Dazu Klaus F. Röhl, Crude Witchcraft, http://www.rsozblog.de/crude-witchcraft/.) Auch diese Art der Konfliktregelung ist ein Phänomen des Rechtspluralismus ebenso wie das Wüten der Vigilantentruppe der Bakassi-Boys in Nigeria (Johannes Harnischfeger, Die Bakassi-Boys in Nigeria. Vom Aufstieg der Milizen und dem Niedergang des Staates, Auslandsinformationen 12/2001 der Konrad-Adenauer-Stiftung: http://www.kas.de/wf/doc/kas_240-544-1-30.pdf?040415175916 (Stand: 4. 8. 2012); ders., »Balance of Terror‘ – Rival Militias and Vigilantes in Nigeria, 2008, Afrikanistik online http://www.afrikanistik-online.de/archiv/2008/1756/). Vom Provinzparlament in Abia ist die Gruppe im Jahre 2011 ermächtigt worden, Waffen zu tragen, was sie immer schon getan hat (Allafrica vom 18. 5. 2011: http://allafrica.com/stories/201105180412.html).

Von Augustinus stammt die berühmte Frage, was denn der Staat ohne Gerechtigkeit anderes sei als eine große Räuberbande.[65] Aber – darauf hat Pospíšil (S. 167) hingewiesen[66] – »kühle wissenschaftliche Einsicht« vom Standpunkt der Rechtssoziologie und Rechtsanthropologie darf unter dem Gesichtspunkt des Rechtspluralismus auch offensichtlich verbrecherische Ordnungssysteme nicht aussparen – und wertende Juristen dürfen deshalb das Konzept des Rechtspluralismus nicht zurückweisen.

7. Der situative Rechtsbegriff

Literatur: Michael Dellwing, Derrida, Fish, und das Gesetz, ZfRSoz 29, 2008, 261-278; Sally Falk Moore, Law and Social Change: The Semi-Autonomous Social Field as an Appropriate Subject of Study, Law and Society Review 7, 1972/73, 719-746; Boaventura Sousa de Santos, Law: A Map of Misreading. Toward a Postmodern Conception of Law, Journal of Law and Society 14, 1987, 279-302.

Als Träger pluraler Rechte stellt man sich gewöhnlich nach dem Vorbild Eugen Ehrlichs gesellschaftliche Verbände oder Gruppen vor. So entsteht der Eindruck, dass nach Art eines Schachbrettmusters hier die einen und dort die anderen Normen gelten. Tatsächlich sind aber in vielen Situationen unterschiedliche Normen gleichzeitig am Werk, und der soziale Kontext bestimmt, ob und wie sich die einen oder anderen durchsetzen. Großen Anklang hat deshalb das von der Anthropologin Sally Falk Moore entwickelte Konzept der Semi-Autonomous Social Fields gefunden, das die Anknüpfung bei abgrenzbaren Organisationen oder Verbänden vermeidet. Moore ging es allerdings gar nicht um Rechtspluralismus, sondern um die Frage, ob staatliche Gesetzgebung einen grundlegenden sozialen Wandel herbeiführen kann. Sie schlug deshalb vor, jeweils kleine Ausschnitte zu wählen und sie mit den Methoden der Anthropologie im Hinblick auf ihre relative Autonomie zu beobachten:

»The approach proposed here is that the small field observable to an anthropologist be chosen and studied in terms of its semi-autonomy – the fact that it can generate rules and customs and symbols internally, but that it is also vulnerable to rules and decisions and other forces emanating from the larger world by which it is surrounded. The semi-autonomous social field has rule-making capacities, and the means to induce or coerce compliance; but it is simultaneously set in a larger social matrix which can, and does, affect and invade it, sometimes at the invitation of persons inside it, sometimes at its own instance. The analytic problem of fields of autonomy exists in tribal society, but it is an even more central analytic issue in the social anthropology of complex societies. All the nation-states of the world, new and old, are complex societies in that sense.« (S. 720)

Dieser Ansatz verzichtet auf Theorieballast und hat sich in empirischen Untersuchungen bewährt. Moore selbst hat davon durch die Beobachtung der Textilindustrie in New York City und des Chagga-Stammes in Tansania Gebrauch gemacht und gezeigt, wie sich die sozialen Beziehungen zwischen den Beteiligten in vielerlei Hinsicht als stärker erweisen als staatliche Gesetze.

Die Bezugnahme auf Moores semi-autonome Felder führt in der Konsequenz zu einer Dynamisierung des Rechtsbegriffs. Die verschiedenen Versionen des Rechtspluralismus gehen grundsätzlich davon aus, dass es mehr oder weniger konkrete Normen »gibt«, und dass man daher sinnvoll über Normkonformität und Normbruch reden kann. Dass sich die Normen laufend wandeln, ist dabei selbstverständlich. Ein als performativ bezeichneter Rechtsbegriff sieht in Normen dagegen nur inhaltsleere Anknüpfungspunkte, die laufend situativ und diskursiv mit Inhalt erst gefüllt werden müssen. In einem solchen Recht ohne feste Normen sind »Konformität« und »Normbruch« nur noch nur noch »rhetorische Erfindungen«. Die Vorstellung, dass die Norm situationsunabhängig, etwa durch ihren schriftlich fixierten Text, einen Inhalt hat, soll als notwendige Unterstellung dienen, damit das Recht seine Leistung erbringen kann. Dieses Verständnis führt zu einer radikal interaktionistischen Rechtssoziologie. Recht ist Performanz.

