§ 51 Schuldbeitreibung als Kontrolle abweichenden Verhaltens

Literatur: Adler/Wozniak, The Origins and Consequences of Default, 1981; Caplovitz, Consumers in Trouble: A Study of Debtors in Default, 1974; Hoene, Präventiver Kreditschutz und Zwangsvollstreckung durch Private, 1971; Holzscheck/Hörmann/Daviter, Die Praxis des Konsumentenkredits in der Bundesrepublik Deutschland, 1982; Jacob, Debtors in Court, 1969; Kagan, The Routinization of Debt Collection, LSR 18, 1984, 323 ff.; Ramsay (Hg.), Debtors and Creditors, 1986; Rock, Making People Pay, 1973; Röhl, Schuldbeitreibung als Kontrolle abweichenden Verhaltens, ZfRSoz 4, 1983, 1 ff.

I. Umfang und Bedeutung der Schuldbeitreibung

Abweichendes Verhalten wird oft mit Kriminalität gleichgesetzt. Deshalb soll hier am Beispiel der Verschuldung gezeigt werden, wie sich ein Sachverhalt als abweichendes Verhalten analysieren lässt, der mit Kriminalität auf den ersten Blick wenig gemeinsam hat. Die Verschuldung ist eine eher passive Abweichung, und sie zeichnet sich durch eine geringe Sichtbarkeit aus. Das ist wohl der Grund dafür, dass sie bisher kaum als Form abweichenden Verhaltens in das Bewusstsein von Wissenschaft und Öffentlichkeit gedrungen ist, obwohl ihr massenhaftes Vorkommen und die große Eindringtiefe der Beitreibungsmaßnahmen Verschuldung und Schuldbeitreibung in ihrer sozialen Bedeutung in die Nähe der strafrechtlichen Sozialkontrolle rücken. Allein im gerichtlichen Mahnverfahren entstehen jährlich über 3,5 Mill. Vollstreckungstitel.[1] Ein solcher Titel berechtigt den Gläubiger, durch den Gerichtsvollzieher die bewegliche Habe des Schuldners wegzunehmen und versteigern zu lassen, seinen Lohn oder andere Forderungen zu pfänden, etwa vorhandene Immobilien zu verwerten und den Schuldner nach erfolgloser Vollstreckung durch Androhung von Haft zu einer eidesstattlichen Versicherung über seine Vermögensverhältnisse (früher Offenbarungseid) zu zwingen.

Zwangseingriffe von solcher Intensität und mit ähnlich gravierenden Konsequenzen für die Betroffenen kommen sonst nur im Strafrecht vor. Etwa 3000 Gerichtsvollzieher erledigen jährlich sechs Millionen Vollstreckungsaufträge, mit denen sie weit über eine Milliarde Mark beitreiben.[2] Die Zahl der von den Amtsgerichten ausgebrachten Lohnpfändungen kann man an Hand einiger Eckdaten der Rechtspflegestatistik auf eine Million schätzen. Höher als eine Million liegt jedes Jahr die Zahl der Verfahren zur Abnahme eidesstattlicher Versicherungen, in denen fast eine Million Haftanordnungen ergehen, die freilich nur selten vollzogen werden. Daneben nimmt sich die Zahl der strafgerichtlichen Verurteilungen, die erheblich unter der Millionengrenze liegt, beinahe bescheiden aus. Erst wenn man die ungezählten Buß- und Ordnungsgeldverfahren hinzunimmt, stellt sich ein Gleichgewicht ein. Zwar sind Strafurteile, mindestens wenn sie auf Freiheitstrafe lauten, weitaus schwerwiegender als Vollstreckungstitel über eine Geldschuld. Doch abgesehen davon, dass auch die Mehrzahl der Strafverfahren nur mit Geldstrafen, Bußzahlungen und Kosten endet, bleibt doch das Zahlenverhältnis so eindrucksvoll, dass man die Schuldbeitreibung in ihrer sozialen Bedeutung mit der Strafverfolgung vergleichen kann.