Danach ist die Vorstellung von Normen staatlichen und anderen Ursprungs nur eine verdinglichende Abstraktion. Der eigentliche Rechtspluralismus ist das laufende Geschehen im sozialen Feld. Recht als solches gibt es danach gar nicht. Es geht also nicht um Vorrang, Anwendung oder Durchsetzung des einen oder anderen Rechts. Von Interesse ist allein die Entwicklung von (Rechts-)Beziehungen in einem dynamischen sozialen Prozess[67]. Letztlich wären Gerichtsverfahren nur Elemente einer umfassenderen sozialen Praxis[68]. Dieser Dynamisierungsaspekt wird relevant, wenn Normen auf das soziale Feld einwirken, ohne dass konkret der Wille oder die Chance besteht, sie gerichtlich durchzusetzen. Dann tritt an die Stelle der Anwendung die Anrufung von Normen in einem Aushandlungsprozess. Bei dessen Analyse können alle die Umstände einfließen, die als Ursache von Unrecht in Betracht kommen, insbesondere Unterschiede zwischen Arm und Reich und traditionelle oder organisatorische Verfestigungen von Macht und Herrschaft. Einfließen kann aber auch Recht, das als Soft-Law nicht mit Sanktionen bewehrt ist oder das sich, wie die Menschenrechte[69], gegen andere Rechtsvorstellungen durchsetzen muss.

Santos hat den dynamischen Aspekt des Rechtspluralismus auf den Begriff der Interlegalität gebracht:

»Legal pluralism is the key concept in a postmodern view of law. Not the legal pluralism of traditional legal anthropology in which the different legal orders are conceived as separate entities coexisting in the same political space, but rather the conception of different legal spaces superimposed, interpenetrated, and mixed in our minds as much as in our actions, in occasions of qualitative leaps or sweeping crises in our life trajectories as well as in the dull routine of eventless everyday life. We live in a time of porous legality or of legal porosity, of multiple networks of legal orders forcing us to constant transitions and trespassings. Our legal life is constituted by an intersection of different legal orders, that is, by interlegality. Interlegality is the phenomenological counterpart of legal pluralism and that is why it is the second key concept of a postmodern conception of law.« (S. 297f).[70]

IV. Der monistisch-etatistische Rechtsbegriff

Literatur: Ralf Dreier, Niklas Luhmanns Rechtsbegriff, Archiv für Rechts und Sozialphilosophie 88, 2002, 305-322; Evans/Rueschemeyer/Skocpol (Hg.), Bringing the State Back In, 1985; Niklas Luhmann, Die Stellung der Gerichte im Rechtssystem, Rechtstheorie 21, 1990, 459-473.

Wenn sich das Interesse der Rechtssoziologie sich auf den Staat und sein Recht als ein Medium politischen Handelns konzentriert, hat es wenig Zweck, auch andere Ordnungssysteme mit eigenem Entscheidungsstab mit dem Namen Recht zu bedenken. Für Sportverbände mit ihren Sportgerichten, Skatvereine mit ihrer Skatgerichtsbarkeit oder gar für Bierkomment und Biergericht wird das ohne weiteres einleuchten. Kantorowicz musste konsequent auch diese Erscheinungen noch als Grenzfälle von Recht ansehen, da er den staatlichen Rechtsbegriff ablehnte. Es liegt aber in der Konsequenz eines monistischen Rechtsbegriffs, dass alle nichtstaatlichen Ordnungen, auch wenn sie zu einer justizähnlichen Institutionalisierung eines Sanktionsapparats gefunden haben, aus dem Rechtsbegriff herausfallen. Das gilt nicht nur für das Kirchenrecht, sondern ebenso auch für das Völkerrecht, soweit es nicht in innerstaatliches Recht transformiert ist. Diese Folge scheint erträglich, weil die genannten Ordnungen als rechtsähnliche und rechtsvertretende Einrichtungen im Blickfeld der Rechtssoziologie bleiben, ähnlich wie die Kriminologie außer dem Verbrechen im Rechtssinne auch nicht strafbares abweichendes Verhalten wie Prostitution und Selbstmord behandelt. Das Völkerrecht als Ordnung nicht nur mit dem Anspruch auf rechtliche Geltung, sondern vor allem auch mit Ansätzen einer überstaatlichen Zentralgewalt und Gerichtsbarkeit kann man mit Geiger (S. 225) als Recht in statu nascendi in den Objektbereich der Rechtssoziologie einordnen[71]. Die Entscheidung gegen einen pluralistischen Rechtsbegriff bedeutet nicht, dass nur das staatliche Recht Gegenstand der Rechtssoziologie sein soll. Im Gegenteil, er bildet nur den Ausgangspunkt, um andere gesellschaftliche Normensysteme mit dem staatlichen Recht zu vergleichen, sie als (kausale) Quellen, als Stütze oder Rivale des staatlichen Rechts zu beschreiben. Über die Mafia, die PLO oder Google als Staat im Staate zu reden, wird überhaupt erst vor dem Hintergrund staatlichen Rechts und seines Monopolanspruchs interessant.

Das staatliche Recht ist in sich keine monolithische Erscheinung. Es hat je nach der konkreten Organisation des Staatswesens verschiedene Schichten (z. B. Bund, Länder, Gemeinden), und es kann sich auch unabhängig von solcher Organisation das Recht in der Praxis regional oder in verschiedenen Verkehrskreisen unterschiedlich entwickeln. Dennoch sorgt im modernen Staat eine hierarchische Gerichtsorganisation nicht nur der Idee nach, sondern auch weithin in der Rechtswirklichkeit für ein kohärentes Rechtssystem.

Den staatlichen Rechtsapparat kennzeichnet der Anspruch, innerhalb territorialer Grenzen für die gesamte Gesellschaft zu handeln. Er hält sich für kompetent, seine Regelungen auf alle Lebensbereiche auszudehnen und keine übergeordnete Kontrollinstanz mehr zu dulden (=Kompetenz-Kompetenz), und kann diesen Anspruch auch faktisch bis zu einem gewissen Grade durchsetzen. Dazu hat er nicht nur den physischen Zwang, sondern auch das Recht zur Besteuerung bei sich monopolisiert. Wie der staatliche Rechtsapparat die Anerkennung durch die Gesellschaft errungen hat, ob und wie er sie sich erhält, ist unter dem Stichwort Legitimation ein wichtiges Sachproblem der Rechtssoziologie, für die Definitionsfrage aber ohne Bedeutung.

Der monistische Rechtsbegriff ist nicht unbedingt etatistisch im Sinne von nationalstaatlich. Er ist auch einschlägig, soweit sich das Kompetenzzentrum auf supranationale Organisationen verlagert wie es in der Europäischen Union der Fall ist.

Wenn man sich für einen monistischen Rechtsbegriff entscheidet, so kann man doch nicht einfach auf die Rechtsdefinition der Juristen zurückgreifen, wie sie in der sog. Rechtsquellenlehre behandelt wird. Im Mittelpunkt der juristischen Rechtsquellenlehre steht heute in der Regel der (parlamentarische) Gesetzgeber. Die Rechtssoziologie lenkt dagegen den Blick stärker auf die Gerichte. Die Gerichte nehmen im gesamten Mechanismus der Rechtsverwirklichung eine Schlüsselstellung ein. In ihren Urteilen zeigt sich, ob und wie die vom Gesetzgeber, von der Wissenschaft oder von gesellschaftlichen Kräften proklamierten Normen zur Geltung gelangen. Indem sie staatliche Gesetze anwenden, determinieren sie erst deren Geltungssubstanz. Wenn sie auf habituelle Standards wie Verkehrssitte oder Gewohnheitsrecht optieren oder wenn sie den Vorschlägen der Wissenschaft oder den Normzumutungen gesellschaftlicher Kräfte folgen, bestätigen sie als Rechtsnorm, was bisher vorrechtlich war. Indem sie nach richterlichem Ermessen, nach der Natur der Sache oder nach Billigkeitserwägungen entscheiden, schaffen sie geltendes Recht. Umgekehrt handeln alle Akteure im Rechtssystem im Hinblick darauf, ob ihre Rechtsschöpfungs- oder Rechtsanwendungsakte vor Gericht Bestand haben oder wie sie den Gerichten ausweichen können. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Gerichte nach Belieben Recht schaffen könnten oder gar sollten, sondern es wird rein äußerlich diejenige Stelle genannt, deren Entscheidungen definitionsgemäß als Recht bezeichnet werden sollen.

Luhmann hat darauf hingewiesen, dass das Rechtssystem allein die Gerichte unter Entscheidungszwang setzt. Der Gesetzgeber und Private können sich entschließen, Gesetze zu erlassen oder Verträge einzugehen; sie stehen dabei oft unter erheblichem Druck. Aber dieser Druck ist fast immer außerrechtlich begründet. Die Gerichte dagegen müssen von Rechts wegen entscheiden, wann immer sie gefragt werden. Deshalb bilden die Gerichte das Zentrum des Rechtssystems.

Nicht zuletzt deshalb empfiehlt es sich, mit der Rechtsdefinition bei den staatlichen Gerichten anzuknüpfen, weil dabei ein weitgehend übereinstimmendes Vorverständnis vorausgesetzt werden darf, weil es sich hier um einen operationalen Begriff handelt, also um einen solchen, mit dem von allen Beobachtern im wesentlichen der gleiche soziale Sachverhalt identifiziert wird und der sich deshalb wie kein anderer zur Verständigung eignet und einen einheitlichen Rechtsbegriff sowohl für die kontinentalen, vom Gesetz geprägten Rechtssysteme wie auch für den vom Präjudiz beherrschten angloamerikanischen Rechtskreis ermöglicht.

Es bleibt die Frage, ob es genügt, in der Rechtsdefinition als Rechtsapparat oder Rechtsstab lediglich die Gerichte zu berücksichtigen, oder ob auch der Gesetzgeber einbezogen werden muss. Tatsächlich wird damit der übliche Rechtsbegriff der Juristen geradezu auf den Kopf gestellt. Nicht Gesetz und Recht, sondern Recht und Urteilsverhalten werden identifiziert. Treffend hat man insoweit von einer Auswechselung des Gesetzespositivismus gegen einen Entscheidungspositivismus gesprochen. Diese Auswechselung erscheint durchaus zweckmäßig. Sie ist insofern unschädlich, als die Gerichte im Großen und Ganzen tatsächlich bereit sind, staatliche Gesetze anzuwenden, so dass mit dem Urteilsverhalten des Rechtsstabs praktisch auch das kodifizierte Gesetzesrecht eingeschlossen ist. Sie ist sogar besonders zweckmäßig, weil sie es gestattet, die Gesetzestreue der Richter zu problematisieren. Die Anknüpfung bei den Gerichten führt damit zu einer anderen zentralen Frage der Rechtssoziologie: Wieweit ist das Recht autonom nicht nur gegenüber der Gesellschaft, sondern auch gegenüber dem politischen System?