II.     Instanzen der Schuldbeitreibung

Als offizielle Instanzen der Schuldbeitreibung kommen die Gerichte und die ausführenden Vollstreckungsorgane in Betracht. Die Gerichte haben dabei eine Doppelfunktion, die sich aus der Unterscheidung von Erkenntnisverfahren und Vollstreckungsverfahren ergibt. Jede Beitreibungsmaßnahme setzt zunächst den juristisch so genannten Titel voraus, eine Urkunde, die das Bestehen der Schuld feststellt und den Gläubiger ermächtigt, die Hilfe staatlicher Instanzen bei der Durchsetzung seiner Forderung in Anspruch zu nehmen. Die große Mehrzahl der Schuldner wehrt sich jedoch nicht gegen die gerichtliche Feststellung der Forderung. Für sie tritt an die Stelle des normalen Prozesses das formularmäßig ablaufende Mahnverfahren. Zwar muss nach dem Vorliegen eines Titels nicht automatisch die Zwangsvollstreckung einsetzen. Der Schuldner kann auch jetzt noch zahlen oder sich mit dem Gläubiger einigen. Aber der Gläubiger hat nunmehr prinzipiell das Recht, die Hilfe staatlicher Vollstreckungsorgane in Anspruch zu nehmen.

Herr des Verfahrens auch der offiziellen Instanzen ist der Gläubiger. Er leitet durch seinen Antrag das Verfahrens ein, und er allein kann es wieder anhalten. Darin liegt ein wichtiger Unterschied zur strafrechtlichen Sozialkontrolle, die den Normbenefiziar, das Opfer der Tat, in die unbedeutende Rolle des Anzeigeerstatters oder des Zeugen verweist. Die Verfahrensherrschaft des Gläubigers ermöglicht eine Außenkontrolle der Instanzen. Da Gerichte und Vollstreckungsorgane nur über verhältnismäßig geringe Ermessensspielräume verfügen, können sie kaum nach eigenen, informellen Kriterien bei bestimmten Gläubiger- oder Schuldnergruppen oder Forderungsarten besonders intensiv oder besonders restriktiv vorgehen. Das alles hat zur Folge, dass die im Strafverfahren vielfach bemerkten und untersuchten Rekrutierungseffekte im offiziellen Schuldbeitreibungsverfahren kaum Bedeutung haben.

Als nicht-offizielle Instanzen der Schuldbeitreibung sind Kreditschutzorganisationen, Inkassobüros[3] und die Rechtsanwaltschaft zu nennen. Zu denken ist auch daran, dass Großgläubiger (Versandhäuser, Teilzahlungsbanken, Versicherungen u.a.) eigene Rechts- oder Mahnabteilungen unterhalten, die so durchorganisiert sind, dass sie weitgehend selbständig agieren. Sie alle verfügen über erprobte Routinen zur Einwirkung auf den Schuldner. Es handelt sich in erster Linie um eine Serie von abgestuften Mahnungen, denen sich die Kündigung des Kredits und schließlich das gerichtliche Mahnverfahren anschließt. Heute wird das Bild der Schuldbeitreibung bei allen größeren Gläubigern weithin durch die Möglichkeiten der Datenverarbeitung bestimmt. Folge dieser Technisierung der Wirtschaftsbürokratie ist ein hohes Maß von Rechtsförmigkeit. Es bleibt kein Raum für harte, auf Drohung oder Gewalt zurückgreifende Beitreibungsversuche, wie sie auch in neuerer Zeit in den USA noch vorkamen. Eine große Rolle spielt dagegen die Verwertung von Sicherheiten, also z. B. die Offenlegung einer Lohnabtretung gegenüber dem Arbeitgeber oder die Einforderung eines zur Sicherheit übereigneten Kraftfahrzeugs. Solche Maßnahmen haben zwar rechtlich und wirtschaftlich betrachtet nur restitutive Funktion, haben auf den Schuldner aber doch eine darüber hinausgehende, sanktionsgleiche Wirkung, nicht zuletzt deshalb, weil sie Dritte auf seine Lage aufmerksam werden lassen.