Definition: Als Rechtsnormen können diejenigen Normen bezeichnet werden, die von einem speziellen Rechtsstab angewendet werden, der innerhalb territorialer Grenzen für sich die Kompetenz-Kompetenz in Anspruch nimmt und diese im Wesentlichen auch faktisch durchzusetzen in der Lage ist.

Dieser etatistische Rechtsbegriff deckt auch die auf staatliche Aktivitäten zurückgehenden überstaatlichen Normen und Institutionen unter Einschluss des Völkerrechts.

Der Objektbereich der Rechtssoziologie erschöpft sich aber keineswegs in den so definierten Rechtsnormen und den daraus abgeleiteten Entscheidungen, sondern er erstreckt sich auf alles, was im Licht oder Schatten dieser Rechtsnormen geschieht. Jedes Verhalten, dass in irgendeiner Weise auf Rechtsnormen in diesem Sinne reagiert, ganz gleich ob es auf ihren Inhalt Einfluss nimmt, sie befolgt oder ihnen ausweicht, ist Bestandteil des Handlungszusammenhangs Recht (Rechtssystem). Zum Recht gehört das Handeln der öffentlichen Verwaltung, die ihre Kompetenzen aus Rechtsvorschriften ableitet und auf die Billigung ihrer Tätigkeit durch die Gerichte Bedacht nimmt, auch soweit sie Ermessensfreiheit hat. Zum Recht gehört das Handeln der Wirtschaftssubjekte, soweit sie auf Anerkennung durch die Rechtsordnung Wert legen oder aber sich dem Zugriff des Rechtsapparats zu entziehen versuchen. Zum Recht gehört das Handeln der einzelnen Bürger, die sich auf Rechtsnormen berufen oder auch nur danach oder dagegen handeln, was sie für Recht halten. Zum Recht gehören schließlich alle individuellen oder organisierten Bemühungen, auf das Handeln des staatlichen Rechtsapparats oder den Inhalt von Rechtsnormen Einfluss zu nehmen.

Wenn man davon ausgeht, »dass das Maß an Staatlichkeit‹, an staatlicher Verfasstheit der Gesellschaft, nichts weiter ist als eine empirische Variable, deren unterschiedliche Ausprägungen den Anstoß zu wichtigen Fragen geben kann« (Willke, Die Entzauberung des Staates, S. 10), dann wird der monistische zu einem komparativen Rechtsbegriff. Die Frage lautet dann, ob bestimmte Phänomene mehr oder weniger dem als Idealtypus verstandenen staatlichen Recht entsprechen.

Die Aufgabe der Rechtssoziologie wird immer wieder dahin bestimmt, sie habe die wechselseitige Abhängigkeit (Interdependenz) von Recht und Sozialleben zu untersuchen, d. h. einerseits das Recht als Ergebnis außerrechtlicher, gesellschaftlicher Prozesse zu erklären und umgekehrt die Einwirkung des Rechts auf die Gesellschaft zu beschreiben[72]. Dazu ist es notwendig, einen möglichst engen, klar abgegrenzten Bereich des Rechts von der übrigen Gesellschaft zu unterscheiden. Das leistet, jedenfalls für die moderne Gesellschaft westlichen Typs[73], nur ein etatistischer Rechtsbegriff, d. h. ein solcher, der allein auf das staatliche Recht abstellt. Ein pluralistischer Rechtsbegriff lässt kaum etwas übrig, was man dem Recht als Gesellschaft gegenüberstellen könnte. Er mag für Ethnologen, Kleingruppenforscher oder Rechtshistoriker nützlich sein. Für die Rechtssoziologie der Gegenwart ist er verfehlt. Die Vertreter eines pluralistischen Rechtsbegriffs halten ihr Konzept auch gar nicht durch, denn wenn sie konkret werden, unterscheiden sie alsbald wieder zwischen staatlichem und außerstaatlichem Recht. Der Grund dafür, dass sie so beharrlich auch nicht staatlich kontrollierte Ordnungssysteme als Recht bezeichnen, ist zunächst in der Absicht begründet, darauf hinzuweisen, dass diese Ordnungen vielfach gleiche Funktionen erfüllen wie staatliches Recht. Aber es verbirgt sich dahinter auch eine seit Ehrlich in der Rechtssoziologie verbreitete Geringschätzung staatlichen Rechts zugunsten gesellschaftlicher Kräfte. In der Analyse der Globalisierung des Rechts hat sie einen neuen Höhepunkt erreicht.