III.  Gläubiger und Schuldner

Wer sind die Gläubiger, die die Schuldbeitreibung so dominieren? Nach der Stuttgarter Untersuchung zur Vorbereitung der Automation des Mahnverfahrens aus dem Jahre 1974[4] wurden 76 % aller Mahnbescheide von korporativen Akteuren beantragt, 20 % von kleineren Geschäftsleuten, Handwerkern oder Freiberuflern und nur 4 % von Privatleuten. 64 % aller Anträge stammten von Gläubigern, die jährlich mehr als 100 Mahnverfahren einleiteten. Man kann davon ausgehen, dass die Schuldbeitreibung, stärker noch als bisher schon vom streitigen Zivilprozess bekannt, von korporativen Akteuren bestimmt wird. Sie formen eine Wirtschaftsbürokratie, die sich aus der Sicht der Schuldner von der staatlichen, mit der sie sich verbündet, wenig unterscheidet.

Diesen Gläubigern steht ein Millionenheer von individuellen Schuldnern gegenüber, dessen Gesamtzahl sich nicht einmal schätzen lässt. Etwa die Hälfte aller Haushalte ist verschuldet. Diejenigen, die in Verzug geraten, sind häufiger Hauptschüler, ungelernte oder angelernte Arbeiter, sind jünger und kommen häufiger aus der untersten Einkommensgruppe als der Durchschnittsschuldner. Für einen demographischen Vergleich mit Straffälligen fehlen hinreichende Daten. Es besteht der Eindruck, dass Schuldner älter sind als Straffällige und häufiger über einen eigenen Hausstand verfügen. Frauen scheinen unter ihnen ebenso unterrepräsentiert zu sein wie unter den Kriminellen. Rekrutierungseffekte sind weniger bei der Schuldbeitreibung als vielmehr schon bei der Kreditaufnahme zu beobachten. Dieser Vorgang wird freilich von gegenläufigen Tendenzen bestimmt. Einerseits werden besonders Personen aus den unteren Schichten, die für Verzug anfällig sind, von den Kreditangeboten angelockt. Andererseits versuchen Gläubiger bei der Kreditvergabe, gerade solche Personen als Schuldner abzulehnen. Sie gleichen ein wenig dem Bierbrauer, der den Alkoholismus bekämpfen möchte. Die Folge ist jedoch, dass unter der großen Gruppe der verschuldeten Konsumenten die Angehörigen von Randgruppen fehlen, die einen erheblichen Teil der Kriminellen bilden.

1.          Die Entkriminalisierung des Schuldrechts

Grundsätzlich steht die bloße Nichtzahlung von Schulden im modernen Recht nicht unter Strafe. Ein Blick in die Rechtsgeschichte zeigt, dass dieser Zustand nicht selbstverständlich ist. Bei einem Delikt (Missetat) waren Ersatzleistung und Strafe in älterer Zeit ohnehin nicht voneinander zu trennen. Die Schadensersatzpflicht des Schädigers trug strafrechtlichen Charakter. Die Kriminalisierung von Darlehnsforderungen scheint geradezu eine Schlüsselrolle bei der Entstehung des Rechts gespielt zu haben. Bis in die fränkische Zeit bedeutete aber auch die Nichterfüllung einer vertraglich übernommenen Verpflichtung eine rechtswidrige Handlung des Schuldners, die strafrechtliche Haftung zur Folge hatte, nämlich Friedloslegung und Schuldhaft. Mit der Zeit wurde die Schuldknechtschaft dahin abgemildert, dass der Schuldner seine Schuld bezahlen oder sogar abverdienen konnte. Mit dem Ausgang des Mittelalters war die Entkriminalisierung des Schuldrechts erreicht.[5]

2.          Umwertung der Verbraucherverschuldung

Literatur: Ditmar Brock/Götz Lechner/Wolfram Backert, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenz. Probleme und Lösungsansätze bei der rechtlichen Regelung von privater Überschuldung aus rechtssoziologischer Sicht, ZfRSoz 29, 2008, 235-259;  Matthias Keese, Triggers and Determinants of Severe Household Indebtedness in Germany,  SOEPpapers on Multidisciplinary Panel Data Research, No. 239, 2009; Julio Cesar Leandro/Delane Botelho, Consumer Over-Indebtedness: A Review and Future Research Agenda, Journal of Business Research 145, 2022, 535-551; Nicolas Mantseris, Überschuldungsindex 2024.

Das Institut für Finanzdienstleistungen e.V. in Hamburg (iff), das auf private Überschulddungsprävention  ausgerichtet ist, erstellt jährliche Berichte »Überschuldung in Deutschland«.