Ein zentrales Thema der Rechtssoziologie, auf das der staatliche Rechtsbegriff hinlenken kann, bilden die Grenzen der Autonomie des Rechts. Wieweit kann staatliches Recht sozialen Wandel einleiten oder anhalten, bremsen oder beschleunigen? Gibt es eine Legitimationskrise oder eine Krise des Sozialstaats, der die Autonomie des Rechts in Frage stellt? Fast alle Beobachter[74] stimmen darin überein, dass ein entscheidendes Merkmal des modernen Staates westlicher Prägung in seiner Ablösung von der gesellschaftlichen Basis und der daraus gewonnenen Autonomie zu finden ist. Der Prozess der Rationalisierung und Bürokratisierung, wie ihn Max Weber beschrieben hat, hat das Recht gegenüber Sitte und Moral verselbständigt. Der Territorialstaat hat sich dieses Rechts bemächtigt. Er nutzt es in einem noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts schwer vorstellbaren Ausmaß zur Planung und Kontrolle sozialer und wirtschaftlicher Beziehungen. Recht gründet nicht länger in der täglichen Erfahrung und im Bewusstsein des Publikums. Es wird von einer politischen Elite im Verein mit einer juristisch geschulten Bürokratie geschaffen und verwaltet. Die demokratische Anbindung über das gewählte Parlament unterliegt dem ehernen Gesetz der Oligarchie (§ 76 II). Das breite Publikum kennt und versteht das Recht nicht einmal in groben Zügen. Trotzdem sieht es im Staat die einzige legitime Quelle des Rechts. So wie in früheren Entwicklungsstufen das Recht nur ein Aspekt der Gesellschaft war, ist heute das Recht ein Aspekt des Staates.

Der staatliche Rechtsbegriff lässt sich auch funktional deuten, indem man das Recht als ein besonderes Sozialsystem zur Anfertigung verbindlicher Entscheidungen betrachtet, als einen Filterungsprozess, der in das gesamtgesellschaftliche Geschehen der Rechtsbildung und Umbildung eingeschaltet ist und den alle Rechtsgedanken durchlaufen müssen, um verbindlich zu werden. In diesem Prozess wird über die Geltung von Normvorstellungen als Recht nicht nach Wahrheitskriterien, sondern aus Zuständigkeit entschieden. Den organisatorischen Einrichtungen des Staates, die solche Entscheidungen ermöglichen, kann die Rechtserzeugung daher auch nur formal zugerechnet werden. Entscheidungszuständigkeit und faktischer Einfluss können weit auseinanderfallen. Die formale Organisation des Rechtssystems spiegelt also nicht ohne weiteres die wirkliche Machtstruktur wider. Die Frage, welche Kausalfaktoren bewirken, dass bestimmte Parlamente, Beamte oder Richter tatsächlich in bestimmter Weise entscheiden und die Frage nach den Wirkungen solcher Entscheidungen lassen sich nicht definitorisch entscheiden, sondern bilden wiederum zentrale Sachprobleme der Rechtssoziologie.


[1] Urs Kindhäuser spricht von Büschelbegriffen (Zur Definition qualitativer und komparativer Begriffe, Rechtstheorie 12, 1981, 226-248), Frederick F. Schauer von cluster concepts (On the Nature of the Nature of Law, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 98, 2012, 457-467).

[2] A Restatement of Hohfeld, Harvard Law Review 51, 1938, 1141-1164, S. 1145.

[3] Hyperzyklus in Recht und Organisation, in: Hans Haferkamp/Michael Schmid (Hg.), Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung, 1987, 89-128; Recht als autopoietisches System, 1989, 36 ff; Verrechtlichung – ein ultrazyklisches Geschehen, 1997.

[4] Weitere Kandidaten sind die lex sportiva, die lex financiaria oder eine lex constructionis.

[5] Zum staatlichen Gewaltmonopol aus juristischer Sicht Detlef Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975.

[6] Zu dem juristischen Aspekt der Rechtsgeltung Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008.

[7] Z.B. Manfred Rehbinder, Rechtssoziologie, 7. Aufl. 2009, Rn. 44 u. 49; Hubert Rottleuthner, Foundations of Law, Dordrecht 2005, S. 229; und so bereits Hans Kelsen Eine Grundlegung der Rechtssoziologie, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 39, 1915, (wiederabgedruckt in Lüderssen (Hg.), Rechtssoziologie und Rechtswissenschaft, 2003, S. 4-54, insb. S. 46).

[8] Josef S. Roucek, Social Control, 2. Aufl., Greenwood Press, New York 1970, xxx bestellt. Seite prüfen. 178.

[9] Ross, Social Control, 1901, 106 ff., 125.

[10] Homo Sociologicus, 10. Aufl. 1971, 51.

[11] The Province and Function of Law, Sydney 1946, 767 f.

[12] The Behavior of Law, 1976, 2.

[13] Vgl. dazu Eintrag auf David Heith-Stade’s Blog.

[14] Brian Leiter, The Demarcation Problem in Jurisprudence, Oxford Journal of Legal Studies 31, 2011, 663-677; Frederick F. Schauer, On the Nature of the Nature of Law, ARSP 98, 2012, 457-467; Gerhard Struck, Recht als Tohuwabohu und als Menschheitstraum. Oder: Gibt es einen Begriff des Rechts?, Ancilla Juris 2009, 99-117; Brian Z. Tamanaha, Artikel »Law+ in: Oxford International Encyclopedia of Legal History, 2009. Ernst-Joachim Lampe (Was ist »Rechtspluralismus«?, in: ders., (Hg.), Rechtsgleichheit und Rechtspluralismus, 1995, S. 8-33) dekliniert noch einmal die verschiedenen Definitionsmöglichkeiten durch.

[15] Pitrim A. Sorokin definiert: »Die Gesamtheit der Rechtsnormen, die für alle Gruppenmitglieder obligatorisch sind, und die von der ganzen autoritativen Macht der Gruppe selbst getragen und durchgesetzt wird, bildet das offizielle Recht der Gruppe.« (Organisierte Gruppe (Institution) und Rechtsnormen, in: Ernst E. Hirsch/Manfred Rehbinder (Hg.), Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, 1967, 87-120). Diese Definition ist im Zusammenhang mit dem Rechtspluralismus unbrauchbar, weil sie für alle Gruppen, auch für nichtstaatliche wie die Familie, gelten soll.