Überschuldung galt lange Zeit weithin als individuelles Fehlverhalten. Wer  seine Schulden nicht mehr im Griff hatte, hatte »über seine Verhältnisse gelebt«. Seit den 1980er Jahren hat sich Kreditaufnahme als normaler Teil des Konsumalltags etabliert (Kreditkarten, Ratenkäufe, Leasing). Verschuldung wurde kleinteiliger und niedrigschwelliger als normalisierter Bestandteil der Konsumgesellschaft in den Alltag eingebettet. In der Folge wird Überschuldung, jedenfalls in der sozialwissenschaftlichen Literatur,  zunehmend als soziales Risiko verstanden, das aus strukturellen Ursachen und Schicksalsschlägen resultiert (Arbeitslosigkeit, Scheidung, Krankheit, Niedrigeinkommen, Deregulierung der Kreditmärkte). Verbraucherverschuldung wird zunehmend im Kontext von Armut, Prekarität und Ungleichheit analysiert, nicht mehr primär als Einzelfall. Die Aufmerksamkeit richtet sich daher auf die Folgewirkungen von Überschuldung für Teilhabe und Integration. Psychologische und soziologische Forschung untersucht mittlerweile auch subjektives Erleben von Verschuldung, Stress, Scham und deren Auswirkungen auf Gesundheit. Entsprechend hat sich der Fokus von der Disziplinierung der Schuldner durch Mahnung und Vollstreckung auf Prävention und Rehabilitation verschoben. Die Gesetzgebung  zielt durch Verbraucherschutz (Informationspflichten, Kreditwürdigkeitsprüfung) auf Prävention. Ausdruck dieser Neubewertung ist auch die Einführung der Privatinsolvenz (Verbraucherinsolvenzrecht, 1999 eingeführt, 2020) und das Recht auf ein Basiskonto. Auch die Privatinsolvenz (Verbraucherinsolvenzrecht, 1999 eingeführt, 2020 reformiert) ist Ausdruck dieser Neubewertung: Der Gesetzgeber anerkennt, dass es ein legitimes Bedürfnis nach einem wirtschaftlichen Neustart gibt.

3.          Umwertung von Unternehmensschulden

Eine neue Entwicklung, die Verschuldung und Strafe wieder zusammenbringt, zeigt sich im Wirtschaftsstrafrecht. Eine ganze Reihe von Straftatbeständen ist dazu bestimmt, präventiv und repressiv die (Unternehmens-) Verschuldung zu bekämpfen. Es handelt sich vor allem um die sogenannten Insolvenzdelikte, für die als Täter regelmäßig nur die Agenten korporativer Akteure in Betracht kommen. Ein spezieller Bereich, in dem mit einer Fiktion praktisch doch die Strafbarkeit bloßer Nichtzahlung erreicht wird, ist die Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen und Lohnsteuern durch den Arbeitgeber. Hier wird es so angesehen, als hätte der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer den Bruttolohn zunächst auf den Tisch gelegt, dann aber die von ihm abzuführenden Abgaben zurückgenommen und unterschlagen. Tatsächlich haben die Mittel des Arbeitgebers nur noch zur Zahlung des Nettolohns gereicht, oder er hat die Abgaben aus anderen Gründen solange nicht bezahlt, bis es den zuständigen Stellen aufgefallen ist. Finanzämter und Krankenkassen zögern in diesen Fällen auch nicht mit Strafanzeigen. Man darf die Ausweitung der Insolvenzdelikte aber nicht einfach als Re-Kriminalisierung der Verschuldung verstehen. Es handelt sich hier um eine Konkretisierung von Betrugsdelikten und Vorbereitungshandlungen dazu, die auf das White Collar Crime zielen, und damit um eine durchaus neuartige Entwicklung.