[16] Mit »Kapauku Papuans and Their Law«, 1958. Es gab allerdings, wie so oft, Vorläufer. Dazu gehören insbesondere Malinowski, Llewellyn/Hoebel, Gluckmann, Bohannan und Thurnwald.

[17] Vgl. die Zusammenstellungen bei Gerd Spittler, Streitregelung im Schatten des Leviathan, Zeitschrift für Rechtssoziologie 1, 1980, 4-32, dort Fn. 1, sowie bei Merry.

[18] Material auf der Internetseite http://undesadspd.org/IndigenousPeoples.aspx.

[19] Dazu Thomas D. Hall/James V. Fenelon, The Futures of Indigenous Peoples: 9-11 and the Trajectory of Indigenous Survival and Resistance, Journal of World-Systems Research X, 2004, 152-198.

[20] Brun-Otto Bryde, African Legal Development, 1976, S. 108, unter Verweis auf Robert B. Seidmann, Law and Development: A General Model, Law and Society Review 6, 1971/72, 311-342, S. 315. Eine zwiespältige Bewertung des Rechtspluralismus in Afrika bei Rüdiger Schott, Rechtspuralismus und Rechtsgleichheit in den postkolonialen Staaten Afrikas, in: Ernst-Joachim Lampe (Hg.), Rechtsgleichheit und Rechtspluralismus, 1995, 38-71.

[21] Das Hague Journal on the Rule of Law 3, 2011 bietet in Heft 1 drei einschlägige Aufsätze: Brian Z. Tamanaha, The Rule of Law and Legal Pluralism in Development (S. 1-17); Julio Faundez, Legal Pluralism and International Development Agencies: State Building or Legal Reform? (S. 18-38); H. Patrick Glenn, Sustainable Diversity in Law (S. 39-56); Lauren Benton, Historical Perspectives on Legal Pluralism (S. 57-69).

[22] The Law of the Oppressed: The Construction and Reproduction of Legality in Pasargada, Law and Society Review 12, 1977, 5-126.

[23] Matthias Kaufmann, Rechtspluralismus als Antwort auf die Herausforderungen des Rechts durch Globalisierung und Migration? Ethnologische und philosophische Perspektiven, ARSP Beiheft 126, 2011, 95-110. Kaufmann referiert rechtssoziologische Untersuchungen aus Westsumatra und Marokko und diskutiert die Versuche in England und Kanada, eine Parallelrechtsprechung nach der Scharia zu installieren.

[24] Schott (Fn. 456), S. 38.

[25] Merry,  Law and Society Review 22, 1988, S. 873.

[26] Beispiele bei Merry, Law and Society Review 22, 1988, S. 879 ff.

[27] Z. B. Tamanaha 2008, S. 377 ff; Twining 2010, S. 486.

[28] Berman 2012, S. 231. Zehn Jahre später äußert Twining sich zurückhaltender zum Rechtspluralismus. Die oben genannten Beispiele ordnet er jetzt als normativen Plurismus ein (William Twining, Normative and Legal Pluralism: A Global Perspective, Duke Journal of Comparative and International Law 20, 2010, 473-517.

[29] Tamanaha 2008, S. 375.

[30] Z. B. Twining 2000, S. 225.

[31] Röhl, Rechtspluralismus und Governance, Rsozblog: http://www.rsozblog.de/rechtspluralismus-und-governance/.

[32] Twining 2000, S. 226.

[33] Tamanaha 2008, S. 387.

[34] Z. B. von Martti Koskenniemi, The Fate of Public International Law: Between Technique and Politics, Modern Law Review 70, 2007, 1-30. Die Frage nach der Fragmentierung des Völkerrechts bildet ein Forschungsprojekt der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen (UN International Law Commission – ILC). Sie wurde 1947 wurde von der UNO gegründet und hat die Aufgabe, das Völkerrecht zu beobachten und zu seiner Fortentwicklung, etwa durch eine Kodifikation, beizutragen. Die ILC unterhält seit 2002 eine Study Group on the Fragmentation of International Law.

[35] Vgl. die Synoptic Chart des Project on International Courts and Tribunals vom November 2004 [http://www.pict-pcti.org/publications/synoptic_chart/synop_c4.pdf].

[36] Berman, 2009, S. 226; ders. 2012, S. 3.

[37] So geschieht es in vielen Beiträgen zu dem Ernst Joachim Lampe herausgegebenen Sammelband »Rechtsgleichheit und Rechtspluralismus«, 1995.

[38] Das legt Tamanaha 2008, S. 389 f, mindestens nahe.

[39] Z. B. Joachim Wagner, Richter ohne Gesetz. Islamische Paralleljuistiz gefährdet unseren Rechtsstaat, 2011.

[40] So geschehen durch Hubert Rottleuthner, zwar ohne Verwendung des Begriffs, aber doch in der Sache durch eine Kontextualisierung im Sinne des weichen Rechtspluralismus (Mediation im Schatten des Strafrechts, Kritische Justiz 2012, 444-459).

[41] John Griffiths, What Is Legal Pluralism?, Journal of Legal Pluralism, 24, 1986, 1-55.

[42] Simon Roberts, Against Legal Pluralism. Some Reflections on the Contemporary Enlargement of the Legal Domain, Journal of Legal Pluralism 42, 1998, 95-106, S. 997 ff. Franz von Benda-Beckmann verteidigt dagegen den Gebrauch des Rechtsbegriffs gerade auch für pluralistisch vergleichende Analysen (Who’ Is Afraid of Legal Pluralism?, Journal of Legal Pluralism, 2002, 37-83, S. 53 ff. Zur Kritik von Griffith’s Wissenschaftschaftsbegriff vgl. auch Jørgen Dalberg-Larsen, Sociology of Law from a Legal Point of View, Retfaerd 23, 2000, 26-36, S. 32.

[43] Tamanaha 2008, S. 393; ferner Marc Galanter, Justice in Many Rooms: Courts, Private Ordering, and Indigenous Law, Journal of Legal Pluralism 19, 1981, 1-47, S. 17 f; Merry, Law and Society Review 22, 1988, S. 879.

[44] John Griffiths, The Idea of Sociology of Law and its Relation to Law and to Sociology, in: Michael D. A. Freeman (Hg.), Law and Sociology, Oxford 2006, 49-68, S. 63 f.

[45] Paul Schiff Bermann Global Legal Pluralism, Southern California Law Review, 80, 2007, 1155-1238; Twining 2000, S. 194-244. Kritisch zum Begriff des Global Legal Pluralism Twining 2010, S. 511.

[46] Für einen Überblick vgl. Klaus Günther, Legal Pluralism or Uniform Concept of Law. Globalisation as a Problem of Legal Theory, 2008 [http://www.helsinki.fi/nofo/NoFo5Gunther.pdf] oder Ralf Michaels, Global Legal Pluralism, Annual Review of Law and Social Science 5, 2009, 243-262, sowie Klaus F. Röhl/Stefan Magen, Die Rolle des Rechts im Prozeß der Globalisierung, Zeitschrift für Rechtssoziologie 17, 1996, 1-57.

[47] Olga Arnst, Instrumente der Rechtsprechungskoordination als judikative Netzwerke?, in: Sigrid Boysen u. a. (Hg.), Netzwerke, 2007, 58-79; Marie-Laure Djelic/Sigrid Quack (Hg.), Transnational Communities, Shaping Global Economic Governance, Cambridge 2010, darin besonders das Einleitungs- und das Schlusskapitel der Herausgeber (Transnational Communities and Governance, S. 3-36; Transnational Communities and Their Impact on the Governance of Business and Economic Activity, S. 377-413 sowie Renate Mayntz »Global Structures: Markets, Organizations, Networks – and Communities? (S. 37-54); Peter M. Haas, Epistemic Communities and Policy Knowledge, in: International Encyclopedia of Social and Behavioral Sciences, 2001, S. 11578–11586. Rosalyn Higgins, A Babel of Judicial Voices? Ruminations from the Bench, International and Comparative Law Quarterly, 55, 2006, 791-804.

[48] Shalini Randeria, Rechtspluralismus und überlappende Souveränitäten: Globalisierung und der »listige Staat« in Indien, Soziale Welt 57, 2006, 229-258, S. 234. Randeria hält diese These freilich kaum für zutreffend.

[49] Ausführlich dazu Kap. 8 »Globalisation, postmodernism, and Pluralism: Santos, Haack, and Calvino« in Twining 2000, S. 194-244.

[50] Santos 1987. Um die Implikationen dieser verschiedenen Rechtsschichten zu verdeutlichen, wählt Santos das Beispiel eines Arbeitskonflikts in einer portugiesischen Textilfabrik als Vertragsunternehmen eines multinationalen Konzerns. Dazu Röhl/Magen, S. 41 ff.

[51] Gunther Teubner, Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, Rechtshistorisches Journal 15, 1996, 255-290, hier zitiert nach der Internetfassung.

[52] Teubner, ebd.; ders., Globale Zivilverfassungen: Alternativen zur staatszentrierten Verfassungstheorie, ZaöRV 63, 2003, 1-28; vergl. auch den von Teubner herausgegebenen Sammelband »Global Law Without A State« 1997.

[53] Hyperzyklus in Recht und Organisation, in: Hans Haferkamp/Michael Schmid (Hg.), Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung, 1987, 89-128; Recht als autopoietisches System, 1989, 36 ff; Verrechtlichung – ein ultrazyklisches Geschehen, 1997.

[54] Gunther Teubner/Peter Korth, Zwei Arten des Rechtspluralismus: Normkollisionen in der doppelten Fragmentierung der Weltgesellschaft, in: Matthias Kötter/Gunnar Folke Schuppert (Hg.), Normative Pluralität ordnen, Baden-Baden 2009, S. 137-168 [Internetfassung S. 10]. Ähnlich Teubner, Selbst-Konstitutionalisierung transnationaler Unternehmen? Zur Verknüpfung »privater« und »staatlicher« Corporate Codes of Conduct, in: FS Klaus J. Hopt, 2010, 1449-1470 [hier zitiert nach der Internetfassung].

[55] Weitere Kandidaten sind die lex sportiva, die lex financiaria oder eine lex constructionis.

[56] Marc Amstutz, Zwischenwelten: Zur Emergenz einer interlegalen Rechtsmethodik im europäischen Privatrecht, in: Christian Joerges/Gunther Teubner, Rechtsverfassungsrecht: Recht-Fertigung zwischen Privatrechtsdogmatik und Gesellschaftstheorie, 2003, 213-237, S. 213.

[57] Andreas Fischer-Lescano/Gunther Teubner, Fragmentierung des Weltrechts: Vernetzung globaler Regimes statt etatistischer Rechtseinheit, in: Mathias Albert/Rudolf Stichweh (Hg.), Weltstaat und Weltstaatlichkeit, 2007, S. 37-61, hier zitiert nach der Internetfassung, S. 21.