4.          Schuldner und Kriminelle

Wenngleich Schuldnerverzug als solcher nicht strafbar ist, können in derselben Person doch Verschuldung und Kriminalität zusammentreffen. Für die Vermutung, dass Schuldner zugleich Kriminelle sein oder werden könnten, gibt es jedoch keine Bestätigung. Beim Konsumentenkredit geben Haft und Straffälligkeit nur in 5 % der Fälle den Grund für den Zahlungsverzug ab (Holzscheck u. a., S. 284) Auch als sekundäre Form der Devianz ist Kriminalität bei Schuldnern kaum anzutreffen. Es gibt also keine Anzeichen dafür, dass Schuldner sich verstärkt kriminell betätigen, um ihre Notlage aufzubessern. Umgekehrt ist dagegen eine kriminelle Karriere typisch auch mit einer Schuldnerkarriere verbunden. Fast alle Strafgefangenen sind schwer verschuldet[6] . Eine kriminelle Karriere beginnt oft in früher Jugend. Sie kann in eine Schuldnerkarriere münden, da sie die Chance zerstört, als funktionierendes Wirtschaftssubjekt akzeptiert zu werden. Eine Schuldnerkariere beginnt aus rechtlichen Gründen in der Regel erst mit Eintritt der Volljährigkeit. Sie kann in eine kriminelle Karriere übergehen, wenn dem Schuldner der legale Zugang zu Einkommen und Kredit versperrt wird. Hier kommt der gesamte Bereich der Vermögensdelikte in Betracht. Das deutsche Strafrecht kennt auch eine Reihe von Delikten im Zusammenhang mit der Schuldbeitreibung, nämlich Verstrickungs- oder Siegelbruch ( § 136 StGB), die Vereitelung der Zwangsvollstreckung (§ 288 StGB) und die Pfandkehr (§ 289 StGB). Ferner ist im Zusammenhang mit der Zwangsvollstreckung an Widerstandsdelikte zu denken. Schließlich kommt eine Bestrafung bei Abgabe einer falschen eidesstattlichen Versicherung in Betracht. Solche Kriminalität ist indessen keine typische sekundäre Abweichung von Schuldnern. Ein gewisser Widerstand gegen Schuldbeitreibungsmaßnahmen ist eher bei Kriminellen anzutreffen, die sich nicht selten eher planmäßig der Beitreibung durch häufigen Wechsel der Wohnung und des Arbeitsplatzes zu entziehen versuchen[7] . Und noch ein Unterschied ist bemerkenswert. Die kriminelle Karriere beginnt und verläuft häufig in einer kriminellen Subkultur. Dagegen läßt sich ein ähnlicher Gruppenzusammenhang in der Schuldnerpopulation nicht ausmachen.

5.          Die Austauschbarkeit von Strafverfolgung und Schuldbeitreibung

Mit dem Konzept der sozialen Kontrolle verbindet sich die Vorstellung einer breiten Austauschbarkeit der Träger, der Strategien und der Sanktionen. Obwohl die Nichtzahlung von Schulden als solche nicht unter Strafe steht, sind Schuldbeitreibung und Strafverfolgung doch bis zu einem gewissen Grade auswechselbar, wenn der Schuldgrund zugleich eine strafbare Handlung darstellt. Manche Gläubiger versuchen daher, ihre Forderungen durch Strafanzeigen beizutreiben, weil das von Amts wegen betriebene Strafverfahren ihnen die Last weiterer Prozeßführung abnimmt und weil sie erwarten, dass strafrechtliche Sanktionen wirksamer sein könnten als die im Zivilrecht verfügbaren Zwangsmittel. Im Zusammenhang mit der Verbraucherverschuldung kommt als Delikt praktisch nur der sogenannte Eingehungsbetrug in Betracht, d. h. eine Täuschung des Lieferanten oder Kreditgebers darüber, dass man in der Lage und Willens ist, die übernommenen Verpflichtungen künftig zu erfüllen. Die Täuschung kann in falschen Angaben über das Einkommen, vorhandene Sicherheiten oder anderweitige Schulden bestehen. Bei den professionellen Gläubigern spielt die Strafanzeige oder auch nur die Drohung damit praktisch keine große Rolle. Ihnen bereitet das zivilrechtliche Verfahren der Schuldbeitreibung kein Mühe, und sie kalkulieren wohl auch realistisch, dass eine Strafverfolgung erst recht die Chance zerstört, vom Schuldner Geld zu erhalten. Wahrscheinlich sind es viel eher private Gläubiger, die sich der Strafanzeige zur Schuldbeitreibung bedienen. Schuldgrund können pönalisierte unerlaubte Handlungen i. S. der §§ 823 ff. BGB sein, von Verkehrsunfällen über Sachbeschädigung und Körperverletzung bis hin zu Diebstahl und Betrug. Eine anscheinend häufiger genutzte Möglichkeit für private Gläubiger, den Staatsanwalt zur Schuldbeitreibung in Marsch zusetzen, bietet der Tatbestand des § 170 b StGB. Danach wird bestraft, wer sich einer gesetzlichen Unterhaltspflicht entzieht.