[58] Berman 2012, S. 23 ff.

[59] Pluralismus von Recht und Ordnung, Behemoth, 2008, 58-67.

[60] Franz von Benda-Beckmann (Fn. 478), S. 42 ff; Griffiths, What Is Legal Pluralism?, Journal of Legal Pluralism, 24, 1986, 1-55, S. 1; Twining 2000, S. 228 f.; Berman 2009, S. 227.

[61] Besonders deutlich hat Robert M. Cover dem normativen Pluralismus Ausdruck gegeben:

»The above is not a definition of law; it is a plea to understand the legitimating force of the term in a certain way. It is a plea to grant all collective behavior entailing systematic understandings of our commitments to future worlds equal claim to the word ‚law‘. The upshot of such a claim, of course, is to deny to the nation state any special status for the collective behavior of its officials or for their systematic understandings of some special set of ‚governing‘ norms. The status of such ‚official” behavior and ‚official‘ norms is not denied the dignity of ‚law ‘. But it must share the dignity with thousands of other social understandings. In each case the question of what is law and for whom is a question of fact about what certain communities believe and with what commitments to those beliefs. The organized behavior of other groups and the commitments of actors within them have as sound a claim to the word ‚law‘ as does the behavior of state officials.« (The Folktales of Justice, Capital University Law Review 14, 1984/5, 179-203, 181f.) Auf Cover beruft sich ausführlich Berman 2009, S. 230 ff.

[62] Santos 2002, S. 89: »There is nothing inherently good, progressive or emancipatory about legal pluralism.«.

[63] 2012, S. 167.

[64] Bermann 2009, 228; Merry, Law and Society Review 22, 1988, S. 673.

[65] Augustinus, De civitate dei IV 1.

[66] Anthropologie des Rechts, 1982, 155.

[67] Vgl. Sally Falk Moore, Law as Process, An Anthropological Approach, Reprinted, London 1978; John L. Comaroff/Simon Roberts, Rules and Processes, The Cultural Logic of Dispute in an African Context, Chicago 1981.

[68] Wir können hier nur am Rande darauf hinweisen, dass der Dynamisierungsaspekt auch die juristische Methodenlehre erreicht hat, freilich weniger unter dem Einfluss des Pluralismuskonzepts der Rechtssoziologie als vielmehr in der Folge des linguistic turn. Vgl. Martin Morlok/Ralf Kölbel/Agnes Launhardt, Recht als soziale Praxis: eine soziologische Perspektive in der Methodenlehre, Rechtstheorie 31, 2000, 15-46.

[69] Zum Aushandeln auf der Basis der Menschenrechte Kaufmann S. 107 ff, sowie aus empirischer Sicht Sally Engle Merry, Human Rights and Transnational Culture: Regulating Gender Violence Through Global Law, Osgood Hall Law Journal 44, 2006, 53-75; dies., Human Rights and Gender Violence, Translating International Law into Local Justice, Chicago 2006.

[70] Ebenso in ders., Toward a New Legal Common Sense, Law, Globalization and Emancipation, 2 Aufl., London 2002, S. 472 f.

[71] Als Versuch zu einer Völkerrechtssoziologie vgl. Edda BlenkKnokke, Zu den soziologischen Bedingungen völkerrechtlicher Normbefolgung, Edelsbach 1979; vgl. auch Karl Berthold Baum, Die soziologische Begründung des Völkerrechts als Problem der Rechtssoziologie, JbRSoz 1, 1970, 257-274.

[72] Bechtler, S. 11; Hirsch, Das Recht als soziales Ordnungsgefüge, 1966, 44; Rehbinder, Einführung in die Rechtssoziologie, 1971, 1.

[73] Anders liegt es bei den modernen arabischen Staaten, die islamischem Recht folgen. Dieses Recht wird relativ unabhängig vom Staat in den geistlichen Rechtschulen verwaltet; vgl. dazu Ernst Klingmüller, Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen im islamischen Recht, in: Fikentscher/Franke/Köhler, Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, 1980, 375-414; Albrecht Noth, Die Schariá, das religiöse Gesetz des Islam, ebd. S. 415-438; Peter Heine, Quum und Scharià. Ansichten führender ägyptischer Gelehrter zum Verhältnis von religiösem und staatlichem Recht, Rechtstheorie 19, 1988, 111-115. Eine empirische Studie über die Spruchtätigkeit des Kadi (qadi) in einem marokkanischen Gericht bietet Lawrence Rosen, The Anthropology of Justice. Law Culture in Islamic Society, Cambridge University Press, 1989.

[74] Eine prominente Ausnahme macht Lawrence Friedman in seinem Buch »Total Justice«, New York 1985, 27 ff. Er hält das Autonomieproblem für einen Streit um Worte, allerdings wiederum nur, weil er einen staatlichen Rechtsbegriff ablehnt. Friedmans Buch ist ein neuer Versuch, das Recht nur als einen Aspekt der Gesellschaft und ihrer Entwicklung zu beschreiben, und zwar nicht als Spiegelbild gesellschaftlicher Sitte und Moral wie bei Sumner und Ehrlich, sondern als Reflex auf die Anforderungen der modernen Gesellschaft nach total justice, d. h. nach Kontrolle aller sozialen Beziehungen unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit, den Weber als Störung der Rationalität des Rechts gesehen hatte.