V.      Die sanktionierten Normen

Es ist nicht einfach, die maßgeblichen Normen aufzufinden, auf deren Kontrolle Schuldbeitreibung abzielt, denn anders als regelmäßig bei der Strafverfolgung löst nicht ein punktueller äußerer Vorgang, sondern ein Zustand, die fortdauernde Nichtbezahlung von Schulden, Beitreibungsmaßnahmen aus. Die Verbraucherverschuldung selbst ist heute ein gesellschaftlich akzeptiertes und teilweise sogar gefordertes Normalverhalten. Die weitaus überwiegende Zahl der Haushalte passiert irgendwann einmal das Stadium der Verschuldung. Dennoch bleibt die Bewertung der Verbraucherverschuldung ambivalent: Es ist besser, keine Schulden zu haben; in jedem Fall ist Verschuldung riskant. Aber nicht mehr viele halten es mit Benjamin Franklin: »It is better to go in bed supperless than to run in debt for breakfast.«

Mit steigendem Wohlstand entstand seit den 1960er Jahren das Problem der Verbraucherverschuldung. Die Teilnahme breiter Schichten am Konsum war wirtschaftspolitisch erwünscht und wurde zur Normalerwartung. Ihr stand alsbald ein spezialisiertes Kreditangebot gegenüber. Die Kreditbedingungen waren in dreierlei Hinsicht verbraucherunfreundlich: Die Zinsen waren nicht nur vergleichsweise hoch, sondern wurden auch durch die Art der Berechnung versteckt und durch Nebenforderung für Provisionen und Versicherungsleistungen erhöht. Im Verzugsfalle kamen ruinöse Nebenforderungen hinzu. Und der Konsument konnte dem Kreditgeber keine Einwendungen aus dem Geschäft mit dem Unternehmer entgegenhalten. Seit den 1970er Jahren hat die Rechtstatsachenforschung auf das Thema aufmerksam gemacht. Bis zur Jahrtausendwende waren die wichtigsten Missstände, weitgehend auf europäischen Rechtsgrundlagen, durch ein reformiertes Verbraucherschutzrecht ausgeräumt. Den Schlusstein dieser Entwicklung bildete die Restschuldbefreiung, die am 1. 1. 1999 durch die damals neue Insolvenzordnung eingeführt wurde. Natürliche Personen – Verbraucher und Selbständige – können dadurch in sechs Jahren ihre Entschuldung erreichen. Von den rund 7 Millionen Überschuldeten in Deutschland hatten bis Ende 2008 800.000 diesen Ausweg gewählt. Das Gesetz hatte allerdings einen Fehlstart, weil es vom Schuldner einen erheblichen Kostenvorschuss (3500 DM) verlangte und weil die Gerichte nicht bereit waren, dafür Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Erst seit der Gesetzgeber 2001 eine Stundungsregelung einführte, wird das Verfahren häufiger genutzt.

Nach anfänglichen Widerständen ist heute auch die allgemeine Bewertung der Restschuldbefreiung positiv. Sie wird als Lösung eines Problems der modernen Konsumwirtschaft angesehen. Der wirtschaftspolitisch erwünschte Binnenkonsum ist von den Kreditmöglichkeiten vermögensloser Bevölkerungsschichten abhängig. Als Sicherheit muss das Arbeitseinkommen ausreichen. Damit gehen Kreditgeber und Kreditnehmer ein hohes Risiko ein. Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Scheidung führen schnell zur Überschuldung. Ohne Abhilfe zieht Verschuldung aber andere Probleme nach sich, die Sozialleistungen notwendig machen würden. Sie verfestigt die Arbeitslosigkeit, ist nicht selten der Boden für Schwarzarbeit, kann zum Verlust der Wohnung führen und wohl auch der Gesundheit schaden.

Die rechtliche Bewertung der Verschuldung enthält sich eines moralischen Vorwurfs. Die Kehrseite besteht darin, dass das Recht in § 279 BGB von einer Art Erfolgshaftung für die Erfüllung von Geldschulden ausgeht[8] . Die verfügbaren Sanktionen sind ausschließlich restitutiv gedacht. Man kann immer noch zahlen und damit alle Rechtsfolgen der Verschuldung ausräumen. Selbst die Eintragung im Schuldnerverzeichnis wird nach Befriedigung der Gläubiger gelöscht. Die gesellschaftliche Bewertung der Verschuldung stimmt mit der rechtlichen allerdings nicht überein. Kreditaufnahme fordert vom Schuldner eine langfristige Prognose. Wer dabei nicht erfolgreich ist, begegnet nicht selten einem moralischen Vorwurf, der freilich typisch erst nachträglich formuliert wird und der damit eher Legitimationsfunktion für die Sanktionierung des Schuldners hat denn Bedeutung als Verhaltensnorm. Dabei schwankt das Publikum noch stärker als der Gesetzgeber hin und her, ob dem Schuldner oder dem Gläubiger die größere Verantwortung beizumessen ist.

Geht man davon aus, dass eine gesamtgesellschaftlich akzeptierte Norm die Bezahlung rechtlich anerkannter Schulden fordert, so handelt es sich bei Abweichungen doch nicht um eine Auflehnung gegen solche Zahlungsmoral. Alle Untersuchungen zeigen übereinstimmend, dass der typische Schuldner kein vorsätzlicher Betrüger ist, sondern die moralische Verpflichtung fühlt, seine Schulden zu bezahlen. Fast jeder vermag objektive Gründe für seinen Verzug zu nennen, insbesondere den Verlust des Arbeitsplatzes, Krankheit oder Unfall, Trennung oder Ehescheidung und die Erhöhung von Miet- oder Nebenkosten. Die Abweichung des Schuldner läßt sich nicht auf einen singulären Normverstoß zurückführen. Sie beginnt damit, dass er sich in seinem Konsumverhalten nicht seinem sozialen Status entsprechend einrichtet, und endet damit, dass er versäumt, die Kommunikation mit dem Gläubiger und der Justizbürokratie aufrechtzuerhalten.

Nach dem juristischen Selbstverständnis wären Schuldbeitreibungsmaßnahmen, wie das Zivilrecht überhaupt, als restitutives Recht im Sinne Durkheims (§ 4) zu verstehen. Aber ähnlich wie auch sonst im materiellen Zivilrecht, z. B. in der Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes, ein Repressionsüberschuss auszumachen ist, läßt sich auch die Schuldbeitreibung teilweise nur als Repression verstehen. Während das Recht restitutiv orientiert ist, legen Gläubiger und die Agenten der Schuldbeitreibung gegenüber Schuldnern eine repressive Einstellung an den Tag. Die gerichtlichen Maßnahmen zur Zwangsbeitreibung sind unter dem Aspekt der Restitution so erfolglos, dass nur der Präventionszweck die konsequente Einleitung der Zwangsvollstreckung erklären kann. Die Großgläubiger haben dabei wohl Prävention durch Repression im Sinn.

Einzelne Zwangsbeitreibungsmaßnahmen sind dagegen nicht so einfach in die Dreiteilung von Prävention, Restitution und Repression einzuordnen. Am besten lässt sich noch die Lohnpfändung nach Intention und Wirkung als Restitution charakterisieren, mag sie auch vom Schuldner als repressiv empfunden werden. Der Gerichtsvollzieher kann seine vom Gesetz ihm zugedachte restitutive Aufgabe, den Gläubiger aus dem Erlös der zwangsweisen Verwertung der beweglichen Habe des Schuldners zu befriedigen, nur begrenzt erfüllen. Er findet überwiegend nur gebrauchten Hausrat vor, für den kein Markt existiert, so dass der erzielbare Erlös in keinem Verhältnis zu den Anschaffungskosten des Schuldners steht. Die Pfändung wird dadurch zu einem Druckmittel, um den Schuldner bei Gefahr unverhältnismäßiger Verluste zur Bezahlung seiner Schuld zu bewegen. Die Offenbarungsversicherung, zu der der Gläubiger den Schuldner nach erfolglos versuchter Pfändung vor Gericht laden kann, soll ihm Kenntnis von etwa noch vorhandenen Vermögenswerten des Schuldners verschaffen und ist insoweit restitutiv gedacht. Sie erfüllt diesen Zweck indessen kaum und erweist sich damit gleichfalls als ein repressives Druckmittel in der Hand des Gläubigers. Als solches eignet sich dieses Verfahren insbesondere deshalb, weil es durch Haft erzwungen werden kann und stets die Eintragung in dem beim Amtsgericht geführten Schuldnerverzeichnis nach sich zieht. Prävention ist auch der erklärte Zweck der Kreditschutzorganisationen. Sie führen Listen mit Positiv- und Negativmerkmalen der Schuldner. Man kann diesen Listen aber kaum Sanktionscharakter zusprechen, weil der Schuldner normalerweise von ihrer Existenz und den daraus eingeholten Auskünften nichts erfährt, sondern sie allenfalls erahnt und die Konsequenzen spürt. Dennoch bleiben solche Datensammlungen ein wirksames Instrument sozialer Kontrolle.

VI.   Die Unauffälligkeit der Schuldbeitreibung

Das Verbrechen ist eine vergleichsweise dramatische, sozial auffällige Abweichung. Der Staat reagiert darauf mit massiver Intervention in einem förmlichen und symbolträchtigen Verfahren. Schuldnerverzug dagegen stellt sich allmählich und unauffällig ein. Die Schuldbeitreibung bleibt privater Initiative überlassen und vollzieht sich als ein bürokratischer Vorgang mit geradezu mechanischer Entscheidungsfindung. Das Strafverfahren wird vom Schuldprinzip gleitet, also von einer indeterministischen Philosophie, die alles Verhalten als von menschlicher Vernunft gesteuert ansieht und daher endogene und exogene Zwänge als Exkulpation akzeptiert. Schuldbeitreibung dagegen steht unter deterministischen Vorzeichen, denn Menschen werden für verpflichtet gehalten, Schulden zu bezahlen ohne Rücksicht auf die Gründe ihres Unvermögens (vgl. § 279 BGB). Freilich sind die Sanktionen milder und weniger symbolisch beladen. Der auffälligste Aspekt der Schuldbeitreibung ist die Kultivierung der geringen Sichtbarkeit dieses Prozesses. Es scheint, dass unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft die Unsichtbarkeit eines bürokratischen Verfahrens ein funktionales Äquivalent zu den dramatischen und symbolhaltigen Zeremonien darstellt, durch die das traditionelle Strafrecht eine Person aus ihrer normalen Gesellschaftsposition heraus in eine abweichende Rolle und Identität drängt. Es ersetzt aber auch die Verstrickung in das Rollenspiel des Prozesses, die Luhmann als Legitimation durch Verfahren geschildert hat.


[1] Diese Zahl ist veraltet. In Nordrhein Westfalen werden jährlich etwa 1,5 Millionen Mahnverfahren eingeleitet. Nach der Einwohnerzahl hochgerechnet müssten es in Deutchland etwa 4,5 Millionen Mahnverfahren jährlich sein.

[2] Auch diese und die folgenden Zahlen sind veraltet. Erneut sei auf eine aktuelle Statistik aus Nordrhein-Westfalen verwiesen.

[3] Jürgen Hauschildt/Cora Stahrenberg, Zur Effektivität von Inkasso-Unternehmen Betriebs-Berater 1991, 3-7 [Rechtstatsächliche Untersuchung].

[4] Soll-Konzept Automation des Mahnverfahrens, hrsg. vom Justizministerium Baden-Württemberg, Berlin 1974.

[5] Hermann Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1, 2. Aufl., 1962, 44 f., 164 f.; Madeleine Löfmark, The Debtor as Criminal, Scandinavian Studies in Law 23, 1981, 109-129.

[6] Adelheid Kühne, Die Schuldensituation bei Strafgefangenen, in: Hans-DieterSchwind/Gernot Steinhilper (Hg.), Modelle zur Kriminalitätsvorbeugung und Resozialisierung, Heidelberg 1982, 203-217.

[7] Göppinger, Kriminologie, 4. Aufl. 1980, 307.

[8] Dazu kritisch Udo Reifner, Alternatives Wirtschaftsrecht am Beispiel der Verbraucherverschuldung, Neuwied/Darmstadt 1979.